"Kassandra" (Christa Wolf)

Aus Lexikon Traumkultur
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Der Roman Kassandra erschien erstmals im FrĂŒhjahr 1983 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Luchterhand Verlag. Mit diesem Meisterwerk erlangte die in Deutschland bereits bekannte Prosa-Autorin Christa Wolf (1929-2011) Weltruhm. Er handelt von der Ich-ErzĂ€hlerin und Protagonistin Kassandra, die vor dem Hintergrund des trojanischen Krieges um ihre Befreiung von einem selbstzerstörerischen patriarchalischen System der Indoktrination und Bevormundung kĂ€mpft. Die in die ErzĂ€hlung eingebauten TrĂ€ume nehmen einen großen Raum ein und fungieren als bevorzugter Vektor fĂŒr die Darstellung der Subjektwerdung der Protagonistin.

Entstehung

Christa Wolfs Kassandra entsteht in einem Kontext großer sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der spĂ€teren 1970er und frĂŒhen 1980er Jahre. Zu den großen BĂŒndnissen der Epoche zĂ€hlten die Pazifisten, die Feministen und die Alternativbewegungen, deren Anforderungen sich ĂŒberlagerten und von einem kollektiven Bewusstseinwandel zeugten. Christa Wolf war etwas ĂŒber 20 Jahre alt, als im Herbst 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegrĂŒndet wurde; bis in die frĂŒhen 1960er Jahre teilte sie mit ihren Zeitgenossen die Hoffnung auf einen gerechteren und friedlicheren Staat, der die sozialen und ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus auslöschen wĂŒrde. Als Kassandra erscheint, befindet sich Christa Wolf bereits auf Kriegsfuß mit dem DDR-Regime. Sie wurde von den Behörden ihres Landes heftig kritisiert, als sie nacheinander ihre Romane Der geteilte Himmel (1963) und vor allem Nachdenken ĂŒber Christa T (1968) veröffentlichte. In diesen BĂŒchern waren Gedanken und Ideen aufgekeimt, die dem utopischen sozialrevolutionĂ€ren, messianischen und eschatologischen Potenzial im Sinne von Blochs Prinzip Hoffnung entsprachen und als Widerstandspotenzial gegen die Deformationen des DDR-Sozialismus wirkten (Hilzinger 2007, 37 f.). Man bezichtigt sie der Rehabilitierung bĂŒrgerlicher Werte wie SubjektivitĂ€t und Innerlichkeit. Hart getroffen von der Wolf-Biermann-AffĂ€re (1976) und dem Ausschluss mehrerer Mitglieder aus dem Schriftstellerverband, bricht die letzte Vertrauensbasis ihrer Beziehungen zur DDR-Regierung zusammen. Trotzdem weigert sich die Autorin als Dissidentin bezeichnet zu werden und entscheidet sich bewusst dafĂŒr, die DDR nie zu verlassen. Die 1980er Jahren waren ebenfalls von globalen Spannungen geprĂ€gt: Europa befĂŒrchtete einen zerstörerischen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion auf eigenem Boden. Der Aufruf des Kommandos der damals noch bestehenden MilitĂ€rblöcke der NATO und des Warschauer Pakts zu neuen RĂŒstungsanstrengungen, um der angeblichen waffentechnischen Überlegenheit des Gegners etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu können, weckte bei den BĂŒrgern das GefĂŒhl eines kollektiven Selbstmords angesichts der allgemeinen Bedrohung durch das atomare WettrĂŒsten und der eigenen Ohnmacht. Im Westen wie im Osten bildeten sich Friedens- und Frauenbewegungen, die gegen diese neue Behauptung protestierten (Schmiedel 2003, 65). Zu dieser Zeit waren viele Frauen fĂŒr den Frieden und definierten die Bedeutung von Frieden neu. Die Figur der Kassandra fungierte vor dem Hintergrund dieser politischen Konstellation und der Sehnsucht vieler Menschen nach Frieden als Friedensikone und Identifikationsfigur fĂŒr eine ganze Generation von Frauen, die nach Emanzipation von einer von MĂ€nnern dominierten Welt der Politik und des Krieges, der Intrigen und MachtkĂ€mpfe strebten.

Zur Anlage des Romans

Die Vorgeschichte von Kassandra bezieht sich auf den Trojanischen Krieg.[1] Besondere Aufmerksamkeit verdienen die wichtigsten Abweichungen von der stofflichen Vorlage: ZunĂ€chst ist die Liebesbeziehung zwischen Aineias und Kassandra ein Novum. In der Mythologie gibt es weder eine Begegnung noch eine Beziehung zwischen den beiden Figuren. Als nĂ€chstes ist Christa Wolfs feministische AnnĂ€herung an den Krieg bedeutsam, die sich darin zeigt, dass sie sowohl den Griechen als auch den Trojanern jegliches Heldentum abspricht. Achilles, Homers Held, wird bei ihr zu einem sadistischen Metzger, der noch die Toten tötet; Agamemnon, der große und berĂŒhmte AnfĂŒhrer der griechischen Flotte, wird in ein Kind ohne Selbstbewusstsein verwandelt. Die radikalste VerĂ€nderung betrifft die Figur der Helena; nicht mehr fĂŒr sie wird der Krieg gefĂŒhrt, statt dessen rĂŒcken Privilegien und Besitz in den Vordergrund. Kassandra wird ĂŒber das traditionelle Recht auf Zugang zum Hellespont belehrt, und ihr Vater erklĂ€rt ihr, dass die Griechen ihr Gold und den freien Zugang zu den Dardanellen wollen (Wolf 2008, 93). Damit bekommt die Berufung auf Helena die Funktion einer PropagandalĂŒge, da sie sich eben nicht in Troja aufhĂ€lt.

