"Körper und Seele" (Ildikó Enyedi)

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die ungarische Filmemacherin Ildikó Enyedi schrieb das Drehbuch und führte Regie in diesem Film von 2017, der mit einer Traumsequenz beginnt und einer bedeutungsvollen Traumlosigkeit endet. Im Film wird eines der wichtigsten Merkmale dessen aufgehoben, was man unter einem während des Schlafs erlebten Traum versteht, nämlich das absolut individuelle Erlebnis, an dem andere nicht teilnehmen können. Stattdessen teilen zwei Personen denselben Traum. Beide, eine Frau und ein Mann, begegnen sich dabei stets in einer nicht-menschlichen Gestalt. Obwohl diese körperliche Wandelbarkeit ins Repertoire eines fantastischen Traumgeschehens gehört, erscheinen Form und Inhalt des wiederkehrenden Traums sehr realistisch. Es gibt weder irreale Settings noch unlogische Entwicklungen.

Filmdaten
Deutscher Titel Körper und Seele
Originaltitel Testről és lélekről
Englischer Titel On Body and Soul
Produktionsland Ungarn
Originalsprache Ungarisch
Erscheinungsjahr 2017
Länge 116 Minuten
Altersfreigabe FSK 12
Stab
Regie Ildikó Enyedi
Drehbuch

Ildikó Enyedi

Produktion Mónika Mécs / András Muhi / Ernő Mesterházy
Kamera Máté Herbai
Schnitt Károly Szalai
Besetzung
* Alexandra Borbély: Mária
* Géza Morcsányi: Endre
* Réka Tenki: Klára

Werkentstehung

Das Drehbuch schrieb die Regisseurin 2005 innerhalb weniger Wochen. Bis zur filmischen Umsetzung aber vergingen zehn Jahre, weil Probleme bei der Finanzierung überwunden werden mussten (Filmclip Cineuropa, 25.9.2017). Auf dem Portal Cineuropa heißt es, dass die Dreharbeiten vom 13. April bis zum 14. Juni 2015 in Budapest und Hajdúnánás stattfanden (ebd.). Einige Drehtage, vermutlich die der Traumsequenzen, waren für den folgenden Winter geplant. Im Sommer wurde eine Woche lang in einem Schlachthof gefilmt. Was bedeutet, dass die Szenen, in denen eingepferchte Kühe, ihre Tötung und das Zerteilen ihres Fleisches gezeigt werden, authentisch und dokumentierend sind. Den Schlachthof versteht die Regisseurin als Ort der Ehrlichkeit (Peitz, Der Film „Körper und Seele“, Tagesspiegel, 20.9.2017). An anderer Stelle spricht sie vom Schlachthof als einem Ort des Alltags, der in unserer Gesellschaft dennoch versteckt wird (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Die Dreharbeiten für die Traumsequenzen nahmen ebenfalls eine Woche in Anspruch. Gedreht wurden diese im Bükk-Gebirge (Dreharbeiten zu Testről és lélekről, https://www.youtube.com/watch?v=kDtQcnEmaE8, 19.01.2016). Die Regisseurin berichtete, dass sie mit ihrer Crew von der Morgen- bis zur Abenddämmerung filmte, unter anderem, um das blaue Dämmerlicht nutzen zu können (Körper und Seele 2017, Interview mit Ildikó Enyedi im Bonusmaterial der DVD, 00:26:39 - 00:28:43). Der Regisseurin war es wichtig, in einem echten Wald mit echten Tieren zu drehen, um eine „traumhafte Verzerrung“ zu vermeiden (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Dennoch erscheinen, wie sie sagt, diese Sequenzen märchenhaft schön, weil die Natur selbst so ist (ebd.). Nach Meinung der Regisseurin gibt es nur graduelle Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, und beide haben eine Seele (ebd.). Dazu, dass sie Hirsche auswählte, um Wildtiere zu repräsentieren, meinte sie, diese seien quasi die Entsprechung zu den Kühen, es bestehe ein beinahe geschwisterliches Verhältnis zwischen den domestizierten Kühen und den freien Hirschen. Beides seien Tiere, mit denen die Menschen seit langer Zeit zusammenleben (Burg / Wellinski, Interview mit Ildikó Enyedi, Deutschlandfunk Kultur, 18.2.2017).

Der Traum

Im Grunde handelt es sich um einen einzigen Traum, an dem allerdings in verschiedenen Nächten weitergeträumt wird. Das Traumpersonal ist immer dasselbe, ebenso wie die Umgebung gleich bleibt. In einem winterlichen Wald begegnen sich eine Hirschkuh und ein Hirsch. Es herrscht ausschließlich natürliches Tageslicht sowie eine Geräuschkulisse, die aus einem gleichmäßigen, leisen Rauschen besteht. Dieses Rauschen hat keine unmittelbar erkennbare Quelle. Es scheint vielmehr der akustische Beitrag, um einen weiten, ruhigen Naturraum anzuzeigen. Hinzu kommen natürliche Geräusche wie der Ruf eines Vogels oder das Gurgeln eines Baches. Dieser fortlaufende Traum wird parallel zu den Tageserlebnissen in der Realwelt erzählt, wobei sowohl ein übergreifender Bogen in der rein linearen Erzählung erkennbar ist, als auch die Praxis, kleine Geschehnisse einzelner Tage in verwandelter Form aufzugreifen. Um diese Montagen übersichtlich darzustellen, wurden die Traumsequenzen nummeriert und zu dramaturgischen Gruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Beschreibung und Analyse der Traumsequenzen ist berücksichtigt, wie diese in Szenen der Wachwelt eingebettet sind.

