"Kassandra" (Christa Wolf): Unterschied zwischen den Versionen

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Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird er folgendermaßen: "Er gehörte zu jenen Träumen, die ich gleich für bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaß" (K 114). Der Traum ist so schwer zu deuten, dass Marpessa Arisbe den Traum Kassandras erzählt, obwohl diesee nicht für die Deutung ihrer Träume zuständig ist. Marpessa kommt zum Schluss, dass das Wichtigste an ihrem Traum, ihr Bemühn sei, "auf eine ganz verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen" (K 115). Kassandra ist sich bewusst, dass die Antwort in diesen Fragen liegt und findet den Ursprung ihres Traums in den ersten Monaten des Krieges. In diesem Moment ist es schon wieder Vorfrühling und lange haben die Griechen die Trojaner nicht mehr angegriffen. Nachdem sie die Festung verlassen hat, setzt sich Kassandra auf einen Hügel über dem Fluß Skamander.
Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird er folgendermaßen: "Er gehörte zu jenen Träumen, die ich gleich für bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaß" (K 114). Der Traum ist so schwer zu deuten, dass Marpessa Arisbe den Traum Kassandras erzählt, obwohl diesee nicht für die Deutung ihrer Träume zuständig ist. Marpessa kommt zum Schluss, dass das Wichtigste an ihrem Traum, ihr Bemühn sei, "auf eine ganz verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen" (K 115). Kassandra ist sich bewusst, dass die Antwort in diesen Fragen liegt und findet den Ursprung ihres Traums in den ersten Monaten des Krieges. In diesem Moment ist es schon wieder Vorfrühling und lange haben die Griechen die Trojaner nicht mehr angegriffen. Nachdem sie die Festung verlassen hat, setzt sich Kassandra auf einen Hügel über dem Fluß Skamander.