Christa Wolfs Kassandra handelt von der Hauptfigur Kassandra, der Ă€ltesten und beliebtesten Tochter des Königs Priamos von Troja, die sich nicht mit den festgeschriebenen Geschlechterrollen identifizieren will. Im Gegensatz zu ihrer Mutter Hekabe und ihren Schwestern will sie nicht das Haus hĂŒten und heiraten. Da sie einen Beruf erlernen möchte, lĂ€sst sie sich zur »Seherin« ausbilden bzw. einweihen, einem sogenannten MĂ€nnerberuf (Wolf 2008, 93), der fĂŒr eine Frau ihres Standes angemessen ist. Dieser Beruf, der ein Privileg ist, wird ihr schließlich zugesprochen und sie muss ihn gemĂ€ĂŸ den Gepflogenheiten ausĂŒben. Sie begegnet Aineias zum ersten Mal, als sie sich der entwĂŒrdigenden Prozedur der Entjungferung bei der EinfĂŒhrung ins Priesterinnenamt unterzog. Apollon, der Gott der Seher, verleiht ihr die Sehergabe, indem er ihr in Gestalt eines Wolfes in den Mund spuckt. Da sie den Avancen Apollons nicht nachgibt, bestraft er sie mit einem Fluch: Zwar sieht sie alles, aber niemand wird ihr glauben. Obwohl sie ihrem Volk, dem sie eng verbunden ist, auf ihre Weise am besten dient, wird die Seherin von ihm abgelehnt. Kassandra durchlĂ€uft daraufhin einen schmerzhaften Ablösungsprozess, in dessen Verlauf sie zunĂ€chst fĂŒr verrĂŒckt erklĂ€rt wird, weil sie die Wahrheit ĂŒber den Untergang Trojas erzĂ€hlt hat; danach wird sie von ihrem geliebten Vater Priamos in den Turm geworfen. Die Gesichter, die auf sie einstĂŒrzen, haben nichts mehr mit rituellen Orakeln zu tun. Sie sieht die Zukunft, weil sie den Mut hat, die tatsĂ€chlichen Bedingungen der Gegenwart zu sehen. Unter den Gruppen in und um den Palast, die sozial und ethnisch heterogen sind, schließt sich Kassandra der Gegenwelt der Skamander an. Diese leben sich in den Höhlen eines Flusses namens Skamander und erscheinen zurecht als Heterotopie einer besseren Gesellschaft, eine alternative Welt, in der Frauen ihren Platz haben. Indem sie sich mit dieser Minderheit identifiziert, grenzt sie sich bewusst aus, wirft alle ihre Privilegien weg und setzt sich VerdĂ€chtigungen, Spott und Verfolgungen aus, die letztlich der Preis fĂŒr ihre UnabhĂ€ngigkeit sind. Kassandra weigert sich aber, in Selbstmitleid zu schwelgen. Sie beschließt, ihr Leben zu leben, selbst in Zeiten des Krieges, und versucht dann, den auf ihr lastenden Fluch aufzuheben, wird aber schließlich zum Objekt degradiert.

In der RĂŒckschau der Hauptfigur Kassandra, die kurz vor dem Tod steht, wird die Geschichte des Untergangs Trojas vermittelt. Über die Darstellung kriegerischer Ereignisse hinaus, werden Kassandras Einblicke in die jĂŒngste Vergangenheit, d.h. die Überfahrt mit dem Schiff von Troja nach Mykene, und in ihre frĂŒheste Kindheit in Form eines inneren Monologs vermittelt. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselnd stellt Kassandra kommentierend und reflektierend, in Gedanken, GefĂŒhlen und assoziativem Erinnerungsstrom und ohne eine chronologische Ordnung einzuhalten, ihre Lebensgeschichte dar.

TrÀume in Kassandra

In der mosaikhaften[2] und unchronologischen ErzĂ€hlung Kassandra haben TrĂ€ume samt mythologischen Prophezeiungen der Seherin eine große Bedeutung. Es handelt sich um eindeutig markierte SchlaftrĂ€ume, die nachts von Göttern gespendet werden. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und ihre Funktionen sind mehrdeutig. In der ErzĂ€hlung spielt Kassandra eine doppelte Rolle: Sie ist nicht nur Seherin, sondern auch Traumdeuterin (Vgl. Wolf, 2008,124). Sie deutet die TrĂ€ume der anderen Figuren und lĂ€sst diese auch ihre persönlichen TrĂ€ume deuten. In diesem Zusammenhang wird das Nicht-TrĂ€umen eben als eine dramatische Situation erlebt, zumal es den RĂŒckzug der Götter bedeutet, die die Quelle der TrĂ€ume sind (Vgl. Wolf 2008, 147). Insofern hĂ€lt Christa Wolf in gewisser Weise an dem geschlossenen Drama fest, bietet aber eine fragmentarische ErzĂ€hlstruktur an. Die kontroversen Traumdeutungen sind eng mit den sich ĂŒberschneidenden Wissensdiskursen verknĂŒpft, die in den 1980er Jahren ĂŒblich waren.

