"Le Songe" (Vercors, d.i. Jean Bruller): Unterschied zwischen den Versionen

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===Analyse und Interpretation===
===Analyse und Interpretation===
Nicht nur die Rahmung des Traums, auch der Traumbericht selbst weist zahlreiche konventionelle Verfahren der Traumdarstellung auf: Die Wahrnehmung des Träumenden ist getrübt, es vollziehen sich unerklärliche Sprünge, Erkenntnisse blitzen schockartig auf, Unvorstellbares und Unbegreifliches werden instinktiv gewusst, unterschiedliche Zeitebenen fallen zusammen, Identitäten verschwimmen oder überlagern sich. Besonders ausgeprägt ist der Eindruck grotesker Verzerrung und monströser Körperlichkeit der Traumgestalten. Ohne Kenntnis der historischen Fakten müssen sie dem Leser wie eine karikaturhafte Überzeichnung des Geschehens erscheinen. Ein besonderes Augenmerk wird innerhalb des Berichtes jedoch auf die sinnliche Wahrnehmung des Träumenden gelegt, womit der Eindruck unrealistischer Zuspitzung relativiert wird: In allen Einzelheiten werden die visuellen, akustischen, olfaktorischen und haptischen Eindrücke des träumenden Ich beschrieben. Oftmals handelt es sich um synästhetische Wahrnehmungen: die Schreie werden als rot, die Seufzer als bleich bezeichnet (Vercors 2002, 182), in der Luft hängen zerrissene Stoffschleier aus Gaze oder Damast, die den Träumer am Vorwärtskommen hindern (Vercors 2002, 180). Den größten Raum nehmen die geradezu naturalistisch verfahrenden körperlichen Beschreibungen der Geschundenen ein, deren Grad der Entstellung und Entmenschlichung sich an den Grenzen des Erträglichen bewegt. Die Ambivalenzen von Faszination und Abscheu, Faktizität und Unvorstellbarem können als weitere Kennzeichen einer typischen Traumdarstellung gelten. Einzig aus der Perspektive des (heutigen) Leserwissens, etwa über das Phänomen des ‚Muselmanns’ im Lager (Frankl 1982, Agamben 1998), lässt sich erkennen, dass es sich bei der Beschreibung der KZ-Häftlinge als wandelnde Skelette kaum um eine Übertreibung handelt (Körte 2006).
Nicht nur die Rahmung des Traums, auch der Traumbericht selbst weist zahlreiche konventionelle Verfahren der Traumdarstellung auf: Die Wahrnehmung des Träumenden ist getrübt, es vollziehen sich unerklärliche Sprünge, Erkenntnisse blitzen schockartig auf, Unvorstellbares und Unbegreifliches werden instinktiv gewusst, unterschiedliche Zeitebenen fallen zusammen, Identitäten verschwimmen oder überlagern sich. Besonders ausgeprägt sind die groteske Verzerrung und monströse Körperlichkeit der Traumgestalten. Ohne Kenntnis der historischen Fakten müssen sie dem Leser wie eine karikaturhafte Überzeichnung des Geschehens erscheinen. Ein besonderes Augenmerk wird innerhalb des Berichtes jedoch auf die sinnliche Wahrnehmung des Träumenden gelegt, womit der Eindruck unrealistischer Zuspitzung relativiert wird: In allen Einzelheiten werden die visuellen, akustischen, olfaktorischen und haptischen Eindrücke des träumenden Ich beschrieben. Oftmals handelt es sich um synästhetische Wahrnehmungen: die Schreie werden als rot, die Seufzer als bleich bezeichnet (Vercors 2002, 182), in der Luft hängen zerrissene Stoffschleier aus Gaze oder Damast, die den Träumer am Vorwärtskommen hindern (Vercors 2002, 180). Den größten Raum nehmen die geradezu naturalistisch verfahrenden körperlichen Beschreibungen der Geschundenen ein, deren Grad der Entstellung und Entmenschlichung sich an den Grenzen des Erträglichen bewegt. Die Ambivalenzen von Faszination und Abscheu, Faktizität und Unvorstellbarem können als weitere Kennzeichen einer typischen Traumdarstellung gelten. Einzig aus der Perspektive des (heutigen) Leserwissens, etwa über das Phänomen des ‚Muselmanns’ im Lager (Frankl 1982, Agamben 1998), lässt sich erkennen, dass es sich bei der Beschreibung der KZ-Häftlinge als wandelnde Skelette kaum um eine Übertreibung handelt (Körte 2006).


Auch wenn die historische Realität also ‚realistischer’ beschrieben wird als der Träumende es wohl selbst ahnt, ist die literarisch-verfremdende Dimension des Textes nicht zu übersehen. Auffälligstes ästhetisches Verfahren sind Vergleiche oder andere Formen bildhaften Sprechens. Der gesamte Bericht ist durchzogen von Analogiebildungen, die allerdings wenig stereotyp oder konventionell sind. Sie stammen zwar vorrangig aus dem Bereich der belebten und unbelebten Natur, schlagen sich aber in ungewöhnlichen Bildern nieder (Lux 2008, 346). So wird nicht nur die Zunge des KZ-Häftlings mit einer zusammengerollten Schnecke verglichen; die Gesichter der Gestalten gleichen bleichen Endivien, ihre Haut wirkt wie verdorbene Milch, Augenlider werden zu abgenutztem Seidenpapier, der Mund ist zwischen zwei brennenden Klammern verschwunden. Die Verletzungen erwecken den Anschein aufbrechender Knospen, die Lymphknoten quellen wie Eingeweide hervor – mitunter bildet die Krankheitsmetaphorik die einzig bleibende Verbindung zum menschlichen Körper (Lux 2008, 347).
Auch wenn die historische Realität also ‚realistischer’ beschrieben wird als der Träumende es wohl selbst ahnt, ist die literarisch-verfremdende Dimension des Textes nicht zu übersehen. Auffälligstes ästhetisches Verfahren sind Vergleiche oder andere Formen bildhaften Sprechens. Der gesamte Bericht ist durchzogen von Analogiebildungen, die allerdings wenig stereotyp oder konventionell sind. Sie stammen zwar vorrangig aus dem Bereich der belebten und unbelebten Natur, schlagen sich aber in ungewöhnlichen Bildern nieder (Lux 2008, 346). So wird nicht nur die Zunge des KZ-Häftlings mit einer zusammengerollten Schnecke verglichen; die Gesichter der Gestalten gleichen bleichen Endivien, ihre Haut wirkt wie verdorbene Milch, Augenlider werden zu abgenutztem Seidenpapier, der Mund ist zwischen zwei brennenden Klammern verschwunden. Die Verletzungen erwecken den Anschein aufbrechender Knospen, die Lymphknoten quellen wie Eingeweide hervor – mitunter bildet die Krankheitsmetaphorik die einzig bleibende Verbindung zum menschlichen Körper (Lux 2008, 347).
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Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenz (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).
Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenz (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).


==Einordnung==
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