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Der Traumcharakter des Stücks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurückzuführen. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-Präsenzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.
 
Der Traumcharakter des Stücks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurückzuführen. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-Präsenzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.
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Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend, zeichnet sich das Stück auf formaler Ebene durch die Ko-Präsenz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das träumende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur träumt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „ständige[n] Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit.“ (Handke / Oberender 75) gesprochen werden, d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als träumende Erzählinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das Stück selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen Erzählen des Traums und Spielen des Traums.
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Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend zeichnet sich das Stück auf formaler Ebene durch die Ko-Präsenz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das träumende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur träumt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „ständige[n] Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit“ (Handke / Oberender 75) gesprochen werden, d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als träumende Erzählinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das Stück selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen Erzählen des Traums und Spielen des Traums.
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Diese Ko-Präsenz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des Erzähl- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können Träume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzählt werden. Gerade für dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachträglich erzählten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In ''Immer noch Sturm ''löst das beständige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen Erzählen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von Erzählen und Spielen daher von einem performativen Traumerzählen gesprochen werden.
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Diese Ko-Präsenz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des Erzählt- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können Träume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzählt werden. Gerade für dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachträglich erzählten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In ''Immer noch Sturm ''löst das beständige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen Erzählen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von Erzählen und Spielen daher von einem performativen Traumerzählen gesprochen werden.
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Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar.“ (Handke 2010, 10) Im Traum kommen zum einen das als ‚heute‘ zu bezeichnenden Moment des Träumens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzählen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen für das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum für Lebende und Tote, in dem für die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwärtig und erfahrbar werden können.
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Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar.“ (Handke 2010, 10) Im Traum kommen zum einen das als ‚heute‘ zu bezeichnende Moment des Träumens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzählen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen für das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum für Lebende und Tote, in dem für die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwärtig und erfahrbar werden können.
    
Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein Gespräch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsächlichen Onkel und Taufpaten Handkes angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns.“ (Höller 2007, 7) Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in ''Immer noch Sturm'' für einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurückzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei Brüder meiner Mutter“ (Handke 2010, 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat“ (Handke 2010, 14), sodass sich der Traum insbesondere auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzählen und zu schreiben.
 
Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein Gespräch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsächlichen Onkel und Taufpaten Handkes angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns.“ (Höller 2007, 7) Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in ''Immer noch Sturm'' für einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurückzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei Brüder meiner Mutter“ (Handke 2010, 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat“ (Handke 2010, 14), sodass sich der Traum insbesondere auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzählen und zu schreiben.
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==Einordnung==
 
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