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Die 1943 verfasste und 1944 publizierte Erzählung von Vercors gilt als eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager (Dufiet 1999, 115). Die Schreckensvision von umherirrenden, durch Folter und Hunger entstellten KZ-Häftlingen wird vom Erzähler explizit als Wiedergabe eines nächtlichen Traums deklariert. Gerahmt wird er durch eine Reflexion über die Funktion des Traums für das kollektive Gedächtnis und seine Bedeutung für die Vermittlung einer Wirklichkeit, die sich der realistischen Darstellung entzieht.
 
Die 1943 verfasste und 1944 publizierte Erzählung von Vercors gilt als eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager (Dufiet 1999, 115). Die Schreckensvision von umherirrenden, durch Folter und Hunger entstellten KZ-Häftlingen wird vom Erzähler explizit als Wiedergabe eines nächtlichen Traums deklariert. Gerahmt wird er durch eine Reflexion über die Funktion des Traums für das kollektive Gedächtnis und seine Bedeutung für die Vermittlung einer Wirklichkeit, die sich der realistischen Darstellung entzieht.
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==Der Traum==
 
==Der Traum==
   
===Beschreibung===
 
===Beschreibung===
In seinem knapp sechsseitigen Traumbericht schildert das erzählende Ich, wie es im dichten Nebel, mühsam gegen unsichtbare Widerstände ankämpfend und angsterfüllt durch eine sumpfige, übel riechende, geisterhafte Landschaft irrt. An den eigenen Schritten erkennt der Träumer, dass er sich im Kreis bewegt haben muss, bevor er auf unzählige weitere Fußspuren trifft. Bruchstückhaft erinnert er sich daran, einen Fluss durchquert und dabei zwei schwarze Schwäne aufgeschreckt zu haben, als er unvermittelt feststellt, nicht mehr allein durch dieses Unterwelt-Szenarios zu gehen: Ein undeutlich wahrnehmbarer, ihm jedoch bekannt vorkommender Mann, mit dem er offensichtlich zahlreiche Erinnerungen teilt, läuft neben ihm her, lächelt ihn an und versucht, Kontakt aufzunehmen. Doch die Kommunikation scheitert daran, dass das Gegenüber eine verbrannte, zerfetzte Zunge hat, die sich in seinem Mund „wie eine schwarze, gekochte Schnecke“ zusammenzieht und das Sprechen verhindert (Vercors 2002, 181). Während der Erzähler erschrocken zurückweicht, nimmt er weitere Gestalten wahr, die nicht minder entstellt sind: Abgemagert, verstümmelt und monströs verzerrt, bewegen sie sich gespensterhaft durch die Landschaft. Im erzählenden Ich, das mit ihnen marschiert, ruft ihr grotesker Anblick gleichermaßen Abscheu wie Faszination hervor. Als sich der Nebel lichtet, nimmt der Erzähler in der Ferne die Umrisse eines Gebäudekomplexes wahr, in dessen Mitte ein rauchender Schornstein emporragt. Endlose Menschenschlangen bewegen sich darauf zu. Auf diejenigen, die zusammenbrechen und im Sumpf liegenbleiben, prügeln schwarz gekleidete Männer mit Knüppeln ein. Auch die Toten werden, so beobachtet der Träumer, weiterhin malträtiert oder wie leblose Dinge gleichgültig beiseite geschoben. Seinen Höhepunkt erreicht der Bericht, als das Ich selbst in körperlichen Kontakt mit einem Glied aus den Reihen des Todesmarsches gerät: Er tritt auf eine Hand, die sich wie eine weiche Krake anfühlt, während der Sterbende seinen leeren Blick auf ihn richtet.
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In seinem knapp sechsseitigen Traumbericht schildert das erzählende Ich, wie es im dichten Nebel, mühsam gegen unsichtbare Widerstände ankämpfend und angsterfüllt durch eine sumpfige, übel riechende, geisterhafte Landschaft irrt. An den eigenen Schritten erkennt der Träumer, dass er sich im Kreis bewegt haben muss, bevor er auf unzählige weitere Fußspuren trifft. Bruchstückhaft erinnert er sich daran, einen Fluss durchquert und dabei zwei schwarze Schwäne aufgeschreckt zu haben, als er unvermittelt feststellt, nicht mehr allein durch dieses Unterwelt-Szenario zu gehen: Ein undeutlich wahrnehmbarer, ihm jedoch bekannt vorkommender Mann, mit dem er offensichtlich zahlreiche Erinnerungen teilt, läuft neben ihm her, lächelt ihn an und versucht, Kontakt aufzunehmen. Doch die Kommunikation scheitert daran, dass das Gegenüber eine verbrannte, zerfetzte Zunge hat, die sich in seinem Mund „wie eine schwarze, gekochte Schnecke“ zusammenzieht und das Sprechen verhindert (Vercors 2002, 181). Während der Erzähler erschrocken zurückweicht, nimmt er weitere Gestalten wahr, die nicht minder entstellt sind: Abgemagert, verstümmelt und monströs verzerrt, bewegen sie sich gespensterhaft durch die Landschaft. Im erzählenden Ich, das mit ihnen marschiert, ruft ihr grotesker Anblick gleichermaßen Abscheu wie Faszination hervor. Als sich der Nebel lichtet, nimmt der Erzähler in der Ferne die Umrisse eines Gebäudekomplexes wahr, in dessen Mitte ein rauchender Schornstein emporragt. Endlose Menschenschlangen bewegen sich darauf zu. Auf diejenigen, die zusammenbrechen und im Sumpf liegenbleiben, prügeln schwarz gekleidete Männer mit Knüppeln ein. Auch die Toten werden, so beobachtet der Träumer, weiterhin malträtiert oder wie leblose Dinge gleichgültig beiseite geschoben. Seinen Höhepunkt erreicht der Bericht, als das Ich selbst in körperlichen Kontakt mit einem Glied aus den Reihen des Todesmarsches gerät: Er tritt auf eine Hand, die sich wie eine weiche Krake anfühlt, während der Sterbende seinen leeren Blick auf ihn richtet.
    