In der ErzÀhlung können drei Hauptkategorien von TrÀumen unterschieden werden: Geburts- oder AngsttrÀume, LiebestrÀume und komplexe, symbolbeladene TrÀume. Die TrÀume der Charaktere sind systematisch wie folgt:

Traum I: Kassandras (Alp)Traum von der Sehergabe (K 22)

Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde trĂ€umt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der in einer verschobenen Form dem Priester Panthoos Ă€hnelt, zu dem sie ein konfliktreiches VerhĂ€ltnis hat:

Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hĂ€tte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, spĂ€ter, bei Panthoos Apoll! - nur »nĂŒchtern« nannte. Apollon im Strahlen- nie wieder sah ich glanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beilĂ€ufige, ich wagte nicht zu fĂŒhlen: enttĂ€uschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nĂ€hern, wobei er sich - ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken - in einen Wolf verwandelte, der von MĂ€usen umgeben war und der mir wĂŒtend in den Mund spuckte, als er mich nicht ĂŒberwĂ€ltigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwĂ€rtigen Geschmack auf der Zunge spĂŒrte und mitten in der Nacht aus dem Tempel- bezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh. (K 22-23)

Man erfĂ€hrt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden (K 23). Die Angst vor der Vereinigung mit dem Sonnengott Apollon erweist sich als Auslöser des Alptraums. MerkwĂŒrdigerweise versucht die Mutter Hekabe nicht, den Traum ihrer Tochter zu deuten, obwohl sie sich ĂŒber die wolfsĂ€hnliche Gestalt Apollons Sorgen macht. Denn fĂŒr sie gibt es nichts Ehrenhafteres als den Willen eines Gottes, sich mit einer »Sterblichen« zu vereinen (ebd.). Angesichts der Zweifeln und GleichgĂŒltigkeit von Panthoos der Grieche an der Berufung von Kassandra zum Priestertum, lĂ€sst Kassandra ihren Traum schließlich von Marpessa deuten. »Wenn Apollon dir in den Mund spuckt (
) bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben« (K 33).

Traum II: Kassandras (Alp)Traum von dem geliebten Aneias (K 26)

Nachdem sie Aneias am Tag ihrer Entjungferung kennengelernt hat, verliebt sich Kassandra in ihn. Im Vergleich zu den anderen MĂ€nnerfiguren, die als wild und ungeduldig beschrieben werden, erweist sich Aneias als sanfter junger Mann, der ihr gegenĂŒber respektvoll und wohlwollend verhĂ€lt. Aus Liebe zu Kassandra weigert er sich, seine Pflicht zu erfĂŒllen, d.h. Kassandra zu deflorieren und beschĂŒtzt sie – Panthoos der Grieche ist es, der sie tatsĂ€chlich entjungfert hat –. In dieser Nacht findet sie ihr GlĂŒck bei ihrem Geliebten, hat aber mitten in der Nacht einen Alptraum. Sie trĂ€umt von einem Schiff, das Aneias weit weg von der trojanischen KĂŒste bringt, auf blauem, glattem Wasser und von einem riesigen Feuer, das, wĂ€hrend das Schiff sich zum Horizont hin entfernt, zwischen denen steht, die wegfahren, und denen, die zu Hause geblieben sind, zu denen Kassandra gehört, wie folgt:

Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich trĂ€umte von einem Schiff, das den Aineias ĂŒber glattes blaues Wasser von unserer KĂŒste wegfĂŒhrte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darĂŒbergelegt haben. Gern wĂŒĂŸte ich (was denk ich da! gern? wĂŒĂŸte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wĂŒĂŸte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im GlĂŒck: so redeten wir doch! solche TrĂ€ume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich [
]. (K 26)