Beschreibung der Traumsequenz I: Eröffnung

Der Film beginnt mit einem Schwarzfilm, Musik setzt ein, die aber bald endet, als aufgeblendet wird und ein winterlicher Laubwald zu sehen ist. Das bläuliche Licht, in das er getaucht ist, greift das Motiv einer klaren Kälte auf, zugleich kann es die Zeit der Dämmerung anzeigen, jene Zeit, die wegen ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit auch blaue Stunde genannt wird. Schnee fällt und unter den hohen, kahlen Bäumen gehen zwei Tiere. Ein Hirsch schreitet voraus, eine Hirschkuh folgt. Nachdem sie stehen geblieben ist, geht er noch ein Stück weiter, wendet sich aber bald nach ihr um und kommt zurück. Während sie reglos mit abgewandtem Kopf verharrt, nähert er sich ihr und legt schließlich seinen Kopf auf ihren Rücken. Sie verweilen kurz und gehen anschließend nach rechts aus dem Bild. Nach einem Schnitt wird eine dem Gesehenen entgegengesetzte Welt gezeigt, die sich bald als Wachwelt herausstellt. Beschmutzte Hufe stehen auf ebenfalls schmutzigen Fliesen. Eine eingesperrte Kuh schaut nach oben zur Sonne, die von diesigen Wolken verschleiert ist. Gleich im Anschluss werden mehrere Personen gezeigt, die sich, ebenso wie das Tier, der Sonne zuwenden. Das sind, nacheinander, eine Putzfrau, die weibliche Hauptfigur Maria und schließlich die männliche Hauptfigur Endre. Als eine Glocke ertönt, bezeichnet sie das Ende jener versonnenen Untätigkeit, die gerade zu beobachten war. Eine tote Kuh rollt aus einer Schlachtvorrichtung und wird zu ihrer Verarbeitung aufgehangen.

Analyse I

Die Eröffnungsszene ist nicht als Traum markiert. Weder formal noch inhaltlich gibt es Hinweise, dass die Szene im Wald ein Traumerlebnis bezeichnet. Traum- und folgende Realwelt werden in der Art der Darstellung gleich behandelt. Beide sind in Bildern und Geräuschen auf eine feine Beobachtung und einen langsamen Rhythmus hin ausgerichtet. Auffällig aber ist der Kontrast zwischen der Welt im Wald, welche sich deutlich später als die eines Schlaftraums herausstellt, und der Welt im Schlachthof. Während die Welt des Waldes kalt, menschenlos und von zwei freien, ungefährdeten Tieren bewohnt ist, liegt die menschenbelebte Realwelt in einer sommerlichen Stadt und ist mit einem Schlachthof verbunden, in dem domestizierte Tiere getötet und verarbeitet werden. Zugleich wird nach der eröffnenden Sequenz der eklatante Spalt zwischen Traum- und Realwelt für einen Übergang genutzt, der in eine Art von Tagtraum führt. Die todgeweihte Kuh wendet sich der Sonne zu, ist ebenso von ihr angezogen wie die Menschen, bevor mit einem Signal diese Pause in ihrer aller Leben beendet wird. Die Glocke ist Signal- und Weckton und nach dem Erwachen aus der genussvollen Versonnenheit werden die Tagesgeschäfte aufgenommen. Anders als beim Schlaftraum bleibt der konkrete Inhalt der möglichen Tagträume ungeklärt, jedoch sind deren Umrisse kontextuell zu bestimmen. In ihrer gleichartigen Reaktion auf die Sonne als einer natürlichen licht- und wärmespendenden Kraft, werden Menschen und Kuh zu sich ähnelnden Lebewesen, während mit dem Signal- und Weckton ein existentiell bedeutsamer Antagonismus in Gang kommt, durch den sie geschieden werden. Darum und aus der unmittelbaren Verbindung zur vorausgegangenen Szene im Wald, erscheint die Waldszene als Wunschtraum eines freien, ungefährdeten Lebens.

