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Bemerkenswert ist zudem, dass die Reaktion des Träumers auf seine Wahrnehmungen mit einer kritischen Reflexion derselben einhergeht: Das verzweifelte Bemühen der Traumgestalt, trotz verstümmelter Zunge zu sprechen, wird nicht nur als unerträglich empfunden, sondern auch als pathetisch beurteilt. Damit eröffnet der Traum zugleich eine poetologische Dimension: Es geht innerhalb der Beschreibung des Geschehens auch um die grundsätzliche Frage, wie sich die „catastrophe inexplicable“ (Vercors 2002, 182) beschreiben lässt, ja ob sie überhaupt darstellbar ist, ohne sie durch Pathos oder Groteske unglaubwürdig zu machen (Canovas 1999, 423). Denn die versengte Zunge, die die Kommunikation der Erfahrung verhindert, weil sie sich verkrampft, einrollt und verhärtet, aber auch die wie zerfetzte Zungen vom Himmel herabhängenden Stoffbahnen, die ein Durchdringen kaum zulassen, sind im Text direkt mit dem Problem des Mitteilens verbunden. Hinzu kommt, dass das französische „langue“ (Vercors 2002, 180, 181) sowohl das Sprechorgan als auch die Sprache selbst meint. Nadja Lux hat darüber hinaus gezeigt, dass sich die Versuche, das Erlebte zu kommunizieren, auch nonverbal, d.h. durch Gesten und Mimik, vollziehen. Gerade an solchen Stellen der Erzählung wird deutlich, wie die sich die Erkenntnis des Erzählers vollzieht (Lux 2008, 350): von der anfänglich verstellten Sicht durch die vernebelte Umgebung über die schlichte Verleugnung des Gezeigten („Je ne vois rien“, Vercors 2002, 181) und Momente blitzartigen Zulassens des Unvorstellbaren verläuft der Prozess weiter über ein Sich-Lichten des Nebels, Schock, Abwehr und anschließende erneute Hinwendung zu den Tatsachen bis hin zur vollständigen Identifikation und einer dezidierten Aufforderung zur Solidarität.
 
Bemerkenswert ist zudem, dass die Reaktion des Träumers auf seine Wahrnehmungen mit einer kritischen Reflexion derselben einhergeht: Das verzweifelte Bemühen der Traumgestalt, trotz verstümmelter Zunge zu sprechen, wird nicht nur als unerträglich empfunden, sondern auch als pathetisch beurteilt. Damit eröffnet der Traum zugleich eine poetologische Dimension: Es geht innerhalb der Beschreibung des Geschehens auch um die grundsätzliche Frage, wie sich die „catastrophe inexplicable“ (Vercors 2002, 182) beschreiben lässt, ja ob sie überhaupt darstellbar ist, ohne sie durch Pathos oder Groteske unglaubwürdig zu machen (Canovas 1999, 423). Denn die versengte Zunge, die die Kommunikation der Erfahrung verhindert, weil sie sich verkrampft, einrollt und verhärtet, aber auch die wie zerfetzte Zungen vom Himmel herabhängenden Stoffbahnen, die ein Durchdringen kaum zulassen, sind im Text direkt mit dem Problem des Mitteilens verbunden. Hinzu kommt, dass das französische „langue“ (Vercors 2002, 180, 181) sowohl das Sprechorgan als auch die Sprache selbst meint. Nadja Lux hat darüber hinaus gezeigt, dass sich die Versuche, das Erlebte zu kommunizieren, auch nonverbal, d.h. durch Gesten und Mimik, vollziehen. Gerade an solchen Stellen der Erzählung wird deutlich, wie die sich die Erkenntnis des Erzählers vollzieht (Lux 2008, 350): von der anfänglich verstellten Sicht durch die vernebelte Umgebung über die schlichte Verleugnung des Gezeigten („Je ne vois rien“, Vercors 2002, 181) und Momente blitzartigen Zulassens des Unvorstellbaren verläuft der Prozess weiter über ein Sich-Lichten des Nebels, Schock, Abwehr und anschließende erneute Hinwendung zu den Tatsachen bis hin zur vollständigen Identifikation und einer dezidierten Aufforderung zur Solidarität.
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Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenz (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).
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Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes ''Divina Commedia'', Shakespeares ''Hamlet'' und die Ästhetik der Dekadenzliteratur (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).
    
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