Nach dem Alptraum wacht sie schreiend auf und wird von Aneias getröstet, der sie zu ihrer Mutter trĂ€gt. Das brennende Meer bleibt ein prĂ€gendes Traumbild, das Kassandra nicht loslĂ€sst. Ihre Fragen und TrĂ€ume lösen sich auf, nachdem ihre Mutter ihr ein GetrĂ€nk verabreicht hat. In diesem Zusammenhang lĂ€sst sich der Alptraum von Kassandra einigermaßen als eine spannungssteigernde Prolepse im Hinblick auf die spĂ€teren Kriegserlebnisse in Troja lesen. Sich an ihre Jugendzeit erinnernd wird der Ursprung ihrer AngsttrĂ€ume ans Licht gebracht (K 50). In diesen TrĂ€umen empfindet sie Lust fĂŒr Aneias, der sie aber bedroht. Doch diese TrĂ€ume, die bei ihr SchuldgefĂŒhl, Verzweiflung und Selbstentfremdung hervorrufen, erinnern an dem ersten Anfall Kassandras, als sie die Wahrheit ĂŒber das zweite Schiff von Aineas erfĂ€hrt. Das zweite Schiff wurde ausgesandt, angefĂŒhrt von Aineas Vater Anchises und dem Seher Kalchas. Die Mission bestand darin, Hesione, die Schwester von Priamos, zurĂŒckzubringen, die angeblich von Telamon, dem König von Sparta, entfĂŒhrt wurde. Die Mission scheitert jedoch auf zweierlei Weise. Das zweite Schiff kehrt nicht nur ohne Hesione zurĂŒck, die mittlerweile Telamons Frau und Königin von Sparta geworden ist, sondern auch ohne den Seher Kalchas. Dieser bleibt freiwillig in Griechenland, doch aus StaatsrĂ€son wird die PropagandalĂŒge verbreitet, Kalchas werde von den Griechen als Geisel festgehalten (K 44-47). Kassandra muss feststellen, dass sich ein Kreis des Schweigens (K 46) um sie schließt, dass man ihr die Wahrheit vorenthĂ€lt. Von Aineas erfĂ€hrt sie die Wahrheit und zum ersten Mal entladen sich ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Angst und ihre Verzweiflung in einem Anfall.

Traum III: Kassandras (Alp)traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)

Kassandra trÀumt von dem Kind der Asterope und des Aisakos, das mit ihrer Mutter zusammen bei der Geburt gestorben ist:

[
] immer der schwere Schlaf und die TrĂ€ume. Jenes Kind der Asterope und des Aisakos, das mit seiner Mutter zusammen bei der Geburt gestorben war, wuchs in mir. Als es reif war, wollte ich es nicht zur Welt bringen, da spie ich es aus, und es war eine Kröte. Vor der ekelte ich mich. Merops, der uralte Traumdeuter, hörte mich aufmerksam an. (K59)

Kassandra lĂ€sst ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser Letzere erklĂ€rt ihr den Traum nicht, sondern warnt er Kassandras Mutter Hekabe vor den MĂ€nnern, die Aisakos Ă€hnlich sĂ€hen und empfehlt ihr, diese aus der NĂ€he der Tochter zu entfernen. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass diesem Albtraum ein erschĂŒtterndes Ereignis vorausgeht, der Kassandra zum ersten Mal in einen anfallĂ€hnlichen Zustand versetzt: Der Tod ihres meistgeliebten Bruders Aisakos in der Vorkriegszeit. Er wird als einen krĂ€ftigen, warmhĂ€utigen Mann mit dem braunen Kraushaar beschrieben, der anders als alle ihre Bruder zu ihr war (Vgl. K 58). Aisakos versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre junge und schöne Frau Asterope im Kinderbett stirbt. Er wird von seinen Bewachern gerettet, bis er nicht mehr gefunden wird und spĂ€ter verzweifelt ins Meer eintaucht. Der schwarze Vogel mit roten Hals, der nach dem Eintauchen Aisakos auftaucht, wird allerdings von dem Orakeldeuter Kalchas als eine verwandelte Gestalt Aisakos ausgelegt. Als dieser Alptraum eintritt, trauert Kassandra um den Tod ihres Bruders Aisakos. DarĂŒber hinweg erscheint die Interpretation des toten Kindes als Kassandras mangelnder Wille, Mutter zu werden, plausibel.  

Traum IV: Hekabes (Alp)traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)

Die Spekulationen um die Geburt von Paris, der Verursacher des Untergangs Trojas, stehen im Mittelpunkt der ErzĂ€hlung. Der Geburt des Knaben geht eine Prophezeiung Aisakos voraus. Er verkĂŒndet damit, dass ein Fluch auf dem Kind liegt. Aber ausschlaggebend ist der Traum der Hekabe:

Die nÀmlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris getrÀumt, sie gebÀre ein Holzscheit, aus dem unzÀhlige brennende Schlangen hervorkrochen. (K 66)

Gedeutet wird der Traum von dem Seher Kalchas. Ihm zufolge, werde das Kind, das Hekabe gebĂ€ren sollte, ganz Troja in Brand stecken. Doch diese Traumdeutung wird kontrovers von den anderen Figuren ausdiskutiert (K 66). Kassandra zweifelt an Kalchas Deutung und glaubt, dass die AlptrĂ€ume ihrer Mutter bloß AngsttrĂ€ume sind (K 67). Arisbe nach, könnte das Kind dazu bestimmt sein, die Schlangengöttin als HĂŒterin des Feuers in jedem Hause wieder in ihre Rechte einzusetzen. Letztere Deutung erschreckt Kassandra. GrundsĂ€tzlich befĂŒrworten die einen die Tötung des gefĂ€hrlichen Knaben und die anderen, auch Hekabe dabei, wollen das Kind retten. Letztendlich entkommt der Knabe dem Tod durch die Hilfe des Hirten, der es nicht ĂŒber sich gebracht hat, ihn zu töten. Dass König Priamos die Zunge eines Hundes, die ihm der Hirte als BeweisstĂŒck bringt, nicht von der eines SĂ€uglings unterscheiden konnte, bringt Kassandra durcheinander. Sie vermutet, dass ihr Vater König Priamos ihren wunderbaren Sohn nicht sterben lassen wollte (K 68).