Hier wird die Traumerzählung für einen Moment unterbrochen. Der Erzähler fügt ein, er müsse noch mehr gesehen haben, was seiner Erinnerung entfallen sei, bevor er einen schockartigen Erkenntnisprozess wiedergibt, den er innerhalb des Traumes durchläuft: Beim Überholen der deformierten, dahinsiechenden Gestalten erinnert er sich an die einem Toten in die Haut tätowierte Nummer. Bevor er noch errechnet hat, dass die Anzahl an Menschen keinesfalls Platz in den symmetrisch aufgereihten Baracken finden kann, wird ihm schlagartig die Bedeutung des Kamins auf dem Gelände klar. Zugleich nimmt er den Verwesungsgeruch und den aschefarbenen Rauch wahr, die von ihm ausgehen. Der Schrecken, der den Träumer durchfährt, ist so groß, dass die Wahrnehmung erneut nebelhaft getrübt wird und das Erinnerungsvermögen zusammenbricht. Fortgeführt wird der Bericht durch vereinzelte Bilder, „des ilôts de souvenir deserts“ (Vercors 2002, 185), die nun aus größerer Distanz wiedergegeben und von erklärenden Reflexionen begleitet werden: ein schluchzendes Kind, dessen Haar von Ungeziefer befallen ist, und der fest auf den Träumer gerichtete Blick jenes lächelnden Mannes, der ihm bereits zu Beginn des Traumes erschienen war. Dieser sendet ihm sterbend mit seinem Lächeln ein letztes brüderliches Zeichen („un signe fraternel“, Vercors 2002, 186), das er mit der Hoffnung verbindet, nicht vergessen zu werden.
 
Hier wird die Traumerzählung für einen Moment unterbrochen. Der Erzähler fügt ein, er müsse noch mehr gesehen haben, was seiner Erinnerung entfallen sei, bevor er einen schockartigen Erkenntnisprozess wiedergibt, den er innerhalb des Traumes durchläuft: Beim Überholen der deformierten, dahinsiechenden Gestalten erinnert er sich an die einem Toten in die Haut tätowierte Nummer. Bevor er noch errechnet hat, dass die Anzahl an Menschen keinesfalls Platz in den symmetrisch aufgereihten Baracken finden kann, wird ihm schlagartig die Bedeutung des Kamins auf dem Gelände klar. Zugleich nimmt er den Verwesungsgeruch und den aschefarbenen Rauch wahr, die von ihm ausgehen. Der Schrecken, der den Träumer durchfährt, ist so groß, dass die Wahrnehmung erneut nebelhaft getrübt wird und das Erinnerungsvermögen zusammenbricht. Fortgeführt wird der Bericht durch vereinzelte Bilder, „des ilôts de souvenir deserts“ (Vercors 2002, 185), die nun aus größerer Distanz wiedergegeben und von erklärenden Reflexionen begleitet werden: ein schluchzendes Kind, dessen Haar von Ungeziefer befallen ist, und der fest auf den Träumer gerichtete Blick jenes lächelnden Mannes, der ihm bereits zu Beginn des Traumes erschienen war. Dieser sendet ihm sterbend mit seinem Lächeln ein letztes brüderliches Zeichen („un signe fraternel“, Vercors 2002, 186), das er mit der Hoffnung verbindet, nicht vergessen zu werden.
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Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben diese Figur, die die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, denkt am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – über all diejenigen nach, die sich nach wie vor unbeirrt und selbstverständlich außerhalb des Traums bewegen: Das gefolterte Ich wendet sich im letzten Absatz in seiner Agonie an die Leser, die der Erzähler zu Beginn des Textes angesprochen hatte. Seine Gewissheit, dass diese sich nicht vor dem Grauen verschließen werden, sondern von der Existenz der Leidenden wissen, dass sie an die Gequälten denken (wobei die französische Formulierung „songer“ ebenso gut meinen könnte, dass sie von ihnen träumen) und ihnen ab und zu „ein Schärflein Sorge“ („l’obole d’un souci“, Vercors 2002, 186) zukommen lassen, entlockt ihm ein Lächeln. Mit dieser verzweifelten Wendung der Deportierten an ein kollektives „nous“ erklärt der letzte Satz also rückwirkend auch das rätselhafte Lächeln der Figuren im Traum.
 
Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben diese Figur, die die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, denkt am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – über all diejenigen nach, die sich nach wie vor unbeirrt und selbstverständlich außerhalb des Traums bewegen: Das gefolterte Ich wendet sich im letzten Absatz in seiner Agonie an die Leser, die der Erzähler zu Beginn des Textes angesprochen hatte. Seine Gewissheit, dass diese sich nicht vor dem Grauen verschließen werden, sondern von der Existenz der Leidenden wissen, dass sie an die Gequälten denken (wobei die französische Formulierung „songer“ ebenso gut meinen könnte, dass sie von ihnen träumen) und ihnen ab und zu „ein Schärflein Sorge“ („l’obole d’un souci“, Vercors 2002, 186) zukommen lassen, entlockt ihm ein Lächeln. Mit dieser verzweifelten Wendung der Deportierten an ein kollektives „nous“ erklärt der letzte Satz also rückwirkend auch das rätselhafte Lächeln der Figuren im Traum.
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Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenz (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).
 
Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenz (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).
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SG
 
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==Literatur==
 
==Literatur==
   
(Illegal gedruckte) Erstausgaben:
 
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