Alain Robbe-Grillet (1922-2008), einer der bedeutendsten Vertreter des Nouveau roman, veröffentlicht 2001 mit La Reprise einen letzten Roman, dessen Titel programmatisch als Wiederaufnahme und Abschluss seines Gesamtwerks lesbar ist. Innerhalb der von Fragmentarisierung und Unzuverlässigkeit des Erzählens geprägten Anlage des Romans fällt dem Traum als Strategie der Destabilisierung eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung von Robbe-Grillets Stadtdiskurs zu.


Die Stadt als Traum im Nouveau roman

Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller Erzählformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenüberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor (1926-2016) derjenige, der die Stadt am stärksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind Erzählungen eines Urbanen zwischen Realität und Imagination. Hinter der vermeintlich realen Oberfläche von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginären Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frühem Roman Les Gommes (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt.[1] So wird der in Hong Kong spielende Roman La Maison de rendez-vous (1965) mit einem Traumbild eröffnet (Robbe-Grillet 1965, 11) und die in Projet pour une révolution à New York (1970) geschilderten, filmähnlich gestalteten Szenen scheinen dem Traumimaginären zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rêvé" (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt träumen – und werden zugleich selbst geträumt: „vous êtes rêvé" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen Stadterzählungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films L’Année dernière à Marienbad) stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner Städte enthalten „Blindfelder" (vgl. Küchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In La Reprise legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Les Gommes, die Gesamtheit seiner imaginierten Städte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins übereinander (Calle-Gruber 2001, 616). Die Spezifik dieses Bildes im Spannungsfeld von realer Stadtoberfläche, intertextuellen Verweisen auf andere Stadtdarstellungen Robbe-Grillets und Imagination des Urbanen kommt insbesondere dadurch zustande, dass die gesamte Erzählung wird von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert wird.


Traumerfahrungen in La Reprise

Strategien unzuverlässigen Erzählens und Träumens

Angelehnt an die klassische Tragödie ist La Reprise unterteilt in einen Prolog, fünf Kapitel und einen Epilog. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der späten 1940er Jahre übernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollständig eingeweiht ist und in dem die Identitäten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgeführt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist.[2] Zwischen dem so genannten Café des Alliés und dem Haus der Familie von Brücke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit Doppelgängern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide Fälle – Robins Agentenmission und seine Identitätssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhält ihre Entsprechung in der Unzuverlässigkeit des Erzählers wie des Erzählens. Während bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen Erzähler hin- und herwechselt, unterläuft in den Fußnoten eine doppelgängerische Erzählinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob überhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklärt (Schneider 2005, 141). Die Doppelgängerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend für das Verwirrspiel der Identitäten in La Reprise (Burrichter 2003), sondern scheint sich auch über diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise für die narratologische Ausgestaltung von Träumen zu eignen (Solte-Gresser 2011, 255 f.). Ebenso gehen Unzuverlässigkeit als Erzählstrategie und Traumhaftigkeit des Erzählens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).

Der Prolog von La Reprise eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die Erzählung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:

Sous la bleuâtre lumière hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs étages dressaient vers le ciel uniformément gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. [...] Comme s’il s’agissait là d’une représentation surréelle (une sorte de trou dans l’espace normalisé), tout le tableau exerce sur l’esprit un incompréhensible pouvoir de fascination (R 10).
Unter dem bläulichen Winterlicht reckten mehrere Stockwerke hohe Mauerstücke ihre zerbrechlichen Spitzengebilde und ihre Albtraumstille in den eintönig grauen Himmel. [...] Als handelte es sich um eine surreale Darstellung (eine Art Loch im normierten Raum), übt das ganze Bild eine unbegreifliche Faszination auf den Geist aus (W 9 f.).

Die Eindrücke von Robins „rêveuses spéculations“ (R 11) entspringen keinem markierten Traum. Stattdessen stehen die gesamte Wahrnehmung der Figur und mit ihr das daraus hervorgehende Erzählen in seiner Unzuverlässigkeit vom Prolog an unter den Vorzeichen eines oneirischen Erlebens. Es steht im Dienst einer Poetik der Sinnverschiebung, die sich nicht nur in La Reprise als zentral für Robbe-Grillets Werk erweist. Die Auflösung der Grenze von Wirklichkeit und Traum bzw. Imagination, die den späten Roman von Beginn an prägt, führt ins Zentrum von Robbe-Grillets Vorstellung von Literatur: „L’œuvre moderne, au contraire, se présente comme un espace non balisé, traversé dans des directions diverses par des sens multiples et changeants; et, dans cette circulation du sens à travers l’œuvre, le sens lui-même est moins important que le fait qu’il circule, glisse, se modifie“ (Fano 1976, 176). Der Sinn und die Logik der Erzählung sollen nicht eindeutig festgelegt sein, sondern sich aus der Bewegung und der beständigen Verschiebung immer anders konstituieren (Steurer 2016, 366). Indem in La Reprise über weite Teile des Romans nicht sicher bestimmt werden kann, ob gerade geträumt oder im Wachzustand gehandelt wird, erhält diese Sinnverschiebung eine besondere Form der Anschauung. Der Prozess des Träumens tritt dabei immer wieder in Beziehung zu anderen Modi der Erfahrung.


Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie

Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon Lecœur se réveilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar“ (Robbe-Grillet 1981, 78). Der im Schlaf erfahrene Albtraum Lecœurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich über den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in Djinn angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in La Reprise ausgebaut und erscheint dort als strukturbildendes Element: Jedes der fünf Kapitel, die scheinbar fünf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka zutage, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darüber, ob die Figuren Dinge träumen oder in der Realität erleben (Goumegou 2011, 216 f.). Lässt sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des Traumphänomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in La Reprise auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin geträumt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „je m’endors aussitôt, d’un profond sommeil sans rêve“ (R 42). Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nämlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „Première journée“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch früher situiert ist (Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende Doppelgänger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen - eine Variante der Traumerzählung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel länger als angenommen geschlafen hat (vgl. R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, ähnlich wie Kreuzer das für Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als Realität identifizierbar ist.[3] Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der Unzuverlässigkeit und der Lückenhaftigkeit. Die Textästhetik von Robbe-Grillets Gesamtwerk beruht in besonderem Maße auf dem Spiel mit – teilweise auch typographisch sichtbaren – Leerstellen. Als Orte der Uneindeutigkeit sind sie wesentliche Bestandteile seiner „circulation du sens“. Auch die Leerstellen, die daraus entstehen, dass der Ort von Schlafen und Wachen ebenso unbestimmbar ist wie der Realitäts- oder Traumbezug des Erlebten, fungieren als Indizien und Gestaltungsmomente dieser Sinnverschiebung. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se réveille“ (R 70); „se réveille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106); „HR se réveille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunächst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:

en effet, [...] les événements en chapelet de la nuit lui laissent une désagréable impression d’incohérence, à la fois causale et chronologique, une succession d’épisodes qui paraissent sans autres liens que de contiguïté (ce qui empêche de leur assigner une place définitive), dont certains se colorent d’une reposante douceur sensuelle, tandis que d’autres relèveraient plutôt du cauchemar, sinon de la fièvre hallucinatoire aiguë (R 157).
In der Tat [...] hinterläßt die Kette der nächtlichen Ereignisse bei ihm einen unangenehmen Eindruck von zugleich kausaler und chronologischer Zusammenhanglosigkeit; die Episoden scheint nichts zu verbinden, außer daß sie aufeinanderfolgen (was verhindert, daß man ihnen einen endgültigen Platz zuweisen kann), und manche sind von einer wohltuenden sinnlichen Sanftheit gekennzeichnet, während andere eher dem Albtraum, wenn nicht dem Fieberwahn entstammen (W 149).

Die Inkohärenz der Traumwelt, in der die Einzelsequenzen in keiner abschließenden logischen Beziehung zueinander stehen, beschreibt die Struktur des Romans selbst als Spiel mit der Unzuverlässigkeit von Erzähler und Erzählung sowie der Chronologie der Ereignisse (Schneider 2005, 149; Steurer 2021, 326). Der Roman erhält auf diese Art Züge einer (alb-)traumhaften Erfahrungswelt, die Robin, wie das Lesepublikum, in einem „brouillard onirique" (R 172) zurücklässt. Die Szenen des (vermeintlichen) Erwachens sind dabei nicht nur als Träume interpretierbar, sondern werden am fünften Tag selbst zu Trauminhalten: „HR rêve qu’il se réveille en sursaut dans la chambre sans fenêtre des anciens enfants von Brücke“ (R 195). Erst ein zweites Erwachen führt, zumindest scheinbar, in die Realität zurück: „Je me suis alors réveillé pour de bon, mais dans la chambre numéro 3, à l’hôtel des Alliés“ (R 196).