Beschreibung der Traumsequenzen II, III und IV: Zweisamkeit als individuelle Imagination

Bevor nach dem Tagtraum der zweite Schlaftraum beginnt, sieht Endre Maria zum ersten Mal in der Realwelt und wird sogleich auf sie aufmerksam. Maria erlebt ihren ersten Arbeitstag im Schlachthof. Endre versucht Kontakt aufzunehmen, um ihr die Ankunft zu erleichtern. Zuhause spielt Maria die erste Begegnung nach, wobei sich erkennen lässt, wie schwer es ihr fällt mit Endre zu sprechen, obwohl sie es gern möchte. Maria und Endre sind abends in ihren jeweiligen Wohnungen zu sehen. Bei beiden läuft im Fernseher ein alter schwarz-weißer Film. Während Maria zuschaut, ist Endre eingeschlafen. Von ihm wird in den bekannten winterlichen Wald geschnitten. Dort ist die unbestimmte, leise rauschende Tonkulisse genau wie in der ersten Traumsequenz zu hören. Der Baumbestand aber ist optisch weniger durchlässig. Ein Hirsch steht auf einer Lichtung und blickt zu einer dunkelgrünen Wand aus Nadelbäumen, wo sich nach einer Weile die Hirschkuh zeigt. Sie zögert, läuft dann, ein wenig vom Hirsch entfernt, über die Lichtung, um am Rand des nächsten Dickichts stehen zu bleiben und sich zu dem männlichen Tier umzudrehen. Während in der Realwelt wie in der Traumwelt die Perspektiven von Maria und Endre ausgewogen sind, wird bei diesem wie den beiden folgenden Träumen jeweils von Endre zum Traumgeschehen geschnitten. Im nächsten Schlaftraum, Nummer III, scheinen die Tiere vertrauter miteinander. Hirschkuh und Hirsch liegen ruhig Seite an Seite im Schnee. Schneekristalle zeichnen sich weiß in ihrem Fell ab. Im Traum Nummer IV lässt sich eine Reaktion auf den Tag ausmachen, an dem Endre vom Fenster aus beobachtete, wie Maria wegen ihres steifen Verhaltens von anderen verspottet wurde. Im Traum scharren beide Tiere zwischen alten Blättern, als ein Vogelruf die Hirschkuh ablenkt und aufblicken lässt. Schnee rieselt von einem Ast, wo der Vogel offenbar aufgeflogen ist. Daraufhin schauen sich beide Tiere an, die Hirschkuh mahlt mit ihren Zähnen, das Gluckern eines Baches ist zu hören, ein Huf im Wasser ist zu sehen, bevor sie und der Hirsch gemeinsam über den Bach hinweg davon gehen.

