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An dieser Stelle bricht der eigentliche Traumbericht ab. Der Erzähler nimmt abschließend die Reflexionen wieder auf, die er einleitend angestellt hatte. Damit bettet er den Traum insgesamt in einen größeren traumtheoretischen Kontext ein. Die Erzählung beginnt und endet mit einer programmatischen Einbeziehung des Lesers in das Geschehen. Am Anfang steht die provokative Frage an den Rezipienten: „Est-ce que cela ne vous a jamais tourmenté?“ (S 179). Diese wird in mehreren erneuten Leseransprachen variiert und konkretisiert. Ohne noch zu erklären, worauf sich das „cela“ bezieht, imaginiert der Erzähler seine Adressaten bei den unterschiedlichsten harmlosen Alltagstätigkeiten. Er führt dem Leser vor, wie das Wissen um Gewalt und Verbrechen in der Welt aufgrund seiner selbstvergessenen Bequemlichkeit nur bruchstückhaft in sein Bewusstsein vordringt, um dann sofort vergessen bzw. abgewehrt zu werden. Die Beispiele, die der Erzähler nennt, rücken geographisch immer näher an den Adressaten heran: von China und Japan durch Europa nach Spanien, Frankreich und schließlich bis nach Paris. Ab diesem Moment konkretisiert sich auch das zuvor unbestimmt mit „cela“ umschriebene Unheil: „Bientôt ce furent vos propres amis dont chaque jour vous apprenait l’emprisonnement, la déportation ou la mort“ (S 179). Das Bild für den isolierten, sich im Wachleben von der Wirklichkeit abschottenden Leser, dem selbst keinerlei Unheil droht, ist irritierenderweise zugleich jenes, das zu den am weitesten verbreiteten innerhalb der Ikonographie der Shoah zählt: Das angesprochene „Du“ befinde sich, so der Erzähler, in einem finsteren, verschlossenen Zugwaggon, abgedichtet gegen „les cris d’agonie de ceux dont quelque part on brûlait les pids et les mains“ (S 179).
 
An dieser Stelle bricht der eigentliche Traumbericht ab. Der Erzähler nimmt abschließend die Reflexionen wieder auf, die er einleitend angestellt hatte. Damit bettet er den Traum insgesamt in einen größeren traumtheoretischen Kontext ein. Die Erzählung beginnt und endet mit einer programmatischen Einbeziehung des Lesers in das Geschehen. Am Anfang steht die provokative Frage an den Rezipienten: „Est-ce que cela ne vous a jamais tourmenté?“ (S 179). Diese wird in mehreren erneuten Leseransprachen variiert und konkretisiert. Ohne noch zu erklären, worauf sich das „cela“ bezieht, imaginiert der Erzähler seine Adressaten bei den unterschiedlichsten harmlosen Alltagstätigkeiten. Er führt dem Leser vor, wie das Wissen um Gewalt und Verbrechen in der Welt aufgrund seiner selbstvergessenen Bequemlichkeit nur bruchstückhaft in sein Bewusstsein vordringt, um dann sofort vergessen bzw. abgewehrt zu werden. Die Beispiele, die der Erzähler nennt, rücken geographisch immer näher an den Adressaten heran: von China und Japan durch Europa nach Spanien, Frankreich und schließlich bis nach Paris. Ab diesem Moment konkretisiert sich auch das zuvor unbestimmt mit „cela“ umschriebene Unheil: „Bientôt ce furent vos propres amis dont chaque jour vous apprenait l’emprisonnement, la déportation ou la mort“ (S 179). Das Bild für den isolierten, sich im Wachleben von der Wirklichkeit abschottenden Leser, dem selbst keinerlei Unheil droht, ist irritierenderweise zugleich jenes, das zu den am weitesten verbreiteten innerhalb der Ikonographie der Shoah zählt: Das angesprochene „Du“ befinde sich, so der Erzähler, in einem finsteren, verschlossenen Zugwaggon, abgedichtet gegen „les cris d’agonie de ceux dont quelque part on brûlait les pids et les mains“ (S 179).
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Entscheidend für das Verständnis des Traums ist die anschließende traumtheoretische Passage, welche das Bild des „wagon plombé“ in eine andere Richtung weiterführt: In manchen besonderen Nächten gelinge es der Imagination, eine „wundersame Macht“ („un miraculeux pouvoir“; S 180) zu entfalten und im Traum Dinge vorzuführen, die sich weder beweisen oder logisch erklären, noch überhaupt rational begreifen ließen. Es handele sich hier um Träume, die Teil eines kollektiven Unbewussten seien. Auf diese Weise ließen sie den Träumer an einem Wissen teilhaben, das im Wachzustand nicht zugänglich sei („une vaste conscience diffuse, d’une sorte de conscience universelle et flottante, à laquelle il nous arrive de participer dans le sommeil, par certaines nuits favorisées“; S 180). Solche Träume, die etwas aussagen, was nicht nur jenseits des Verstandes, sondern auch jenseits der Imagination liegt, seien, so schließt der Erzähler seine Einleitung zu dem nun folgenden Traumbericht ab, eine Möglichkeit, der Isolation im verschlossenen Wagon zu entkommen: Man blicke im Traum endlich über die Böschung der Gleise hinweg und erlange Zutritt zu einer ansonsten verstellten Wahrheit.