Geträumte Erinnerung, erinnerte Träume

Henri Robins Reise nach Berlin führt ihn in die eigene Vergangenheit. Noch im Zug taucht ein erstes Erinnerungsbild auf („Le souvenir d’enfance est alors revenu dans toute son intensité“, R 19), das aber kurz darauf als „souvenir d’enfance égaré“ (R 28) bezeichnet wird. Immer wieder erscheinen dem Agenten Fragmente eines Kindheitsaufenthaltes in Berlin, bei dem er mit seiner Mutter einem Verwandten auf der Spur ist. Inwiefern die Erinnerungen tatsächlich erlebten Ereignissen zugeordnet werden können oder einer Traumwelt angehören, lässt sich nicht endgültig bestimmen. Stattdessen schreiben sich die Ereignisse in die Inkohärenz der zeitlich-logischen Erfahrung des Romans ein. Da die Erinnerungen bruchstückhaft bleiben, schafft der Agent es nicht, ganze Episoden zu rekonstruieren und die „lumineuse évidence du déjà-vu“ (R 58) in greifbare Bilder zu überführen. Darüber hinaus vermischen sich die Erinnerungen mit dem Inhalt von Robins markierten Träumen:

Au cours de son sommeil (et donc dans une temporalité différente), l’un de ses cauchemars les plus fréquents s’est déroulé une fois enore, de façon correcte, sans le réveiller: le petit Henri devait être âgé, tout au plus, d’une dizaine d’années. Il lui a fallu demander au répétiteur l’autorisation de quitter la salle d’étude pour assouvir un menu besoin urgent. Il erre maintenant à travers les cours de récréation abandonnées, il longe des préaux à arcades et d’interminables couloirs déserts, il monte des escaliers, débouche sur d’autres couloirs, ouvre inutilement de multiples portes. Personne, nulle part, n’est là pour le renseigner, et il ne retrouve aucun des endroits propices disséminés dans la gigantesque école (est-ce le lycée Buffon?). Il pénètre à la fin, par hasard, dans sa propre salle de classe et il constate aussitôt que sa place habituelle, d’ailleurs prescrite et qu’il vient de quitter quelques instants plus tôt (de longs instants?), est à présent occupée par un autre garçon du même âge, un nouveau sans doute car il ne le reconnaît pas. Mais, en l’observant avec plus d’attention, le jeune Henri s’aperçoit que l’autre lui ressemble beaucoup, sans que cela l’étonne outre mesure. Les visages de ses camarades se tournent l’un après l’autre vers la porte, pour considérer avec une évidente désapprobation l’intrus qui est demeuré sur le seuil, ne sachant plus où aller: il n’y a pas un banc de libre dans toute l’étude... Seul l’usurpateur reste penché sur son pupitre, où il poursuit avec application la rédaction de sa composition française, d’une très petite écriture, fine et réguliére, sans une rature (R 68 f.).
Während seines Schlafs (und also in einer anderen Zeitlichkeit) lief wieder einmal einer seiner häufigsten Alpträume ab, auf korrekte Art, ohne ihn zu wecken: der kleine Henri war wohl allerhöchstens zehn Jahre alt. Er mußte den Aufseher um Erlaubnis bitten, den Arbeitsraum verlassen zu dürfen, um ein dringendes kleines Geschäft zu verrichten. Er irrt jetzt durch die verlassenen Schulhöfe, entlang an überdachten Pausenhallen mit Arkaden und durch endlose leere Flure, geht Treppen hinauf, stößt auf andere Flure, öffnet sinnlos zahlreiche Türen. Nirgendwo ist jemand, um ihm Auskunft zu geben, und er findet keines der in der riesigen Schule (ist es das Lycée Buffon?) verstreuten Örtchen. Am Ende kommt er zufällig in sein eigenes Klassenzimmer und stellt sogleich fest, daß sein gewohnter, ihm übrigens zugewiesener Platz, den er eine Weile zuvor (eine lange Weile?) verlassen hat, jetzt von einem Jungen im gleichen Alter besetzt ist, wahrscheinlich einem Neuen, denn er erkennt ihn nicht. Als er ihn aber aufmerksamer betrachtet, merkt der junge Henri, ohne daß ihn das übermäßig erstaunt, daß der andere ihm sehr ähnlich sieht. Die Gesichter seiner Kameraden wenden sich nacheinander zur Tür, um mit offensichtlicher Mißbilligung den Eindringling zu mustern, der auf der Schwelle stehengeblieben ist und nicht mehr weiß, wohin er gehen soll: im ganzen Arbeitsraum ist keine Bank frei... Nur der Usurpator bleibt über sein Pult gebeugt, wo er eifrig an seinem französischen Aufsatz weiterschreibt, mit einer sehr kleinen, feinen und regelmäßigen Schrift ohne Verbesserungen (W 65 f.).