Analyse zu II, III und IV

Dass vom schlafenden Endre wieder auf eine Waldszene geschnitten wurde, ist ein erster Hinweis darauf, dass sie einen Traum bezeichnet, der an dieser Stelle scheinbar von Endre allein geträumt wird. Die Begegnung der Tiere lässt sich als metaphorische Umarbeitung seiner Begegnung mit Maria verstehen. Durch die Traum-Metamorphosen wird ein Moment des Wunderbaren eingeführt, denn, wie das Publikum aus der ersten Filmszene schließen kann, waren beide Tiere gemeinsam im Wald unterwegs, bevor Maria und Endre sich trafen. Darum erschient der Traum nicht nur als die gestaltete Sehnsucht des Mannes, deren mögliche reale Erfüllung sich ihm am Tag gezeigt hat, sondern auch als ein bereits vorbestimmtes Treffen mit dieser einen Frau. Obwohl die Träume, eingebettet in das Geschehen der Realwelt, metaphorisch, also funktional lesbar sind, erscheinen sie, für sich genommen, auch hyperreal. In den ruhigen Bildern und Geräuschen wird das Leben zweier Waldtiere gezeigt, wie es tatsächlich sein könnte. Die Unaufgeregtheit lässt fast darüber hinwegsehen, dass ästhetisch und semantisch bewusst Bildausschnitte gewählt und zusammengesetzt wurden. Weit entfernt von den beinahe rituellen inhaltlichen und visuellen Wiederholungen in filmischen Tierdokumentationen, fällt allerdings auf, dass die gewöhnlich in gleichgeschlechtlichen Gruppen und nur zur Brunftzeit in Harems lebenden Tiere hier ein einzelnes Paar bilden aus einem Hirsch und einer Hirschkuh. So dass eine einerseits äußerst realistische, zugleich aber auf etwas anderes hin idealisierte Aussage erzeugt wird, das heißt, eine die Realität zu diesem Zweck verfälschende Kommunikation. Abseits dieser Lesbarkeit wird nun im Film selbst begonnen, den Traum zu analysieren. Eine polizeiliche und eine psychologische Untersuchung wird angesetzt, nachdem aus dem Schlachthof sogenanntes Bullenpulver entwendet und dazu eingesetzt wurde, eine Gruppe von Menschen öffentlich sexuell zu entfesseln. Die hinzugezogene Psychologin untersucht die im Schlachthof Arbeitenden also unter dem Aspekt einer sexuell konnotierten Aktion. Neben Auskünften zum Intimleben wünscht sie ebenfalls, über Träume informiert zu werden. Vor ihrer anstehenden Befragung diskutieren einige Angestellte des Schlachthofs ihre Träume. Dabei gestehen sie sich die Intimität dieser Frage sowie ihre dadurch hervorgerufene Verletzlichkeit ein. Während ein junger Mann einräumt, von einem blauen Pferd geträumt zu haben, auf dem er ritt, sagt die alte, kaum attraktiv scheinende Putzfrau, sie „ficke“ in ihren Träumen. In beiden Fällen zeigen die Träume eine unerwartete Komplettierung der äußerlich wahrgenommenen Persönlichkeit an. Als die Psychologin Maria und Endre befragt, erzählen beide in ihren getrennten Sitzungen von einem identischen Traum. Endre tut das aus der Perspektive eines Hirsches, der er gewesen sei, Maria aus der Sicht einer Hirschkuh. Es ist das erste Mal, dass das Traumerlebnis in beschreibende Sprache übersetzt wird. Die Psychologin zielt mit ihren Fragen auf den verwandelnden, metaphorischen Charakter von Träumen für gewünschte, verborgene, unbewusste oder bewusst uneingestandene Gefühle. Außerdem folgt sie dem Auftrag, den sexuell konnotierten Diebstahl des Bullenpulvers aufzuklären. Beides kann erklären, warum sie Endre fragt, ob sich die Tiere in seinem Traum gepaart hätten. Endre verneint und betont, dass sich nur ihre Nasen berührt hätten. Auch aus Marias Schilderung ihres Traums lässt sich vor allem der vertraute und fürsorgliche Umgang zwischen den Tieren ablesen. So bezeichnet sie den Hirsch als Gefährten und berichtet, wie er ihr ein dickes, haariges, fleischiges Blatt überlassen habe, das sich als wohlschmeckend erwies. (Die deutschen Untertitel zum ungarischen Original lauten etwas anders: Das Blatt sei saftig gewesen, auch ekelerregend und ihr war danach merkwürdig zumute, heißt es hier. Auf Ungarisch wiederum sagt Maria, das Blatt sei „húsos“ gewesen, was „fleischig“ bedeutet.) Obwohl im Film nicht kommentiert, sind das Blatt und dessen Eigenschaften bemerkenswert. Das Thema der Nahrung ist im ganzen Film durch das Setting in einem Schlachthof präsent. Zudem finden die erste und viele der weiteren Begegnungen zwischen Maria und Endre in der Kantine ihres Arbeitsortes statt. Gleich zu Beginn spricht Endre davon, was dort gut zubereitet würde und nennt dabei ausschließlich vegetarische Speisen. Das steht einerseits in Kontrast zum Produkt des Arbeitsplatzes, andererseits harmoniert es mit der vegetarischen Kost eines Hirsches. Das, was Maria nun, in ihrer Gestalt als Hirschkuh, vom Hirsch zum Fressen überlassen wurde, hat allerdings sowohl pflanzliche wie tierliche Anteile. Es ist ein Blatt, doch auch haarig und fleischig. Dass es außerdem dick ist, lässt sich beiden Kategorien zuordnen. Insofern kann das Blatt auf eine Verbindung zwischen der Traum- und der Wachwelt hinweisen, da es angesiedelt ist zwischen der vegetarischen Lebensweise der Wildtiere und der fleischproduzierenden Umgebung, in der Maria und Endre arbeiten. Doch ebenso lassen sich – weil die Erzählung der Träume in die Suche nach einem sexuellen Kontext eingebettet ist – die außergewöhnlichen Eigenschaften des Blattes mit dem menschlichen, besonders dem weiblichen Geschlecht assoziieren. Will man auf diesem Weg weiterdenken, ließe sich vorschlagen, das Fressen des Blattes nicht als Form der (Selbst-)Verstümmelung zu betrachten, sondern als Bereitschaft, bisher unbekannte Dinge zu kosten. Eine solche sexualisierte Deutung ist rein sprachlich assoziativ möglich. Währenddessen verlaufen Traum und der zur offiziellen Traumdeutung veranlassende Vorfall mit dem Bullenpulver – was ihre sexuellen Inhalte betrifft – in vollkommen entgegengesetzte Richtungen. Werden die vom Bullenpulver überwältigten Menschen gleichsam zu Tieren, die alle kulturellen Schranken ablegen und plötzlich zu öffentlichen sexuellen Handlungen übergehen, begegnen sich die Tiere des Traums rein freundschaftlich, obwohl das Thema einer möglichen sexuellen Anziehungskraft naheliegt. Unterstrichen wird Letzteres auch durch eine Geste Endres, die er sowohl in seiner Gestalt als Hirsch wie als Mensch ausführt. Bereits in der ersten Traumsequenz fährt sich der Hirsch, als er sich zur Hirschkuh gesellt, mit der Zunge übers Maul. Ein ähnliches Schlecken ist zu sehen, als Endre der Psychologin gegenübersitzt und ihre Brüste unter der dünnen Bluse mustert. In einem Gespräch, zu welchem Endre und Maria gemeinsam von der Psychologin geladen werden, einigt man sich oberflächlich darauf, der gleichlautende Traum sei ein verabredeter Scherz gewesen. Doch untergründig ist allen dreien klar, es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun zu haben, worauf sie verschieden reagieren. Für die Psychologin, das bestätigt sich in einem späteren Dialog, scheint es möglich, dass durch wissenschaftsbasierte Befragung etwas entdeckt werden kann, dass dem bisherigen Erklärungssystem widerspricht. Endre spricht, als er kurz mit Maria allein ist, von einem Zufall. Damit ordnet er den gemeinsamen Traum noch dem bekannten rationalen System zu. Was hieße, dass die Traumereignisse nicht kausal zusammengehören, aber auf unwahrscheinliche Art zusammenfallen, weshalb sich auch von einer Koinzidenz als spezieller Form des Zufalls sprechen ließe. Maria schweigt zu den Deutungen der anderen.

