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Vercors, mit bürgerlichem Namen Jean Marcel Bruller, wird am 26. Februar 1902 in Paris geboren und stirbt dort am 10. Juni 1991. Der ausgebildete Elektroingenieur nimmt während des Ersten Weltkriegs eine pazifistische Haltung ein, die er in zahlreichen politischen Karikaturen zum Ausdruck bringt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er weiterhin als Karikaturist und Buchillustrator tätig; beispielsweise illustriert er Werke von Shakespeare, Coleridge, Poe, Montaigne, Racine und Maurois. Eine bislang weitgehend unbeachtete Auseinandersetzung mit der Freud’schen ''Traumdeutung'' stellt das 1934 veröffentlichte Album ''Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques'' dar. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutsche Wehrmacht 1940 tritt Vercors in die Résistance ein. Zusammen mit Pierre de Lescure gründet er 1942 das französische Untergrund-Verlagshaus Editions de Minuit und veröffentlicht dort im selben Jahr als erste Publikation des Verlags die Erzählung ''Le Silence de la mer''. Die unter dem Pseudonym Vercors entstandene Schrift, in der die Möglichkeiten des Schweigens als verweigerte Kollaboration und politische Widerstandshandlung ausgelotet werden (vgl. Heddrich 1997, 300ff.), verbreitet sich rasant im Untergrund. Sie regt zu zahlreichen Spekulationen über den Autor an und gilt fortan als die „Bibel des Widerstandes“ (Göttler, zit. nach Lux 2008, 325). Es folgen weitere Erzählungen über die Résistance, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Obwohl er nach dem Krieg noch sechs Romane, mehrere Theaterstücke und zahlreiche Essays verfasst, wird Vercors fast ausschließlich mit seiner Widerstandserzählung von 1942 assoziiert, die in mehr als 70 Sprachen übersetzt ist und bis heute zur Pflichtlektüre in französischen Schulen zählt (Riffaud 2002, VII).
 
Vercors, mit bürgerlichem Namen Jean Marcel Bruller, wird am 26. Februar 1902 in Paris geboren und stirbt dort am 10. Juni 1991. Der ausgebildete Elektroingenieur nimmt während des Ersten Weltkriegs eine pazifistische Haltung ein, die er in zahlreichen politischen Karikaturen zum Ausdruck bringt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er weiterhin als Karikaturist und Buchillustrator tätig; beispielsweise illustriert er Werke von Shakespeare, Coleridge, Poe, Montaigne, Racine und Maurois. Eine bislang weitgehend unbeachtete Auseinandersetzung mit der Freud’schen ''Traumdeutung'' stellt das 1934 veröffentlichte Album ''Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques'' dar. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutsche Wehrmacht 1940 tritt Vercors in die Résistance ein. Zusammen mit Pierre de Lescure gründet er 1942 das französische Untergrund-Verlagshaus Editions de Minuit und veröffentlicht dort im selben Jahr als erste Publikation des Verlags die Erzählung ''Le Silence de la mer''. Die unter dem Pseudonym Vercors entstandene Schrift, in der die Möglichkeiten des Schweigens als verweigerte Kollaboration und politische Widerstandshandlung ausgelotet werden (vgl. Heddrich 1997, 300ff.), verbreitet sich rasant im Untergrund. Sie regt zu zahlreichen Spekulationen über den Autor an und gilt fortan als die „Bibel des Widerstandes“ (Göttler, zit. nach Lux 2008, 325). Es folgen weitere Erzählungen über die Résistance, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Obwohl er nach dem Krieg noch sechs Romane, mehrere Theaterstücke und zahlreiche Essays verfasst, wird Vercors fast ausschließlich mit seiner Widerstandserzählung von 1942 assoziiert, die in mehr als 70 Sprachen übersetzt ist und bis heute zur Pflichtlektüre in französischen Schulen zählt (Riffaud 2002, VII).
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Die sowohl für einen kulturwissenschaftlichen Traumkontext als auch für die Shoah-Literatur ausgesprochen bedeutsame Erzählung „Le Songe“ ist hingegen kaum bekannt. Auch von der Forschung wurde sie bislang nur wenig beachtet, obwohl sich Peter Szondi in einer seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten von 1947 bereits kritisch mit dem Text auseinandergesetzt hatte (Isenschmid 2014, 397). Die detaillierte und kenntnisreiche Analyse, die Nadja Lux im Rahmen ihrer Studien zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' vorlegt, vermag dieses Desiderat allerdings weitgehend zu beheben (Lux 2008, 321-358). 
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Die sowohl für einen kulturwissenschaftlichen Traumkontext als auch für die Shoah-Literatur ausgesprochen bedeutsame Erzählung „Le Songe“ ist hingegen kaum bekannt. Auch von der Forschung wurde sie bislang nur wenig beachtet, obwohl sich Peter Szondi bereits 1947 in einer seiner ersten - allerdings unveröffentlichten - wissenschaftlichen Arbeiten kritisch mit dem Text auseinandergesetzt hatte (Isenschmid 2014, 397). Die detaillierte und kenntnisreiche Analyse, die Nadja Lux im Rahmen ihrer Studien zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' vorlegt, vermag dieses Desiderat allerdings weitgehend zu beheben (Lux 2008, 321-358). 
    