Robin träumt einen wiederkehrenden „rêve récurrent des cabinets introuvables“ (R 71), in dem sein kindliches Ich verzweifelt nach den Toilettenräumen sucht. Destabilisierung, die auch das (scheinbare) Wacherleben des Agenten prägt, wird in den Trauminhalt überführt: Seine Suche wird als Irrfahrt bezeichnet, er weiß nicht, wie lange er überhaupt den Arbeitsraum verlassen hat, und sieht sich bei der Rückkehr einer weiteren Doppelgängerfigur gegenübergestellt. Auch die akkurate Schrift des Doppelgängers ist eine Anspielung auf Robin selbst, der als Erwachsener den Bericht seiner eigenen Mission in einer „petite écriture fine, et sans rature“ (R 31) festhält. Indem der Schlaf als „andere[n] Zeitlichkeit“ bezeichnet wird, erhält im Traum die Vergangenheit eine oneirische Dimension. Gleichzeitig wird der Traumbericht als Erzählform dadurch unterlaufen, dass auf ihn nicht unmittelbar eine Szene des Erwachens folgt. Stattdessen schließt sich eine Fußnote an, in der die zweite Erzählstimme den Traumbericht als „prétexte assez artificiel d’un récit de rêve“ (R 69) zu entlarven versucht. Der Traum, so wird hier suggeriert, sei eine bloße Erfindung Robins. Das Tempus schreibt den Traumbericht zugleich in die Uneindeutigkeit der Zuordnung zu einer der beiden Welten ein: Nur der Beginn des Berichts ist im Imparfait bzw. Passé composé verfasst, während alle folgenden Ereignisse im Präsens wiedergegeben und in einem unbestimmten „maintenant“ situiert werden. In der Simultaneität der möglichen Lesarten – Bericht seines tatsächlichen Traumes, absichtsvoll erfundener Traumbericht, Erinnerung an die Kindheit, verfremdetes Erleben des erwachsenen Agenten in Berlin – trägt auch der berichtete Traum zur „circulation du sens“ bei. Dazu passt ebenso, dass der Agent vermeintliche Erinnerungsbilder an einer anderen Stelle als Traumreste, „résidus flottants d’un morceau de rêve“ (R 115) identifiziert. Sowohl in ihrer Fragmentstruktur als auch in der Ziellosigkeit der Bewegung spiegeln die „herumschwebende[n] Überbleibsel eines Traumabschnitts“ (R 110), so die deutsche Übersetzung, die Orientierungslosigkeit Robins wie die labyrinthische Anlage des Romans wider und stellen den Gesamttext unter das Vorzeichen einer geträumten Erfahrung.


Das Material der Träume

Robbe-Grillets u.a. von Roland Barthes beschriebene Objektästhetik (Barthes 1978) und seine Faszination für Materialitätsfragen schlagen sich in auch innerhalb des Traumdiskurses in La Reprise nieder. Ein wiederkehrendes Objekt, das keinem Handlungsstrang bzw. keiner Figur konkret zugeordnet werden kann, ist ein eleganter Damenschuh. Als „chaussure de bal à haut talon“ (R 75) oder „fin soulier noir à haut talon“ (R 119) taucht er an diversen Stellen des Romans auf (vgl. auch R 112, 159, 187, 190, 194, 195, 208), insbesondere in den an Träume grenzenden Erinnerungen. Darüber hinaus ist er vor allem in den Szenen präsent, in denen die Vergewaltigung des Mädchens Gigi geschildert wird – ob diese Darstellungen der fiktionalen Realität angehören oder Fantasien bzw. Träume Robins sind, bleibt in der Schwebe. Auf Gigi verweist zudem die „poupée martyrisée sort[ie] tout droit d’un rêve d’enfant“ (R 210) als aus einem Traum stammendes Objekt.

Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicherweise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur“ (R 71). Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.

Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.[4] Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (R 55). Sie zitiert den Intertext von Les Gommes und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.[5] Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints, sondern weisen darüber hinaus zurück auf Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (Steurer 2021, 335 f.): Im letzten Band des Romans bleibt Marcel im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164). Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, die die Handlung von La Reprise in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedeln.



Literatur

Ausgaben

  • Robbe-Grillet, Alain: La Reprise. Paris: Minuit 2001 (zitiert als R).
  • Robbe-Grillet, Alain: Die Wiederholung. Übers. von Andrea Spingler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (zitiert als W).


