Änderungen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 60: Zeile 60:  
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
 
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
   −
Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet sieht in Klappbrücke und Tür die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens (vgl. Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335 f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.
+
Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet bezeichnet die Klappbrücke und die Tür als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens (vgl. Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335 f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.
     
81

Bearbeitungen

Navigationsmenü