Traum V: (Alp)Traum des Königs Priamos (K 87-88)

Kurz vor dem trojanischen Krieg und nach einer langen Zeit, dass Kassandra keine TrÀume mehr hat (K 72), erzÀhlt König Priamos von seinem Traum:

Ungebeten deutete ich dem König einen Traum, den er bei der Tafel erzĂ€hlt hatte: Zwei Drachen, die miteinander kĂ€mpften; der eine trug einen goldgehĂ€mmerten Brustpanzer, der andre fĂŒhrte eine scharf geschliffene Lanze. Der eine also unverletzlich und unbewaffnet, der andre bewaffnet und ha?erfĂŒllt, jedoch verletzlich. Sie kampften ewig. (K 87-88)

Kassandra deutet den Traum als einen Widerstreit, in dem ihr Vater mit ihm selbst liege. Dennoch glaubt ihr König Priamos nicht (K 88). Zutreffend ist ihm nach, die Deutung von Panthoos: Â» Der goldgepanzerte Drache bin natĂŒrlich ich, der König. Bewaffne muß ich mich, um meinen tĂŒckischen und schwerbewaffneten Feind zu ĂŒberwĂ€ltigen. Den Waffenschieden hab [sic] ich schon befohlen, ihre Produktion zu steigern« (K 88). Kassandra zweifelt an der Empfehlung von Panthoos, ein Mann, den sie hasst. Zum Beginn des Krieges ist Kassandra skeptisch, dass man wisse, wann der Krieg genau begonnen hat bzw. wann der Vorkrieg begonnen hat (ebd.).

Traum VI: Kassandras Liebestraum (K 102)

Im Herbst, nachdem der Krieg begonnen hat und nachdem Paris tatsĂ€chlich nach Troja zurĂŒckgekehrt ist, um Helena zu entfĂŒhren, und sie dort nicht gefunden hat, und wĂ€hrend Kassandra von Oinone auf die Weiden gebracht wird, trĂ€umt Kassandra von Aneais. Sie wird dadurch desorientiert, dass niemand sie auf ihren Geliebten anspricht (K 101). Vor Wut schreiend legt sie sich auf die Weiden, was ihr dennoch nicht hilft. Ihre Sehnsucht nach Liebe ist so stark, dass sie bei der Initiation eines jungen Priesters weiterhin von Aneias trĂ€umt:

UnertrĂ€glich sehnte ich mich nach Liebe, eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte, darĂŒber ließen meine TrĂ€ume keinen Zweifel. Einmal nahm ich einen blutjungen Priester, den ich anlernte und der mich verehrte, zu mir auf mein Lager, wie man es fast von mir erwartete. Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und trĂ€umte von Aineias. Ich begann auf meinen Körper achtzugeben, der, wer hĂ€tte das gedacht, sich von TrĂ€umen leiten ließ. (K102)

Traum VII: Kassandras (Alp)Traum vom Himmelsgestirnenwettkampf (K 114- 115)

Nach einer langen öden Zeit ohne TrÀume hat Kassandra endlich wieder einen Traum:

Ich ging, allein, durch eine Stadt, die ich nicht kannte, Troia war es nicht, doch Troia war die einzige Stadt, die ich vorher je gesehn. Meine Traumstadt war grĂ¶ĂŸer, weitlĂ€ufiger. Ich wußte, es war Nacht, doch Mond und Sonne standen gleichzeitig am Himmel und stritten um die Vorherrschaft. Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beiden Himmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle. Phobus Apollon! rief triumphierend eine Stimme, und zugleich fuhr zu meinem Schrecken Selene, die liebe Mondfrau, klagend zum Horizont hinab. Dies war ein Urteil ĂŒber mich, doch wie konnte ich schuldig sein, da ich nur ausgesprochen hatte, was der Fall war. Mit dieser Frage bin ich aufgewacht. (K 114-115)

Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird der Traum folgenders: »Er gehörte zu jenen TrĂ€umen, die ich gleich fĂŒr bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaĂŸÂ«. (K 114). Dieser Traum ist so schwer zu deuten, dass Marpessa Arisbe den Traum von Kassandra erzĂ€hlt, obwohl Arisbe nicht fĂŒr die Deutung Kassandras TrĂ€ume zustĂ€ndig ist.  Marpessa kommt zum Schluss, dass das Wichtigste an ihrem Traum, ihr BemĂŒhn ist, auf eine ganz verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen. (K 115). Kassandra ist sich davon bewusst, dass die Antwort in diesen Fragen liegt und findet den Ursprung ihres Traums in den ersten Monaten des Krieges. In diesem Moment ist es schon wieder VorfrĂŒhling und lange haben die Griechen die Trojaner nicht mehr angegriffen. Nachdem sie die Festung verlassen hat, setzt sich Kassandra auf einem HĂŒgel ĂŒber dem Fluß Skamander.