Der Autor von „Le Songe“ ist selbst kein Shoah-Opfer und die Erzählung demnach – im Gegensatz zu zahlreichen weiteren literarischen Werken über den nationalsozialistischen Genozid, die einen deutlichen Traumbezug aufweisen – kein autobiographisches Zeugnis eines KZ-Überlebenden. Vercors verfasst den Text im November 1943; zu einem Zeitpunkt also, zu dem in Frankreich erste Gerüchte über die Existenz und vereinzelte Schilderungen von Konzentrationslagern kursieren. Das Ausmaß des systematischen, industriellen Massenmords ist jedoch noch nicht allgemein bekannt (Dufiet 1999, 117). Für seine Darstellung bedient sich Vercors also der konventionalisierten Gattung der Traumerzählung, um einem Geschehen Ausdruck zu verleihen, das bis zu diesem Zeitpunkt in einem Bereich jenseits des Vorstellbaren lag. Anlass für die Entstehung ist die Schilderung eines Bekannten, der offensichtlich aus dem Konzentrationslager Oranienburg entkommen konnte (Vercors 2002, 1009 und Kidd 1999, 48). Diesen Bericht kleidet Vercors in das Gewand einer fiktiven, mit deutlich literarischen Mitteln gestalteten Traumerzählung. Als Begründung für diese Wahl führt Vercors später in seinem Essay ''La bataille du silence'' an, die Verkleidung des Geschehens als Traum habe er mit Rücksicht auf die zahlreichen Menschen vorgenommen, die ihre Angehörigen in einem „enfer semblable“ (Vercors 2002, 1010) wussten und denen er nicht die letzte Hoffnung auf deren Überleben nehmen wollte. Zugleich habe er sich aber auch selbst geweigert, das ganze Ausmaß des Grauens zu erfassen und den Text zunächst aus der Sorge zurückgehalten, sich durch mögliche unglaubwürdige Übertreibungen in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen (Verscors 2002, 1008-1009).
 
Der Autor von „Le Songe“ ist selbst kein Shoah-Opfer und die Erzählung demnach – im Gegensatz zu zahlreichen weiteren literarischen Werken über den nationalsozialistischen Genozid, die einen deutlichen Traumbezug aufweisen – kein autobiographisches Zeugnis eines KZ-Überlebenden. Vercors verfasst den Text im November 1943; zu einem Zeitpunkt also, zu dem in Frankreich erste Gerüchte über die Existenz und vereinzelte Schilderungen von Konzentrationslagern kursieren. Das Ausmaß des systematischen, industriellen Massenmords ist jedoch noch nicht allgemein bekannt (Dufiet 1999, 117). Für seine Darstellung bedient sich Vercors also der konventionalisierten Gattung der Traumerzählung, um einem Geschehen Ausdruck zu verleihen, das bis zu diesem Zeitpunkt in einem Bereich jenseits des Vorstellbaren lag. Anlass für die Entstehung ist die Schilderung eines Bekannten, der offensichtlich aus dem Konzentrationslager Oranienburg entkommen konnte (Vercors 2002, 1009 und Kidd 1999, 48). Diesen Bericht kleidet Vercors in das Gewand einer fiktiven, mit deutlich literarischen Mitteln gestalteten Traumerzählung. Als Begründung für diese Wahl führt Vercors später in seinem Essay ''La bataille du silence'' an, die Verkleidung des Geschehens als Traum habe er mit Rücksicht auf die zahlreichen Menschen vorgenommen, die ihre Angehörigen in einem „enfer semblable“ (Vercors 2002, 1010) wussten und denen er nicht die letzte Hoffnung auf deren Überleben nehmen wollte. Zugleich habe er sich aber auch selbst geweigert, das ganze Ausmaß des Grauens zu erfassen und den Text zunächst aus der Sorge zurückgehalten, sich durch mögliche unglaubwürdige Übertreibungen in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen (Verscors 2002, 1008-1009).
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==Literatur==
 
==Literatur==
 
===Ausgaben / Quellen===
 
===Ausgaben / Quellen===
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* Vercors: „Le Songe“, in: Traits (ohne Nummerierung und Seitenzahlen), 14. Juli 1944 ( = illegal in der Schweiz gedruckte Erstausgabe).
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* Vercors: „Le Songe“, in: Traits (ohne Nummerierung und Seitenzahlen), 14. Juli 1944 ( = illegal in der Schweiz gedruckte Erstausgabe).
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* Vercors: ''Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques'', Paris: Creuzevault 1934 (= Album über die ironische Auseinandersetzung mit der Freud’schen Traumdeutung).
 
* Vercors: ''Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques'', Paris: Creuzevault 1934 (= Album über die ironische Auseinandersetzung mit der Freud’schen Traumdeutung).
         
===Forschung und zitierte Literatur===
 
===Forschung und zitierte Literatur===
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* Agamben, Giorgio: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringheri 1998.
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* Agamben, Giorgio: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringheri 1998.
         
* Bieber, Konrad F.: L’Allemagne vu par les écrivains de la Résistance française, Genf: Droz / Lille: Giard 1954.
 
* Bieber, Konrad F.: L’Allemagne vu par les écrivains de la Résistance française, Genf: Droz / Lille: Giard 1954.
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* Frankl, Viktor E.: Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München: dtv 1988.
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* Frankl, Viktor E.: Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München: dtv 1988.
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* Kidd, William: „Vercors – Writing the Unspeakable: From ''Le Silence de la mer'' (1942) to ''La puissance du jour'' (1951)“, in: European Memories of the Second World War, hg. Helmut Peitsch u.a., New York / Oxford: Berghahn 1999, S. 46-54.
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* Kidd, William: „Vercors – Writing the Unspeakable: From ''Le Silence de la mer'' (1942) to ''La puissance du jour'' (1951)“, in: European Memories of the Second World War, hg. Helmut Peitsch u.a., New York / Oxford: Berghahn 1999, S. 46-54.
       
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