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Entscheidend für das Verständnis des Traums ist die anschließende traumtheoretische Passage, welche das Bild des „wagon plombé“ in eine andere Richtung weiterführt: In manchen besonderen Nächten gelinge es der Imagination, eine „wundersame Macht“ („un miraculeux pouvoir“; S 180) zu entfalten und im Traum Dinge vorzuführen, die sich weder beweisen oder logisch erklären, noch überhaupt rational begreifen ließen. Es handele sich hier um Träume, die Teil eines kollektiven Unbewussten seien. Auf diese Weise ließen sie den Träumer an einem Wissen teilhaben, das im Wachzustand nicht zugänglich sei („une vaste conscience diffuse, d’une sorte de conscience universelle et flottante, à laquelle il nous arrive de participer dans le sommeil, par certaines nuits favorisées“; S 180). Solche Träume, die etwas aussagen, was nicht nur jenseits des Verstandes, sondern auch jenseits der Imagination liegt, seien - so schließt der Erzähler seine Einleitung zu dem nun folgenden Traumbericht ab - eine Möglichkeit, der Isolation im verschlossenen Wagon zu entkommen: Man blicke im Traum endlich über die Böschung der Gleise hinweg und erlange Zutritt zu einer ansonsten verstellten Wahrheit.
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Vor dem Hintergrund einer solchen Traumkonzeption wird auch das, was im selben Absatz zunächst wie die Markierung einer konventionellen Traumerzählung erscheint, hochgradig ambivalent: „J’ai vu en songe des choses étranges que ni l’imagination, ni la vie inconsciente ne peuvent expliquer. Des choses qui se passaient, pendant que je les rêvais à des milles de là“ (S 180). Die „Dinge, die geschahen, während ich sie Meilen davon entfernt träumte“, erreichen damit einen ganz eigenen, autonomen Wirklichkeitsstatus: Sie existieren eben nicht nur im Traum, sondern geschehen auch außerhalb des Traums, zur selben Zeit an einem anderen Ort. Es zeigt sich also, dass „durch offenkundige Brüche in der Traumfiktion die Fiktionalität des Traums beständig angezweifelt wird. Der Gestus des ‚nur ein Traum’ wird mehrfach gebrochen und textintern hinterfragt“ (Lux 2008, 341). An die eingangs erörterte Traumkonzeption knüpft auch das Ende der Erzählung an, mit der der traumtheoretische Rahmen geschlossen wird: „Comment cela est-il survenu“?, fragt der Erzähler, nachdem sein Gedächtnis aufgrund der schockierenden Erkenntnis, die der Traum in Gang setzt, „in ein Loch gefallen ist“ (S 185). Er gibt darauf selbst die Antwort: „Comme en songe. En songe il n’y a pas de comment“ (S 186). Das Gesehene erscheint also wie ein Traum; ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt, wird systematisch in der Schwebe gehalten bzw. explizit angezweifelt: „J’ai d’autres idées là-dessus“ (ebd.). Es geht im Traum also nicht um eine Erklärung, sondern einzig darum, eine Wahrheit anzuerkennen, die sich unauslöschlich in die Wahrnehmung des Träumers eingegraben hat. Denn was für das erzählende Ich nach dem Erwachen zurückbleibt, sind vor allem die im Traum erlebten sinnlichen Eindrücke, ein animalisch-instinkthafter Überlebenswillen und die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen Traum und Wachwelt unwiderruflich eingerissen sind: Der Träumer, der zu Beginn mitleidig oder entsetzt die erträumten Figuren beobachtet, lässt sich am Schluss nicht mehr unterscheiden von den leidenden und entsetzlichen Gestalten, die ihm im Traum begegnen und zulächeln. Der Träumende bleibt nicht nur auf ewig mit ihnen verbunden, sondern ist nun in der abschließenden Traumreflexion selbst einer dieser Menschen: „Maintenant j’étais un de ces hommes. Je ne le suis pas devenu. Je l’étais. Depuis toujours. Je n’étais plus ce spectateur (...). J’étais seulement un de ces hommes-là“ (S 186).