Beschreibung der Traumsequenzen V, VI und VII: Sich Erkennen

Maria und Endre sind in ihrem jeweiligen Zuhause angekommen. Endre isst, Maria geht ins Bett. Zum ersten Mal wird von ihr ins Traumgeschehen geschnitten. Darin sind Hirschkuh und Hirsch zu sehen. Sie stehen sich auf zwei Seiten eines kleinen runden Teiches im kahlen Wald gegenüber und schauen sich an. Am nächsten Tag begegnen sich Maria und Endre als Menschen in der Wachwelt, wieder in der Kantine. Er leugnet seinen Traum, geht dann aber Maria nach, erzählt ihr das Geträumte, das auch die Zuschauenden kurz zuvor gesehen haben, und Maria sagt, sie habe dasselbe geträumt. Endre glaubt ihr nicht und meint, das sage sie jetzt nur so. Im nächsten Traum begegnen sich Hirsch und Hirschkuh auf einer Lichtung. Von hier ziehen sie in ein Fichtendickicht, wo sie, von dünnen Stämmen getrennt, nebeneinanderher laufen. Tags darauf begegnen sich Maria und Endre wieder im Schlachthof. Sie notieren jeweils ihren Traum, tauschen die beschriebenen Blätter, lesen, was darauf steht und lächeln sich an. Endre sagt: „Na dann werden wir uns heute Abend sehen.“ Es wird gezeigt, wie beide in ihr jeweiliges Bett gehen. Ihr Traum aber ist erstmals nicht zu sehen. Endre fragt am nächsten Tag Maria: „Warum sind Sie vor mir weggelaufen? Sind Sie mir böse?“ Sie verneint. Endre gibt Maria seine Telefonnummer und möchte im Tausch ihre haben. Maria sagt wahrheitsgemäß, sie habe kein Telefon. Endre aber versteht das als Zurückweisung. In der folgenden Traumszene steht die Hirschkuh allein am Teich. Ihr Gefährte bleibt fort. Am Tag kauft Maria ein Telefon. Sie und Endre verabreden, sich abends zum Einschlafen anzurufen. Als sie das, beide auf ihren Betten sitzend, tun, sagt Endre: „Sie müssen keine Angst vor mir haben.“ Der Traum wird, wie schon einmal geschehen, nicht gezeigt, nur die Reaktion darauf. Beide sitzen gemeinsam in der Kantine. Endre sagt: „Es war schön.“ Er strahlt Maria an und sie zeigt ein kleines Lächeln.

Analyse zu V, VI und VII

Während Maria und Endre den Umstand verifizieren, sich nächtlich im gemeinsamen Traum zu begegnen, wird die Kategorie des Wunderbaren, die sich bereits zuvor andeutete, bestätigt. Dass die beiden noch vor ihrer ersten Begegnung in der Realwelt einen Traum teilten, erhöht die Stufe des Wunderbaren und gibt ihrem Zusammentreffen den Zug einer Vorbestimmung. Wenn sie sich anschließend erfolgreich für Begegnungen in ihren Nachtträumen verabreden, wird ein weiteres Merkmal von Träumen aufgehoben, nämlich dass sie kaum vom (bewussten) Ich steuerbar sind. Die gewöhnlich individuelle, subjektive und instabile Traumwelt ist also objektiviert, da sie durch zwei Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird und dabei so verlässlich ist, dass sie sich wiederholt und bewusst aufsuchen lässt. Die gemeinsam geträumte Innenwelt besitzt also Qualitäten einer physisch wahrnehmbaren Außenwelt. Dennoch ist sie vollkommen exklusiv: Nur Endre und Maria können sie betreten. In dieser Verbindung aus Kohärenz, Logik, Unwahrscheinlichkeit und Exklusivität liegt der Übergang zum Wunder, also zu etwas, das unmöglich und naturwissenschaftlich nicht erklärbar, aber – innerhalb des Films – real ist. Das ist auf verschiedenen Ebenen relevant. Zunächst ist es eine deutliche Allegorie für eine außergewöhnliche Liebe und die Außergewöhnlichkeit der Liebe an sich. Während Maria und Endre das gemeinsame Traumereignis mit der referentiellen realen Welt abgleichen, wird das erkannte Außerkrafttreten von Naturgesetzen zum Zeichen für außerrationales und wunderbares Wirken und damit für eine poetische Umdeutung der Welt. Das Fantastische und Wundervolle erscheint als Charakteristik von Liebe. Die geteilte Traumerfahrung zeigt zudem, dass beide gleichermaßen dazu veranlagt sind, und auf der Suche nach dem Grund dafür wird deutlich, dass beide eine Besonderheit teilen: Maria und Endre sind auf äußerlich wahrnehmbare Arten versehrt. Dass Maria schonungslos ehrlich und korrekt, im sozialen Miteinander und körperlicher Nähe gehemmt ist, liegt an einer Form von Autismus. Endre wiederum hat einen gelähmten Arm, der, sobald er in der ersten Szene auftritt, sichtbar gemacht wird. Unsichtbar bleibt eine andere Versehrtheit, die er später Maria offenbart. Er berichtet, dass er mit der Liebe abgeschlossen hatte, wozu seine Erfahrungen und seine, gegenüber Maria, deutlich höhere Anzahl an Lebensjahren beitragen. Das nicht Gewöhnliche also öffnet die Fähigkeit oder erzwingt die Notwendigkeit zu ungewöhnlichem Erleben. Bezogen auf den Filmtitel Körper und Seele, haben sich ihre Seelen auf nicht rational erklärbare Art gefunden, noch bevor sie sich körperlich gegenübertraten. Wenn man also in eine Kategorie wie eine angenommene Seelenverwandtschaft wechseln möchte, liegt auch die Vorstellung von einer Seelennahrung nahe, was Sinn ergibt, wenn man Marias und Endres Arbeitsumgebung, in der Nahrung produziert wird, einberechnet, sowie ihre häufigen Treffen in der Kantine als einem Ort, an dem der Körper ernährt werden soll, während sich die beiden zunehmend um die Nahrung ihrer gemeinsamen Seelen kümmern. Sowohl die Träume als auch die Liebe erscheinen als Nahrung der Seele. Währenddessen charakterisieren sich die Tiere der Traumwelt und ihre menschlichen Pendants in der Realwelt gegenseitig. Wenn die Frau und der Mann sich einander vor allem in ihrer Traumgestalt als Tiere nähern können, so maskiert die Tiergestalt ihr Menschsein, doch zugleich wirkt ihr Tiersein maskenlos, da Tiere, vor allem Wildtiere, als authentische, unverstellte Wesen gelten. Die andere Körpererfahrung als Tier ermöglicht also andere Arten des Beisammenseins. Kontrastierend zum Wachzustand können sich Maria und Endre in einer Vertrautheit begegnen, die ihnen tagsüber in ihrer menschlichen Gestalt nicht möglich ist.

