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==Die Stadt als Traum im Nouveau roman==
 
==Die Stadt als Traum im Nouveau roman==
Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den späten 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller Erzählformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenüberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor derjenige, der die Stadt am stärksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind Erzählungen eines Urbanen zwischen Realität und Imagination. Hinter der vermeintlich realen Oberfläche von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginären Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frühem Roman ''Les Gommes'' (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt. So wird der in Hong Kong spielende Roman ''La Maison de rendez-vous'' mit einem Traumbild eröffnet (vgl. Robbe-Grillet 1965, 11) und die in ''Projet pour une révolution à New York'' geschilderten, filmähnlich gestalteten Szenen scheinen dem Traumimaginären zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rêvé." (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt träumen – und werden zugleich selbst geträumt: „vous êtes rêvé" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen Stadterzählungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films ''L’Année dernière à Marienbad'') stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner Städte enthalten „Blindfelder" (vgl. Küchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In ''La Reprise'' legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von ''Les Gommes'', die Gesamtheit seiner imaginierten Städte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins übereinander (vgl. Calle-Gruber 2001, 616). Dabei ist nicht nur die Stadt ein Ort des Traums, sondern die gesamte Erzählung wird von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert.
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Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller Erzählformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenüberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor derjenige, der die Stadt am stärksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind Erzählungen eines Urbanen zwischen Realität und Imagination. Hinter der vermeintlich realen Oberfläche von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginären Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frühem Roman ''Les Gommes'' (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt. So wird der in Hong Kong spielende Roman ''La Maison de rendez-vous'' mit einem Traumbild eröffnet (vgl. Robbe-Grillet 1965, 11) und die in ''Projet pour une révolution à New York'' geschilderten, filmähnlich gestalteten Szenen scheinen dem Traumimaginären zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rêvé." (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt träumen – und werden zugleich selbst geträumt: „vous êtes rêvé" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen Stadterzählungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films ''L’Année dernière à Marienbad'') stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner Städte enthalten „Blindfelder" (vgl. Küchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In ''La Reprise'' legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von ''Les Gommes'', die Gesamtheit seiner imaginierten Städte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins übereinander (vgl. Calle-Gruber 2001, 616). Dabei ist nicht nur die Stadt ein Ort des Traums, sondern die gesamte Erzählung wird von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert.
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==Traumerfahrungen in ''La Reprise''==
 
==Traumerfahrungen in ''La Reprise''==
 
===Strategien unzuverlässigen Erzählens und Träumens===
 
===Strategien unzuverlässigen Erzählens und Träumens===
Angelehnt an die klassische Tragödie ist ''La Reprise'' unterteilt in einen Prolog, fünf Kapitel und einen Epilog. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der späten 1940er Jahre übernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollständig eingeweiht ist und in dem die Identitäten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgeführt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist.<ref>Zum Intertext Kafkas vgl. z.B. Groß 2008, 227.</ref> Zwischen dem so genannten Café des Alliés und dem Haus der Familie von Brücke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit Doppelgängern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide Fälle – die Robins Agentenmission und seine Identitätssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhält ihre Entsprechung in der Unzuverlässigkeit des Erzählers wie des Erzählens. Während bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen Erzähler hin- und herwechselt, unterläuft in den Fußnoten eine doppelgängerische Erzählinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob überhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklärt (vgl. Schneider 2005, 141). Die Doppelgängerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend für das Verwirrspiel der Identitäten in ''La Reprise'' (vgl. Burrichter 2003), sondern scheint sich auch über diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise für die narratologische Ausgestaltung von Träumen zu eignen (vgl. Solte-Gresser 2011, 255f.). Ebenso gehen Unzuverlässigkeit als Erzählstrategie und Traumhaftigkeit des Erzählens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (vgl. Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).
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Angelehnt an die klassische Tragödie ist ''La Reprise'' unterteilt in einen Prolog, fünf Kapitel und einen Epilog. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der späten 1940er Jahre übernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollständig eingeweiht ist und in dem die Identitäten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgeführt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist.<ref>Zum Intertext Kafkas vgl. z.B. Groß 2008, 227.</ref> Zwischen dem so genannten Café des Alliés und dem Haus der Familie von Brücke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit Doppelgängern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide Fälle – die Robins Agentenmission und seine Identitätssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhält ihre Entsprechung in der Unzuverlässigkeit des Erzählers wie des Erzählens. Während bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen Erzähler hin- und herwechselt, unterläuft in den Fußnoten eine doppelgängerische Erzählinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob überhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklärt (vgl. Schneider 2005, 141). Die Doppelgängerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend für das Verwirrspiel der Identitäten in ''La Reprise'' (vgl. Burrichter 2003), sondern scheint sich auch über diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise für die narratologische Ausgestaltung von Träumen zu eignen (vgl. Solte-Gresser 2011, 255 f.). Ebenso gehen Unzuverlässigkeit als Erzählstrategie und Traumhaftigkeit des Erzählens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (vgl. Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).
    