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Vor dem Hintergrund einer solchen Traumkonzeption wird auch das, was im selben Absatz zunächst wie die Markierung einer konventionellen Traumerzählung erscheint, hochgradig ambivalent: „J’ai vu en songe des choses étranges que ni l’imagination, ni la vie inconsciente ne peuvent expliquer. Des choses qui se passaient, pendant que je les rêvais à des milles de là“ (S 180). Die „Dinge, die geschahen, während ich sie Meilen davon entfernt träumte“, erreichen damit einen ganz eigenen, autonomen Wirklichkeitsstatus: Sie existieren eben nicht nur im Traum, sondern geschehen auch außerhalb des Traums, zur selben Zeit an einem anderen Ort. Es zeigt sich also, dass „durch offenkundige Brüche in der Traumfiktion die Fiktionalität des Traums beständig angezweifelt wird. Der Gestus des ‚nur ein Traum’ wird mehrfach gebrochen und textintern hinterfragt“ (Lux 2008, 341).  
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An die eingangs erörterte Traumkonzeption knüpft auch das Ende der Erzählung an, mit der der traumtheoretische Rahmen geschlossen wird: „Comment cela est-il survenu“?, fragt der Erzähler, nachdem sein Gedächtnis aufgrund der schockierenden Erkenntnis, die der Traum in Gang setzt, „in ein Loch gefallen ist“ (S 185). Er gibt darauf selbst die Antwort: „Comme en songe. En songe il n’y a pas de comment“ (S 186). Das Gesehene erscheint also wie ein Traum; ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt, wird systematisch in der Schwebe gehalten bzw. explizit angezweifelt: „J’ai d’autres idées là-dessus“ (ebd.). Es geht im Traum also nicht um eine Erklärung, sondern einzig darum, eine Wahrheit anzuerkennen, die sich unauslöschlich in die Wahrnehmung des Träumers eingegraben hat. Denn was für das erzählende Ich nach dem Erwachen zurückbleibt, sind vor allem die im Traum erlebten sinnlichen Eindrücke, ein animalisch-instinkthafter Überlebenswillen und die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen Traum und Wachwelt unwiderruflich eingerissen sind: Der Träumer, der zu Beginn mitleidig oder entsetzt die erträumten Figuren beobachtet, lässt sich am Schluss nicht mehr unterscheiden von den leidenden und entsetzlichen Gestalten, die ihm im Traum begegnen und zulächeln. Der Träumende bleibt nicht nur auf ewig mit ihnen verbunden, sondern ist nun in der abschließenden Traumreflexion selbst einer dieser Menschen: „Maintenant j’étais un de ces hommes. Je ne le suis pas devenu. Je l’étais. Depuis toujours. Je n’étais plus ce spectateur [...]. J’étais seulement un de ces hommes-là“ (S 186).
    
Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben diese Figur, die die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, denkt am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – über all diejenigen nach, die sich nach wie vor unbeirrt und selbstverständlich außerhalb des Traums bewegen: Das gefolterte Ich wendet sich im letzten Absatz in seiner Agonie an die Leser, die der Erzähler zu Beginn des Textes angesprochen hatte. Seine Gewissheit, dass diese sich nicht vor dem Grauen verschließen werden, sondern von der Existenz der Leidenden wissen, dass sie an die Gequälten denken (wobei die französische Formulierung „songer“ ebenso gut meinen könnte, dass sie von ihnen träumen) und ihnen ab und zu ein Schärflein Sorge („l’obole d’un souci“; S 186) zukommen lassen, entlockt ihm ein Lächeln. Mit dieser verzweifelten Wendung der Deportierten an ein kollektives „nous“ erklärt der letzte Satz also rückwirkend auch das rätselhafte Lächeln der Figuren im Traum.
 
Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben diese Figur, die die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, denkt am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – über all diejenigen nach, die sich nach wie vor unbeirrt und selbstverständlich außerhalb des Traums bewegen: Das gefolterte Ich wendet sich im letzten Absatz in seiner Agonie an die Leser, die der Erzähler zu Beginn des Textes angesprochen hatte. Seine Gewissheit, dass diese sich nicht vor dem Grauen verschließen werden, sondern von der Existenz der Leidenden wissen, dass sie an die Gequälten denken (wobei die französische Formulierung „songer“ ebenso gut meinen könnte, dass sie von ihnen träumen) und ihnen ab und zu ein Schärflein Sorge („l’obole d’un souci“; S 186) zukommen lassen, entlockt ihm ein Lächeln. Mit dieser verzweifelten Wendung der Deportierten an ein kollektives „nous“ erklärt der letzte Satz also rückwirkend auch das rätselhafte Lächeln der Figuren im Traum.
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