Beschreibung der Traumsequenzen VIII und IX: Störung und Auflösung

Endre und Maria gehen in ihrer Freizeit gemeinsam essen. Er schlägt danach vor, dass sie bei ihm zu Hause nebeneinander schlafen. So wären sie sich beim Träumen auch mit ihren Realkörpern nahe. Aber der Schlaf kommt nicht. Sie spielen während der restlichen Nacht Karten und lernen sich auf diese Art besser kennen. Er möchte sie am Arm streicheln, doch Maria zuckt zurück, worauf er erklärt, dass er mit der Liebe schon lange abgeschlossen hatte und sich nun lächerlich mache. Maria beginnt daraufhin allein fremde Körper in sinnlichen Kontakten zu beobachten und den eigenen Körper zu erforschen. Während sie versucht, ihre Angst vor körperlicher Nähe zu überwinden, will sich Endre, in einer gegenläufigen Bewegung, seiner Gefühle zu Maria entledigen. Er schläft mit einer anderen Frau. Danach sitzt er gequält in einem Imbiss und ist den Tränen nahe. Unvermittelt wird von hier in die Traumwelt geschnitten, in der er als Hirsch allein durch den Schneewald läuft, sehr schnell, leicht bergauf, nach den Seiten blickend.

Später begegnen sich beide wieder vor der Essensausgabe der Kantine, wo Maria, die sich inzwischen bereit fühlt, Endre anbietet, bei ihm zu schlafen. Er aber weist sie ab. Maria, die sich ihre Verletztheit nicht anmerken lässt, ordnet zu Hause ihre Sachen und versucht, sich zu töten. Während das Blut aus ihrer geöffneten Pulsader strömt, ruft Endre sie an und gesteht ihr seine Liebe. Ohne ihm zu erklären, was vorgefallen ist, verabredet sich Maria mit Endre. Sie versorgt ihre selbst beigebrachte Wunde, geht zu ihm und sie haben Sex. Am anderen Morgen stellen beide fest, dass sie im Schlaf nichts geträumt haben. Danach ist der Wald zu sehen, der Schnee, der bekannte kleine runde See, aber keine Tiere. Ein Lichtstrahl zieht sich schräg durch das Bild. Er wird heller, bis das Bild gänzlich weiß ist. Dann folgt der Abspann.