Der Prolog von ''La Reprise'' eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die Erzählung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:  
 
Der Prolog von ''La Reprise'' eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die Erzählung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:  
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: <span style="color: #7b879e;">Sous la bleuâtre lumière hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs étages dressaient vers le ciel uniformément gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. [...] Comme s’il s’agissait là d’une représentation surréelle (une sorte de trou dans l’espace normalisé), tout le tableau exerce sur l’esprit un incompréhensible pouvoir de fascination. (R 10)
 
: <span style="color: #7b879e;">Sous la bleuâtre lumière hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs étages dressaient vers le ciel uniformément gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. [...] Comme s’il s’agissait là d’une représentation surréelle (une sorte de trou dans l’espace normalisé), tout le tableau exerce sur l’esprit un incompréhensible pouvoir de fascination. (R 10)
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: <span style="color: #7b879e;">Unter dem bläulichen Winterlicht reckten mehrere Stockwerke hohe Mauerstücke ihre zerbrechlichen Spitzengebilde und ihre Albtraumstille in den eintönig grauen Himmel. [...] Als handelte es sich um eine surreale Darstellung (eine Art Loch im normierten Raum), übt das ganze Bild eine unbegreifliche Faszination auf den Geist aus. (W 9f.)</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Unter dem bläulichen Winterlicht reckten mehrere Stockwerke hohe Mauerstücke ihre zerbrechlichen Spitzengebilde und ihre Albtraumstille in den eintönig grauen Himmel. [...] Als handelte es sich um eine surreale Darstellung (eine Art Loch im normierten Raum), übt das ganze Bild eine unbegreifliche Faszination auf den Geist aus. (W 9 f.)</span>
 
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===Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie===
 
===Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie===
Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'' beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon Lecœur se réveilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar.“ (Robbe-Grillet 1981, 78) Der im Schlaf erfahrene Albtraum Lecœurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich über den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in ''Djinn'' angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in ''La Reprise'' ausgebaut und erscheint dort als Struktur bildendes Element: Jedes der fünf Kapitel, die scheinbar fünf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird, zutage: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darüber, ob die Figuren Dinge träumen oder in der Realität erleben (vgl. Goumegou 2011, 216f.). Lässt sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des Traumphänomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in ''La Reprise'' auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin geträumt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „[J]e m’endors aussitôt, d’un profond sommeil sans rêve.“ (R 42) Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nämlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „Première journée“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch früher situiert ist (vgl. Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende Doppelgänger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen, eine Variante der Traumerzählung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (vgl. Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel länger als angenommen geschlafen hat (vgl. R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, ähnlich wie Kreuzer das für Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als Realität identifizierbar ist (vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119). Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der Unzuverlässigkeit. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se réveille“ (R 70), „[...] se réveille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106), „HR se réveille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunächst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:  
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Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'' beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon Lecœur se réveilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar.“ (Robbe-Grillet 1981, 78) Der im Schlaf erfahrene Albtraum Lecœurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich über den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in ''Djinn'' angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in ''La Reprise'' ausgebaut und erscheint dort als Struktur bildendes Element: Jedes der fünf Kapitel, die scheinbar fünf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird, zutage: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darüber, ob die Figuren Dinge träumen oder in der Realität erleben (vgl. Goumegou 2011, 216 f.). Lässt sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des Traumphänomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in ''La Reprise'' auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin geträumt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „[J]e m’endors aussitôt, d’un profond sommeil sans rêve.“ (R 42) Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nämlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „Première journée“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch früher situiert ist (vgl. Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende Doppelgänger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen, eine Variante der Traumerzählung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (vgl. Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel länger als angenommen geschlafen hat (vgl. R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, ähnlich wie Kreuzer das für Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als Realität identifizierbar ist (vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119). Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der Unzuverlässigkeit. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se réveille“ (R 70), „[...] se réveille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106), „HR se réveille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunächst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:  
    
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Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
 
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
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Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet nennt die Klappbrücke gemeinsam mit der Tür als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens (vgl. Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.
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Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet bezeichnet die Klappbrücke und die Tür als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens (vgl. Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335 f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.
     
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