Abgesehen von den Textimmanenten Interpretationsversuchen anderer Figuren eröffnet der Kampf zwischen Mond und Sonne eine zweite Bedeutungsebene vor dem Hintergrund der Archetypischen Psychologie. Es ist offensichtlich, dass der symbolische Charakter des Traums eine Anspielung auf CG Jungs Traumkonzeption ist. TrĂ€ume stellen eine umfassende Symbolik dar, die dem kollektiven Unbewussten entspricht. Der Mond und die Sonne verkörpern zwei Prinzipien, nĂ€mlich das Weibliche und das MĂ€nnliche, die sich im Traum gegenĂŒberstehen. Mann und Frau fungieren, in Übereinstimmung mit Jungs Denken, als Wesen, die zur Symbolisierung fĂ€hig sind. Die Polarisierung der lunaren Frau und des solaren Gottes oder Mannes entspricht dem Oppositionsprinzip des von Jung geprĂ€gten Begriffs des Archetyps, der als universelle Form definiert werden kann. In Jungs VerstĂ€ndnis sind die universellen Formen in der Struktur des menschlichen Geistes verankert, der die EindrĂŒcke und Wahrnehmungen der Welt in Symbole umwandelt. Die Entstehung dieser Symbole unterliegt einem Prozess der sprachlichen, mythischen oder logisch-theoretischen Apperzeption.  In diesem Zusammenhang hat der RĂŒckgriff auf Archetypen eine entwicklungspsychologische Dimension: Durch ihren Transformationsprozess ĂŒberschreitet Kassandra zu Recht die Grenze ihrer IndividualitĂ€t, so dass sie sich als kollektives und universelles Wesen identifiziert oder identifiziert wird. DarĂŒber hinaus ist die Vorstellung eines entscheidenden Übergangs vom Patriarchat zum Matriarchat offensichtlich. Die im Traum dargestellte Symbolik kann als Anspielung auf die in den 1980er Jahren erfolgte grundlegende Kritik am Konzept von Anima/Animus und den damit verbundenen patriarchalisch geprĂ€gten Rollenstereotypen interpretiert werden, die zur Erweiterung von Jungs Konzept des Seelenbildes des anderen Geschlechts gefĂŒhrt hat. In der Tat wurde der Logos dem MĂ€nnlichen und der Eros der Frau vorbehalten. Die VorwĂŒrfe gegen Jungs zeitbedingtes Frauenbild nahmen große Ausmaße an. Eine seiner SchĂŒlerinnen, Ursula Baumgart, warf ihm vor, dass er durch den Einfluss patriarchalischer Klischees daran gehindert worden sei, die weibliche Psyche wirklich zu verstehen. Angesichts der fĂŒr MĂ€nner und Frauen definierten Attribute lautete der Vorschlag, dass die besprochenen Archetypen klar von den Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens konkreter MĂ€nner und Frauen getrennt werden sollten. Anstelle der Begriffe mĂ€nnlich und weiblich schlugen spĂ€tere Autoren wie Schwartz-Salant eher freie Formulierungen fĂŒr diese abstrakten Prinzipien vor, wie Sol und Luna. Generell ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser Traumsequenz im entscheidenden Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat liegt.

Traum VIII: AlptrÀume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)

Kassandras Rivalin um das Priesteramt ist niemand anderes als ihre Schwester Polyxena. Im letzten Teil des Erinnerungsmonologs gesteht Kassandra ihre Schuld gegenĂŒber Polyxena ein. Kassandra wird bei der Entscheidung ĂŒber die Zulassung zum Priesteramt Polyxena vorgezogen, was zur Folge hat, dass die Schwestern ein Jahr lang nicht mehr miteinander reden. Außerdem leidet Polyxena darunter, dass sie nicht die Lieblingstochter des Königs Priamos ist. Sie erschreckt, als diese zu ihr kommt, um ihr ihre TrĂ€ume anzuvertrauen. Doch diese werden von Kassandra als »unlösbare Verstrickungen« bezeichnet:

Mit einem zĂŒgellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie trĂ€umte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der GlĂŒckliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron. Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt. Ja, sagte ich. Was man halt so trĂ€umt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena. (K 126)

Es stellt sich heraus, dass sich Polyxena im Traum nach Andron, Dem Offizier des Eumelos (Leiter der Palastwache) sehnt. An dieser Stelle ist der Verweis auf Freuds Konzept von Tagesresten und die ihm zugeschriebene Bedeutungslosigkeit besonders aufschlussreich. Kassandras Traumdeutung wird aber erst vollstĂ€ndig, nachdem Polyxena ihr den Rest ihres Traums anvertraut. Sie erzĂ€hlt Kassandra, dass sie sich mit dem Offizier des Eumelos im Traum auf die erniedrigendste Art vereint hat, obwohl sie ihn in der Wirklichkeit hasst. MerkwĂŒrdigerweise empfiehlt ihr Kassandra, einen Mann zu suchen (ebd.).

Polyxenas zweiter Traum tritt ein, wĂ€hrend sie bei Andron schlĂ€ft (K 128). In ihrem Traum ĂŒbt ihr Vater Priamos Gewalt auf sie aus und sie weint unaufhörlich. AngekĂŒndigt wird, dass dieser Traum zuerst nur selten vorkommt und dann hĂ€ufiger, und zwar am Ende jeder Nacht.