Analyse zu VIII und IX

Die Anzahl und Länge der gezeigten Träume nimmt weiterhin ab. Das Publikum nimmt nicht mehr an ihren Träumen teil, das heißt, der Annäherungsprozess des Paares tritt in einen intimen, geschützten Raum ein, in den das Publikum keinen Einblick mehr hat. Zugleich träumen sie noch, womit angezeigt ist, dass sie dieses Hilfsmittel benötigen, sich also in der Realwelt nicht so nahe gekommen sind, dass sie sich ohne die Auslagerung ihrer Wünsche und Sehnsüchte in die transformierende Traumwelt begegnen könnten. Trotz ihrer wachsenden Vertrautheit im Traum, behalten beide in ihrer realen Gestalt als Menschen das „Sie“ als distanzierende Anrede bei. Endres Traum, in dem er allein unterwegs ist, manifestiert hingegen die Störung in ihrer Beziehung. Den Störungen folgt schließlich deren Auflösung, die sowohl in der Real- als auch in der Traumwelt geschieht. Die Traumwelt am Ende des Films ist, wie jene am Anfang, nicht direkt als Traum gekennzeichnet, sondern lässt sich als solcher nur über das bekannte Setting als ein Raum, der parallel zur Realwelt existiert, deuten. Dass der bekannte Raum, der nun zu sehen ist, von den Tieren verlassen wurde, zeigt, gemeinsam mit der morgendlichen Diskussion, dass Maria und Endre ihn nicht mehr benötigen. Der Winterwald ihres gemeinsamen Traums ist darum geleert, steht jedoch als potenzieller Raum offen: innerfilmisch für einen möglichen Wiedereintritt oder außerfilmisch für das Publikum allgemein. Während der erste Traum aus einem Schwarzfilm entsteht, geht dieser letzte in ein vollkommen weißes Bild über. Der Film führte also aus dem Dunkeln in ein alles Weitere ausblendendes Licht, symbolisch daher vom Unklaren zum Erhellten und Überstrahlten. Die erzählerische Funktion des Traums, die darin bestand, zwei Menschen zueinander finden zu lassen, ihre jeweiligen Beeinträchtigungen zu überwinden und diese Liebe (wie verallgemeinerbar jede Liebe) in einen Status des Wunderbaren zu versetzen, ist vollzogen.

Traumdarstellungen im Werk der Regisseurin

Die Regisseurin wurde 1955 in Budapest geboren. In ihrem ersten Spielfilm Mein 20. Jahrhundert (Az én XX. századom) widmete sie sich zwei Menschen – es sind Schwestern – die getrennt werden. Ihr fünfter Spielfilm Körper und Seele wird häufig als umgekehrter Plot beschrieben, nämlich als Film über zwei einander entfernte Menschen, die zusammenfinden. 1989 gewann sie die Caméra d'Or in Cannes für Mein 20. Jahrhundert. Ihre nächsten Filme Der Freischütz – The Magic Hunter (Bűvös vadász) von 1994, Winterliebe – Tamas and Juli (Tamás és Juli) von 1997 und Simon the Magician (Simon mágus) von 1999 liefen in Wettbewerben in Venedig oder Locarno, wurden aber nicht prämiert. Nach zwei Kurzfilmen wandte sie sich dem Fernsehen zu und war von 2012 bis 2014 Regisseurin von Terápia, der ungarischen Version der HBO Serie In Treatment (Lemercier, Cineuropa, 23.06.2015). Mit Körper und Seele schloss sie an den Erfolg des ersten Filmes an. Sie gewann den Goldenen Bären der Berlinale 2017. Im selben Jahr ging der Europäische Filmpreis für die Beste Darstellerin an Alexandra Borbély, welche die weibliche Hauptrolle spielte. Bei der Oscarverleihung 2018 war Körper und Seele für den Besten fremdsprachigen Film nominiert. In Fabien Lemerciers Text für Cineuropa, der Ende Juni 2015 veröffentlicht wurde, also kurz nach Ende des größten Teils der Dreharbeiten, befinden sich Fragen zur Bedeutung des gemeinsamen Traumes. Warum die Fragen innerhalb des Textes in Anführungszeichen gesetzt wurden, ist nicht zu ersehen, möglicherweise aber sind Gedanken der Regisseurin wiedergegeben. Das scheint insofern denkbar, da diese Fragen um das dramaturgische Setting kreisen, das mit dem Mittel des gemeinsamen Traums erzeugt wird. Gefragt wird: "What would happen if you met someone who dreamt the same as you or, to be more precise, had been meeting you in the same world every night for years? Would you be pleased? Or would you feel that you had been in some way robbed? And what if this specific individual didn’t exactly appeal to you? What if you actually hated that person?" (Lemercier, Cineuropa, 23.06.2015) In einem anderen Interview erklärte die Regisseurin und Autorin des Films, warum sie den gemeinsamen Traum als dramaturgisches Element gewählt habe, er also nicht Ausgangspunkt der Erzählung war: Sie wollte sich Menschen widmen, deren Gefühle verborgen sind. Wenn beide feststellen, dass sie gemeinsam träumen, sind sie gezwungen darauf zu reagieren. Dadurch wiederum werden ihre Gefühle offensichtlich: ihre Angst, Verzweiflung, Lebensfreude und Leidenschaft (Meinecke, Traumdeutung, ntv.de, 20.9.2017). In einem allgemeineren Sinn meinte Enyedi, dass Träume das seien, was alle Menschen „surreal and magic“ mache (Marotta, On Body and Soul, indiewire.com, 09.02.2018). Dieser Gedanke über die verzaubernde Kraft der Träume findet sich variiert in einer anderen Aussage der Regisseurin, in der sie Träume als Vorstellungskraft versteht, durch die Realität verändert wird. Als Beispiel nannte sie eine Tasse, die gestaltet wurde, weil jemand sie sich so vorstellte und dadurch die materielle Umwelt veränderte, von der wir umgeben sind (Meinecke, Traumdeutung, ntv.de, 20.9.2017). In Interviews äußerte sich die Regisseurin wiederholt über die Rolle der Religion (Peitz, Der Film „Körper und Seele“. Tagesspiegel, 20.9.2017), um Krisen zu bestehen und bewusst zu durcherleben. Sie meinte, dass durch religiöse Rituale die einzelnen Menschen mit einer größeren Gruppe bzw. „dem großen Ganzen“ verbunden würden (Katzenberger, "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Zur Idee der Seelenverwandtschaft, die sich durch den gemeinsamen Traum zeigen könnte, äußerte sie sich (Idris, Ein traumhaftes Paar, arte-Magazin, Februar 2020), wie auch zur Idee eines kollektiven Bewusstseins, gemäß der nicht nur bestimmte Personen miteinander verbunden sind, sondern alle Menschen, ohne dafür aktiv etwas tun zu müssen (Burg / Wellinski, Interview mit Ildikó Enyedi, Deutschlandfunk Kultur, 18.2.2017). In dem Interview bezieht sich Enyedi namentlich auf Carl Gustav Jung, benutzt dabei aber den von ihm nicht gebrauchten Begriff des "Kollektivbewusstseins". Ob dieser Widerspruch aus einem Übersetzungsfehler, einer Unsicherheit oder einem Versehen herrührt, lässt sich kaum klären. Jung entwickelte den Begriff des "kollektiven Unbewussten", während der Begriff des "Kollektivbewusstseins" mit Emil Durkheim verknüpft ist. Die hier benutzte Paraphrasierung von Enyedis Aussage bildet gewissermaßen einen Mittelweg, um ihre Rede, unabhängig von den Makierungen durch die genannten Wissenschaftler, lesen zu können.