Abgesehen von den textimmanenten Interpretationsversuchen anderer Figuren eröffnet der Kampf zwischen Mond und Sonne eine zweite Bedeutungsebene vor dem Hintergrund der archetypischen Psychologie. Es ist offensichtlich, dass der symbolische Charakter des Traums eine Anspielung auf Carl Gustav Jungs (1875-1961) [["Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung) |Traumkonzeption]] ist. Träume stellen eine umfassende Symbolik dar, die dem kollektiven Unbewussten entspricht. Der Mond und die Sonne verkörpern zwei Prinzipien, nämlich das Weibliche und das Männliche, die sich im Traum gegenüberstehen. Mann und Frau fungieren, in Übereinstimmung mit Jungs Denken, als Wesen, die zur Symbolisierung fähig sind. Die Polarisierung der lunaren Frau und des solaren Gottes oder Mannes entspricht dem Oppositionsprinzip des von Jung geprägten Begriffs des Archetyps, der als universelle Form definiert werden kann. In Jungs Verständnis sind die universellen Formen in der Struktur des menschlichen Geistes verankert, der die Eindrücke und Wahrnehmungen der Welt in Symbole umwandelt. Die Entstehung dieser Symbole unterliegt einem Prozess der sprachlichen, mythischen oder logisch-theoretischen Apperzeption.  In diesem Zusammenhang hat der Rückgriff auf Archetypen eine entwicklungspsychologische Dimension: Durch ihren Transformationsprozess überschreitet Kassandra zu Recht die Grenze ihrer Individualität, so dass sie sich als kollektives und universelles Wesen identifiziert oder identifiziert wird. Darüber hinaus ist die Vorstellung eines entscheidenden Übergangs vom Patriarchat zum Matriarchat offensichtlich. Die im Traum dargestellte Symbolik kann als Anspielung auf die in den 1980er Jahren erfolgte grundlegende Kritik am Konzept von Anima/Animus und den damit verbundenen patriarchalisch geprägten Rollenstereotypen interpretiert werden, die zur Erweiterung von Jungs Konzept des Seelenbildes des anderen Geschlechts geführt hat. In der Tat wurde der Logos dem Männlichen und der Eros der Frau vorbehalten. Die Vorwürfe gegen Jungs zeitbedingtes Frauenbild nahmen große Ausmaße an. Eine seiner Schülerinnen, Ursula Baumgart, warf ihm vor, dass er durch den Einfluss patriarchalischer Klischees daran gehindert worden sei, die weibliche Psyche wirklich zu verstehen. Angesichts der für Männer und Frauen definierten Attribute lautete der Vorschlag, dass die besprochenen Archetypen klar von den Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens konkreter Männer und Frauen getrennt werden sollten. Anstelle der Begriffe männlich und weiblich schlugen spätere Autoren wie Schwartz-Salant eher freie Formulierungen für diese abstrakten Prinzipien vor, wie Sol und Luna. Generell ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser Traumsequenz im entscheidenden Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat liegt.
Abgesehen von den textimmanenten Interpretationsversuchen anderer Figuren eröffnet der Kampf zwischen Mond und Sonne eine zweite Bedeutungsebene vor dem Hintergrund der archetypischen Psychologie. Es ist offensichtlich, dass der symbolische Charakter des Traums eine Anspielung auf [["Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung) |Carl Gustav Jungs (1875-1961) Traumkonzeption]] ist. Träume stellen eine umfassende Symbolik dar, die dem kollektiven Unbewussten entspringt. Der Mond und die Sonne verkörpern zwei Prinzipien, nämlich das Weibliche und das Männliche, die sich im Traum gegenüberstehen. Mann und Frau fungieren, in Übereinstimmung mit Jungs Denken, als Wesen, die zur Symbolisierung fähig sind. Die Polarisierung der lunaren Frau und des solaren Gottes oder Mannes entspricht dem Oppositionsprinzip des von Jung geprägten Begriffs des Archetyps, der als universelle Form definiert werden kann. In Jungs Verständnis sind die universellen Formen in der Struktur des menschlichen Geistes verankert, der die Eindrücke und Wahrnehmungen der Welt in Symbole umwandelt. Die Entstehung dieser Symbole unterliegt einem Prozess der sprachlichen, mythischen oder logisch-theoretischen Apperzeption. Im Zusammenhang von Kassandras Traum hat der Rückgriff auf Archetypen eine entwicklungspsychologische Dimension: Durch ihren Transformationsprozess überschreitet Kassandra zu Recht die Grenze ihrer Individualität, so dass sie sich als kollektives und universelles Wesen identifiziert oder identifiziert wird. Darüber hinaus ist der Bezug auf einen Übergangs vom Patriarchat zum Matriarchat offensichtlich. Die im Traum dargestellte Symbolik kann als Anspielung auf die in den 1980er Jahren erfolgte grundlegende Kritik am Konzept von Anima/Animus und den damit verbundenen patriarchalisch geprägten Rollenstereotypen interpretiert werden, die zur Erweiterung von Jungs Konzept des Seelenbildes des anderen Geschlechts geführt hat, in dem der Logos dem Männlichen und der Eros der Frau vorbehalten blieb. Die Vorwürfe gegen Jungs zeitbedingtes Frauenbild nahmen große Ausmaße an. Eine seiner Schülerinnen, Ursula Baumgart, warf ihm vor, dass er durch den Einfluss patriarchalischer Klischees daran gehindert worden sei, die weibliche Psyche wirklich zu verstehen. Angesichts der für Männer und Frauen definierten Attribute lautete der Vorschlag, dass die besprochenen Archetypen klar von den Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens konkreter Männer und Frauen getrennt werden sollten. Anstelle der Begriffe 'männlich' und 'weiblich' schlugen spätere Autoren wie Schwartz-Salant eher freie Formulierungen für diese abstrakten Prinzipien vor, wie 'Sol' und 'Luna'. Generell ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser Traumsequenz im entscheidenden Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat liegt.


===Traum VIII: Alpträume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)===
===Traum VIII: Alpträume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)===
Kassandras Rivalin um das Priesteramt ist niemand anderes als ihre Schwester Polyxena. Im letzten Teil des Erinnerungsmonologs gesteht Kassandra ihre Schuld gegenüber Polyxena ein. Kassandra wird bei der Entscheidung über die Zulassung zum Priesteramt Polyxena vorgezogen, was zur Folge hat, dass die Schwestern ein Jahr lang nicht mehr miteinander reden. Außerdem leidet Polyxena darunter, dass sie nicht die Lieblingstochter des Königs Priamos ist. Sie erschreckt, als diese zu ihr kommt, um ihr ihre Träume anzuvertrauen. Doch diese werden von Kassandra als »unlösbare Verstrickungen« bezeichnet:
Kassandras Rivalin um das Priesteramt ist niemand anderes als ihre Schwester Polyxena. Im letzten Teil ihres Erinnerungsmonologs gesteht Kassandra ihre Schuld gegenüber Polyxena ein. Kassandra wurde bei der Entscheidung über die Zulassung zum Priesteramt Polyxena vorgezogen, was zur Folge hatte, dass die Schwestern ein Jahr lang nicht mehr miteinander reden. Außerdem leidet Polyxena darunter, dass sie nicht die Lieblingstochter des Königs Priamos ist. Kassandra erschrickt, als Polyxena zu ihr kommt, um ihr ihre Träume anzuvertrauen. Diese werden von Kassandra als »unlösbare Verstrickungen« bezeichnet:


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:<span style="color: #7b879e;">Mit einem zügellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie träumte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der Glückliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron. Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt. Ja, sagte ich. Was man halt so träumt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena. (K 126)</span>
:<span style="color: #7b879e;">Mit einem zügellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie träumte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der Glückliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron. Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt. Ja, sagte ich. Was man halt so träumt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena (K 126).</span>
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Es stellt sich heraus, dass sich Polyxena im Traum nach Andron, Dem Offizier des Eumelos (Leiter der Palastwache) sehnt. An dieser Stelle ist der Verweis auf Freuds Konzept von Tagesresten und die ihm zugeschriebene Bedeutungslosigkeit besonders aufschlussreich. Kassandras Traumdeutung wird aber erst vollständig, nachdem Polyxena ihr den Rest ihres Traums anvertraut. Sie erzählt Kassandra, dass sie sich mit dem Offizier des Eumelos im Traum auf die erniedrigendste Art vereint hat, obwohl sie ihn in der Wirklichkeit hasst. Merkwürdigerweise empfiehlt ihr Kassandra, einen Mann zu suchen (ebd.).
Es stellt sich heraus, dass sich Polyxena im Traum nach Andron, dem Offizier des Eumelos (Leiter der Palastwache) sehnt. An dieser Stelle ist der Verweis auf Freuds Konzept von Tagesresten und die ihnen zugeschriebene Bedeutungslosigkeit besonders aufschlussreich. Kassandras Traumdeutung wird aber erst vollständig, nachdem Polyxena ihr den Rest ihres Traums anvertraut. Sie erzählt Kassandra, dass sie sich mit dem Offizier des Eumelos im Traum auf die erniedrigendste Art vereint hat, obwohl sie ihn in der Wirklichkeit hasst. Merkwürdigerweise empfiehlt ihr Kassandra, einen Mann zu suchen (ebd.).


Polyxenas zweiter Traum tritt ein, während sie bei Andron schläft (K 128). In ihrem Traum übt ihr Vater Priamos Gewalt auf sie aus und sie weint unaufhörlich. Angekündigt wird, dass dieser Traum zuerst nur selten vorkommt und dann häufiger, und zwar am Ende jeder Nacht.
Polyxenas zweiter Traum findet statt, während sie bei Andron schläft (K 128). In ihrem Traum übt ihr Vater Priamos Gewalt an ihr, und sie weint unaufhörlich. Dieser Traum kommt zuerst nur selten vor, später wiederholt er sich am Ende jeder Nacht.


Die beiden Träume sind im Hinblick auf die Charakterisierung der Polyxena von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu Kassandra, die nach Emanzipation strebt, verharrt ihre Schwester Polyxena in ihrer Opferrolle (K 127). Polyxenas Leben ist von selbstzerstörerischen Handlungen so geprägt, dass sie sich sexuellen Erniedrigungen durch Andron und Achill aussetzt.  
Die beiden Träume sind im Hinblick auf die Charakterisierung der Polyxena von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu Kassandra, die nach Emanzipation strebt, verharrt ihre Schwester Polyxena in ihrer Opferrolle (K 127). Polyxenas Leben ist von selbstzerstörerischen Handlungen so geprägt, dass sie sich sexuellen Erniedrigungen durch Andron und Achill aussetzt.  


===Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)===
===Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)===
Kassandra träumt von den Farben Rot und Schwarz, die respektive Leben und Tod versinnbildlichen, wie folgt:
Kassandra träumt von den Farben Rot und Schwarz, die Leben bzw. Tod versinnbildlichen:


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:<span style="color: #7b879e;">Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näher kam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen. (K 161)</span>
:<span style="color: #7b879e;">Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näher kam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen (K 161).</span>
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Hervorzuheben ist, dass dieser Traum schon wieder nach einer langen Zeit ohne Träume eintritt, und zwar nach der Landung der Griechischen Flotte und den damit verbundenen Folgen. Die Gräueltaten des Krieges führten dazu, dass die Götter die Trojaner verließen. (K 147). In diesem letzten Teil des Textes werden die Ereignisse des Krieges weiterhin dargestellt: Hektors Kampf mit Achilles, Penthesileas Tod, die Zerstörung der Stadt nach Odysseus' erfolgreicher List, die Trennung von Aineias und seine Flucht. All dies wird in die Erzählung der Trennung von Kassandra und Priamos eingebettet. Die Erzählung über das Leben in den Ida-Bergen, die subversive Gegenwelt zu Troja, und Kassandras Beziehung zu dem weisen Anchises und Arisbe.
Hervorzuheben ist, dass dieser Traum wieder nach einer langen Zeit ohne Träume eintritt, und zwar nach der Landung der Griechischen Flotte und den damit verbundenen Folgen. Die Gräueltaten des Krieges führten dazu, dass die Götter die Trojaner verließen (K 147). In diesem letzten Teil des Textes werden die Ereignisse des Krieges dargestellt: Hektors Kampf mit Achilles, Penthesileas Tod, die Zerstörung der Stadt nach Odysseus' erfolgreicher List, die Trennung von Aineias und seine Flucht. All dies wird in die Erzählung der Trennung von Kassandra und Priamos eingebettet. Die Erzählung über das Leben in den Ida-Bergen, der subversiven Gegenwelt zu Troja, und Kassandras Beziehung zu dem weisen Anchises und zu Arisbe.


In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben » Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer« (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto »lieber kämpfend sterben, als versklavt sein« (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra, geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch dieses Mittel verändert werden können (K 153). Andererseits wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill den schlimmsten Feind zu töten und dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen auf ihre Person zu nehmen. Sie sollte Achill im Tempel locken unter dem Vorwand ihm zu vermählen und Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verletzlich ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser Letztere zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt.  Kassandra rebelliert sich gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feinbegünstigung bezichtigt. (K 164). Letztendlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben(K 154).
In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben: "Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer" (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto "lieber kämpfend sterben, als versklavt sein" (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch ein solches Mittel verändert werden können (K 153). Dagegen wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill, den schlimmsten Feind, zu töten; dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt, ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen für ihre Person zu nehmen. Sie soll Achill in den Tempel locken unter dem Vorwand, sich ihm zu vermählen. Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verwundbar ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt. Kassandra rebelliert gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten, und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feindbegünstigung bezichtigt (K 164). Letztlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn "zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben" (K 154).


==Zusammenfassung==
==Zusammenfassung==
Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. Die integrierten Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetie oder der Vorhersage von Ereignissen, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. In diesem Fall werden einige Träume zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert.  Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unterbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus, da Träume anders interpretiert werden als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen attraktiven Zugang zu Christa Wolfs Kunstwerk (Vgl. Nicolai 1989, 84).
Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. Diese Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetien, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. Einige solcher Träume werden zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert. Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus. Träume werden anders interpretiert als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen wichtigen Zugang zu Christa Wolfs Roman (Nicolai 1989, 84).


==Träume und weibliche Utopie des Romans==
==Träume und weibliche Utopie des Romans==
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* Cixous, Hélène: Entre l’écriture des femmes. Paris: Editions des femmes 1976.
* Cixous, Hélène: Entre l’écriture des femmes. Paris: Editions des femmes 1976.
* Cixous, Hélène: Le rire de la méduse. Paris: Editions L’Arc 1975.
* Cixous, Hélène: Le rire de la méduse. Paris: Editions L’Arc 1975.
* Heidmann Vischer, Ute: Récit mythologique et récit de rêve. Deux formes de représentation littéraire chez Marguerite Yourcenar, Thomas Mann et Christa Wolf. In: Colloquium Helveticum 21 (1995): Rêve et littérature/Traum und Literatur, 27-43.
* Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Leben - Werk - Wirkung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 28-125.
* Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Leben - Werk - Wirkung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 28-125.
* Korngiebel, Wilfried: Das historische Fundament der Sozialutopien. In: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Ernst Bloch: ''Das Prinzip Hoffnung''. Berlin: de Gruyter 2017, 36-175.
* Korngiebel, Wilfried: Das historische Fundament der Sozialutopien. In: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Ernst Bloch: ''Das Prinzip Hoffnung''. Berlin: de Gruyter 2017, 36-175.
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Waguena, Dissirama: "Kassandra" (Christa Wolf). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Kassandra%22_(Christa_Wolf).
Waguena, Dissirama: "Kassandra" (Christa Wolf). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Kassandra%22_(Christa_Wolf).
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[[Kategorie:Wolf,_Christa|Christa Wolf]]
[[Kategorie:20._Jahrhundert]]
[[Kategorie:Gegenwart]]
[[Kategorie:Deutschsprachig]]
[[Kategorie:Deutschland]]
[[Kategorie:DDR]]
[[Kategorie:Literatur]]
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