Die beiden TrĂ€ume sind im Hinblick auf die Charakterisierung der Polyxena von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu Kassandra, die nach Emanzipation strebt, verharrt ihre Schwester Polyxena in ihrer Opferrolle (K 127). Polyxenas Leben ist von selbstzerstörerischen Handlungen so geprĂ€gt, dass sie sich sexuellen Erniedrigungen durch Andron und Achill aussetzt.  

Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)

Kassandra trÀumt von den Farben Rot und Schwarz, die respektive Leben und Tod versinnbildlichen, wie folgt:

Nachts trĂ€umte ich, nach so vielen traumlos wĂŒsten NĂ€chten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kĂ€mpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hĂ€tte. Andauernd ihre Gestalt verĂ€ndernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell nĂ€her kam. Was war dort. Was fĂŒr ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den NĂ€chten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen. (K 161)

Hervorzuheben ist, dass dieser Traum schon wieder nach einer langen Zeit ohne TrĂ€ume eintritt, und zwar nach der Landung der Griechischen Flotte und den damit verbundenen Folgen. Die GrĂ€ueltaten des Krieges fĂŒhrten dazu, dass die Götter die Trojaner verließen. (K 147). In diesem letzten Teil des Textes werden die Ereignisse des Krieges weiterhin dargestellt: Hektors Kampf mit Achilles, Penthesileas Tod, die Zerstörung der Stadt nach Odysseus' erfolgreicher List, die Trennung von Aineias und seine Flucht. All dies wird in die ErzĂ€hlung der Trennung von Kassandra und Priamos eingebettet. Die ErzĂ€hlung ĂŒber das Leben in den Ida-Bergen, die subversive Gegenwelt zu Troja, und Kassandras Beziehung zu dem weisen Anchises und Arisbe.

In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben Â» Sie kĂ€mpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle MĂ€nner« (K 152). Die kĂŒhne und furchteinflĂ¶ĂŸende Frau greift jeden an und herrscht ĂŒber die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle MĂ€nner auf, nach dem Motto »lieber kĂ€mpfend sterben, als versklavt sein« (ebd.). Die Gewalt gegen MĂ€nner wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre AnhĂ€ngerinnen verdĂ€chtigen, sie hĂ€tten ihre EhemĂ€nner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra, geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine MĂ€nnersprache sei, und dass diese nur durch dieses Mittel verĂ€ndert werden können (K 153). Andererseits wird Polyxena als unterwĂŒrfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von MĂ€nnern entworfen, um Achill den schlimmsten Feind zu töten und dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt ohne RĂŒcksicht auf die gravierenden Folgen auf ihre Person zu nehmen. Sie sollte Achill im Tempel locken unter dem Vorwand ihm zu vermĂ€hlen und Paris wĂŒrde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verletzlich ist. Doch vor der DurchfĂŒhrung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser Letztere zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt.  Kassandra rebelliert sich gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der FeinbegĂŒnstigung bezichtigt. (K 164). Letztendlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein VerbĂŒndeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrĂŒckt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres grĂ¶ĂŸten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der ErzĂ€hlung sind insbesondere die ZĂŒge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwĂ€hlen, denn »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.« (K 154).

Zusammenfassung

Insgesamt lassen sich in der ErzĂ€hlstruktur von Kassandra neun TrĂ€ume herausheben. Die integrierten TrĂ€ume dienen einerseits der mythologischen Prophetie oder der Vorhersage von Ereignissen, da die Götter ĂŒber die TrĂ€ume mit den Menschen in Kontakt treten. In diesem Fall werden einige TrĂ€ume zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der ErzĂ€hlung zugrunde liegt, eingefĂŒgt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage Ă€ndert.  Andererseits dienen TrĂ€ume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der ErzĂ€hlung steht, ermöglichen die TrĂ€ume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer TrĂ€ume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen ĂŒber die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos ĂŒber ihre WĂŒnsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die TrĂ€ume drĂŒcken auch einen Teil der unterbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen fĂŒr einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus, da TrĂ€ume anders interpretiert werden als in frĂŒheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine grĂ¶ĂŸere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von TrĂ€umen in die ErzĂ€hlung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr VerstĂ€ndnis von Vergangenheit und Gegenwart ĂŒberprĂŒfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die TrĂ€ume BerĂŒhrungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfĂ€ltigen und fast unverĂ€nderlichen Bildwelt bieten diese TrĂ€ume einen attraktiven Zugang zu Christa Wolfs Kunstwerk (Vgl. Nicolai 1989, 84).