Bezugstexte

  • Robbe-Grillet, Alain: Les Gommes. Paris: Minuit 1953.
  • Robbe-Grillet, Alain: La Maison de rendez-vous. Paris: Minuit 1965.
  • Robbe-Grillet, Alain: Projet pour une révolution à New York. Paris: Minuit 1970.
  • Robbe-Grillet, Alain: Djinn. Un trou rougé entre les pavés disjoints. Paris: Minuit 1981.
  • Proust, Marcel: Le Temps retrouvé. In: Ders.: À la recherche du temps perdu. Hg. von Jean-Yves Tadié. Paris: Gallimard 1987-1989. Bd. 4, 1989, 273-625.


Forschungsliteratur

  • Barthes, Roland: Littérature objective. In: Obliques 16-17 (1978), 69-73.
  • Burrichter, Brigitte: Der deutsche Zwilling. Doppelgänger und Zwillinge in Alain Robbe-Grillets Roman La Reprise. In: Poetica 35 (2003), 213-229.
  • Calle-Gruber, Mireille: Alain Robbe-Grillet ou la reprise en avant. In: Critique 649/650 (2001), 605-618.
  • Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: Kulturpoetik 10 (2010), 153-176.
  • Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
  • Fano, Michel: IV. L’ordre musical chez Alain Robbe-Grillet. Le discours sonore dans ses films. In: Jean Ricardou (Hg.): Robbe-Grillet. Colloque de Cerisy. Paris: Union Générale d’Éditions 1976. Bd. 1, 173-186.
  • Goumegou, Susanne: Surrealistisch oder kafkaesk? Zur Traumpoetik Roger Caillois’ und dem Problem literarischer Traumhaftigkeit im 20. Jahrhundert. In: Dies./Marie Guthmüller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 195-225.
  • Groß, Nathalie: Autopoiesis. Theorie und Praxis autobiographischen Schreibens bei Alain Robbe-Grillet. Berlin: Schmidt 2008.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Küchler, Kerstin: „Blindfelder“ – Stadtlektüren bei Robbe-Grillet. In: Volker Roloff/Scarlett Winter/Christian von Tschilschke (Hg.): Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust. Tübingen: Stauffenburg 2011, 161-172.
  • Oster, Patricia: Rêver la ville: „Fourmillante cité. Cité pleine de rêves“ (Baudelaire – Rimbaud – Calvino – Nolan). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.), Typologizing the Dream/Le rêve du point de vue typologique. Würzburg: Königshausen & Neumann 2022 (Cultural Dream Studies 5), 565–582.
  • Porter, Laurence M.: The Dream. Framing and Function in French Literature. In: Tom Conner (Hg.): Dreams in French Literature. The Persistent Voice. Amsterdam: Rodopi 1995, 105-122.
  • Robbe-Grillet, Alain: Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi. In: Michel Contat (Hg.): L’auteur et le manuscrit. Paris: Presses universitaires de France 1991, 37-50.
  • Schneider, Ulrike: Die Figur des ,untoten Autors‘. Alain Robbe-Grillet und die Reprise des Nouveau Roman. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 115 (2005) 2, 126-152.
  • Solte-Gresser, Christiane: „Alptraum mit Aufschub“. Ansätze zur Analyse literarischer Traumerzählungen. In: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 239-262.
  • Steurer, Hannah: „Circulation du sens am pont tournant“. Die Brücke als Denkfigur bei Alain Robbe-Grillet. In: Julia Lichtenthal/Sabine Narr-Leute/Hannah Steurer (Hg.): Le Pont des Arts. Festschrift für Patricia Oster zum 60. Geburtstag. Paderborn: Fink 2016, 365-384.
  • Steurer, Hannah: Tableaux de Berlin. Französische Blicke auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2021 (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 58).
  • Steurer, Hannah: Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet. In: Giulia Lombardi/Simona Oberto/Paul Strohmaier (Hg.): Rekonstruktion, Imagination, Gedächtnis. Ästhetik und Poetik der Ruinen. Berlin: de Gruyter 2022, 335-357.

Anmerkungen

  1. Zum Zusammenhang von Stadt und Traum vgl. auch Oster 2022.
  2. Zum Intertext Kafkas vgl. z.B. Groß 2008, 227.
  3. Vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119.
  4. Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.
  5. Robbe-Grillet bezeichnet die Klappbrücke und die Tür als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens, das auf der unaufhörlichen Verschiebung des Sinns beruht: „La porte, le pont tournant, ce sont peut-être des objets qui ne sont pas là par hasard, mais parce qu’ils sont essentiels dans cette fonction de circulation du sens qui m’aurait obsédé depuis mon plus jeune âge“ (Robbe-Grillet 1991, 41).


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Steurer, Hannah: "La Reprise" (Alain Robbe-Grillet). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22La_Reprise%22_(Alain_Robbe-Grillet).