Diese gedankliche Nähe zum Überpersönlichen und Spirituellen, im Sinn einer poetischen, die Realität transzendierenden Weltsicht und Welterwartung, scheint ein Ausgangspunkt dafür, dass der Film auch innerhalb religiöser Kontexte vorgeführt und diskutiert wird. Zum Beispiel befindet sich Körper und Seele im Verleih des Katholischen Filmwerks in Deutschland, von dem ergänzend ein didaktisches Arbeitsheft zum Film publiziert wurde (Weber 2018). Währenddessen wurde vor allem die Ansiedlung des Filmgeschehens in einem Schlachthof mitunter als metaphorische Kritik am politischen System Ungarns oder Europas verstanden. Dies lehnt die Regisseurin ab (Peitz, Der Film „Körper und Seele“. Tagesspiegel, 20.9.2017). In verschiedenen Texten zum Film als auch in Selbstaussagen der Regisseurin fallen wiederholt die beschreibenden Worte „poetisch“, „realistisch“, „melancholisch“, „humorvoll“, „magisch“. Während die Worte „melancholisch“ und „humorvoll“ eher eine Grundstimmung und ein bewusst eingesetztes Gegengewicht bezeichnen, können die verbleibenden drei Adjektive für eine filmhistorische Einordnung interessant sein. Die realistische Wiedergabe sozialer Kontexte ist ohne Weiteres erkennbar, sowohl in der Darstellung der einzelnen Figuren, ihrem Agieren in einem sozialen Gefüge als auch in der dokumentierend aufgenommenen Umgebung des Schlachthofs. Dass visuell, auditiv und narrativ poetische Mittel beigefügt wurden, um zu gestalten und zu überhöhen, ist ebenfalls leicht erkennbar. Allerdings ist der verbindende Begriff des „poetischen Realismus“ filmhistorisch festgelegt und bezeichnet vor allem französische Filme der 1930er bis 1940er Jahre, die zudem bestimmte erzählerische wie inhaltliche Merkmale aufweisen, welche der vorliegende Film nicht besitzt. Darum erscheint letztlich die Einordnung in die Kategorie des „magischen Realismus“ naheliegend. Dieser weit gedachte Begriff (Reeds 2006, 175–196.), der Werke verschiedener Genres wie Literatur und Malerei umfasst, wird angewandt, wenn in einer Darstellung reale und magische Wirklichkeit – und letztere ist häufig die eines Traums oder einer Halluzination – verschmolzen werden.

Heike Endter

Literatur

Film

  • Körper und Seele. Regie: Ildikó Enyedi. Drehbuch: Ildikó Enyedi. Kamera: Máté Herbai. Ungarn 2017.

Forschungsliteratur

  • Durst, Uwe: Begrenzte und entgrenzte wunderbare Systeme. Vom Bürgerlichen zum 'Magischen' Realismus. In: Lars Schmeink/Hans-Harald Müller (Hg.): Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter 2012, 57–74.
  • Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? Traum und Phantastik in der romantischen Literatur. In: Christine Ivanovic/Jürgen Lehmann/Markus May (Hg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart: Metzler 2003, 153–170.
  • Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. München: Fink 2006.
  • Reeds, Kenneth: Magical Realism. A Problem of Definition. In: Neophilologus 90 (2006), 175–196.
  • Weber, Astrid: Körper und Seele. Arbeitshilfe (Katholisches Filmwerk) 2018.

Weblinks