TrÀume und weibliche Utopie des Romans

Die weibliche Utopie manifestiert sich zunĂ€chst auf sprachlicher Ebene. Die ErzĂ€hlform, die Christa Wolf auswĂ€hlt, weist auf eine Ästhetik des Widerstands hin. In Kassandra werden Themen des feministischen Strukturalismus von Julia Kristeva und Helene Cixous wieder aufgegriffen (Schmidjell 2003, 106). Christa Wolf kritisiert die bestehenden patriarchalen VerhĂ€ltnisse und verklĂ€rt die Wirklichkeit, indem sie in eine bessere Zukunft voller Optimismus blickt. Die formale Vielfalt, von der ihre ErzĂ€hlung zeugt, ist ein legitimiertes Schreibexperiment, das eine Subjektivierung des ErzĂ€hlaktes bedeuten soll.[3] Auf der Ebene der Zeitgeschichte sind die Philosophen wie Ernst Bloch und Walter Benjamin intertextuell erwĂ€hnenswert. Am Leben in der Gemeinschaft der Skamander zeigt sich das Utopisch-Sozialistische in der IdentitĂ€tssuche der Protagonistin bzw. in der Idee ihrer Selbstverwirklichung. Das Leben am Skamander erscheint als Gegenpol zur apokalyptischen Troja-Welt geleitet von einer Machtpolitik, die NachrĂŒstung und Menschenvernichtung befördert. Die untereinander ausgelebte SolidaritĂ€t und ZĂ€rtlichkeit kontrastieren mit den in Troja vorherrschenden Angst und Furcht. Auch wenn Christa Wolf eher Ernst Bloch nahesteht, sind strukturelle Ähnlichkeiten mit Walter Benjamins Geschichtsphilosophie nicht zu ĂŒbersehen. In ihrer Prosa zeigt Christa Wolf gesellschaftliche WidersprĂŒche auf und verbindet dies mit dem Anspruch, ihre Zeitgenossen aufzuklĂ€ren (Vgl. Schmiedjell 2003, 133). Dies geschieht durch die Rekonstruktion eines offenen GedĂ€chtnisses, in dem das bislang VerdrĂ€ngte und UnterdrĂŒckte zu Wort kommt. Die Kritik nimmt hier also die Form eines fiktiven Monologs an. Auf diese Weise setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Gesellschaft auseinander, an der sie auf produktive und kritische Weise teilnimmt.


Dissirama Waguena

Literaturverzeichnis

PrimÀrliteratur

  • Wolf, Christa: Kassandra. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008; zit. als K.
  • Wolf, Christa: Voraussetzungen einer ErzĂ€hlung: Kassandra. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008.


SekundÀrliteratur

  • Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.
  • Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe in 16 BĂ€nden (mit einem ErgĂ€nzungsband), Bd. 5. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1959, 554-1673.
  • Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, 1-44.
  • Cixous, HĂ©lĂšne: Entre l’écriture des femmes. Paris: Editions des femmes 1976.
  • Cixous, HĂ©lĂšne: Le rire de la mĂ©duse. Paris: Editions L’Arc 1975.
  • Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Leben - Werk - Wirkung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 28-125.
  • Korngiebel, Wilfried: Das historische Fundament der Sozialutopien. In: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: de Gruyter 2017, 36-175.
  • Matowski, Bernd: Christa Wolf, Kassandra. Hollfeld: Bange 2008, 21-93.
  • Nicolai, Rosemarie: Christa Wolf, Kassandra. MĂŒnchen: Oldenburg Wissenschaftsverlag 1989, 84.
  • Roesler, Christian: Das Archetypenkonzept C.G Jungs. Theorie, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Kohlhammer 2016, 66-74.
  • Schmidjell, Christine: Christa Wolf, Kassandra. ErlĂ€uterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 2003, 62-80.
  • SchĂŒtz, Rosalvo: Immanenz und Latenz der kleinen TagtrĂ€ume. In: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: de Gruyter 2017, 31-35
  • Servoise, Sylvie: Christa Wolf ou le dilemme de Cassandre. In: Agathe Salha/Anna Saignes (Hg.): De Big Brother Ă  Grand Inquisiteur. Arts, science et politique. Paris: Classiques Garnier 2013, 245-260.
  • Zimmermann, Rainer ED.: Hoffnung gegen den Tod. In: Ders. (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: de Gruyter 2017, 52-325.

Anmerkungen

  1. ↑ Besonders produktiv fĂŒr Christa Wolfs literarisches Werk war ihre im Sommer 1980 unternommene Griechenlandreise, die sie dazu brachte, sich intensiv mit der griechischen Mythologie zu beschĂ€ftigen.
  2. ↑ Die Schriftstellerin setzt die Schreibmethode um, fĂŒr die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre OriginalitĂ€t ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa. Essay, Tagebuch und ErzĂ€hlung werden zusammengefĂŒgt nach dem Schreibprinzip der ausgewogenen AuthentizitĂ€t. Sie lĂ€sst darĂŒber hinaus in ihren Text Erfahrungen einfließen, die sie wĂ€hrend des Schreibmoments macht.
  3. ↑ Das in den Voraussetzungen einer ErzĂ€hlung formulierte Kassandra-Projekt enthĂ€lt wichtige Impulse zur Umsetzung des »weiblichen Schreibens«. In diesem Buch reflektiert Christa Wolf deren befreiende Kraft und denkt das individuelle und gesellschaftliche Emanzipation zusammen, die aus ihrer Sicht nicht losgelöst voneinander bedacht werden können (Wolf 2008, 9-11).


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Waguena, Dissirama: "Kassandra" (Christa Wolf). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Kassandra%22_(Christa_Wolf).