"Le Songe" (Vercors, d.i. Jean Bruller)

Aus Lexikon Traumkultur
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Die 1943 verfasste und 1944 publizierte Erzählung von Vercors gilt als eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager (Dufiet 1999, 115). Die Schreckensvision von umherirrenden, durch Folter und Hunger entstellten KZ-Häftlingen wird vom Erzähler explizit als Wiedergabe eines nächtlichen Traums deklariert. Gerahmt wird er durch eine Reflexion über die Funktion des Traums für das kollektive Gedächtnis und seine Bedeutung für die Vermittlung einer Wirklichkeit, die sich der realistischen Darstellung entzieht.


Autor, Werk und Entstehung

Vercors, mit bürgerlichem Namen Jean Marcel Bruller, wird am 26. Februar 1902 in Paris geboren und stirbt dort am 10. Juni 1991. Der ausgebildete Elektroingenieur nimmt während des Ersten Weltkriegs eine pazifistische Haltung ein, die er in zahlreichen politischen Karikaturen zum Ausdruck bringt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er weiterhin als Karikaturist und Buchillustrator tätig; beispielsweise illustriert er Werke von Shakespeare, Coleridge, Poe, Montaigne, Racine und Maurois. Eine bislang weitgehend unbeachtete Auseinandersetzung mit der Freud’schen Traumdeutung stellt das 1934 veröffentlichte Album Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques dar. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutsche Wehrmacht 1940 tritt Vercors in die Résistance ein. Zusammen mit Pierre de Lescure gründet er 1942 das französische Untergrund-Verlagshaus Editions de Minuit und veröffentlicht dort im selben Jahr als erste Publikation des Verlags die Erzählung Le Silence de la mer. Die unter dem Pseudonym Vercors entstandene Schrift, in der die Möglichkeiten des Schweigens als verweigerte Kollaboration und politische Widerstandshandlung ausgelotet werden (vgl. Heddrich 1997, 300ff.), verbreitet sich rasant im Untergrund. Sie regt zu zahlreichen Spekulationen über den Autor an und gilt fortan als die „Bibel des Widerstandes“ (Göttler, zit. nach Lux 2008, 325). Es folgen weitere Erzählungen über die Résistance, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Obwohl er nach dem Krieg noch sechs Romane, mehrere Theaterstücke und zahlreiche Essays verfasst, wird Vercors fast ausschließlich mit seiner Widerstandserzählung von 1942 assoziiert, die in mehr als 70 Sprachen übersetzt ist und bis heute zur Pflichtlektüre in französischen Schulen zählt (Riffaud 2002, VII).

Die sowohl für einen kulturwissenschaftlichen Traumkontext als auch für die Shoah-Literatur ausgesprochen bedeutsame Erzählung „Le Songe“ ist hingegen kaum bekannt, bis heute nicht ins Deutsche übersetzt und von der Forschung nur wenig beachtet. Die detaillierte und kenntnisreiche Analyse, die Nadja Lux im Rahmen ihrer Studien zu Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’ vorlegt, vermag dieses Desiderat allerdings weitgehend zu beheben (Lux 2008, 321-358).

Der Autor von „Le Songe“ ist selbst kein Shoah-Opfer und die Erzählung demnach – im Gegensatz zu zahlreichen weiteren literarischen Werken über den nationalsozialistischen Genozid, die einen deutlichen Traumbezug aufweisen – kein autobiographisches Zeugnis eines KZ-Überlebenden. Vercors verfasst den Text im November 1943; zu einem Zeitpunkt also, zu dem in Frankreich erste Gerüchte über die Existenz und vereinzelte Schilderungen von Konzentrationslagern kursieren. Das Ausmaß des systematischen, industriellen Massenmords ist jedoch noch nicht allgemein bekannt (Dufiet 1999, 117). Für seine Darstellung bedient sich Vercors also der konventionalisierten Gattung der Traumerzählung, um einem Geschehen Ausdruck zu verleihen, das bis zu diesem Zeitpunkt in einem Bereich jenseits des Vorstellbaren lag. Anlass für die Entstehung ist die Schilderung eines Bekannten, der offensichtlich aus dem Konzentrationslager Oranienburg entkommen konnte (Vercors 2002, 1009 und Kidd 1999, 48). Diesen Bericht kleidet Vercors in das Gewand einer fiktiven, mit deutlich literarischen Mitteln gestalteten Traumerzählung. Als Begründung für diese Wahl führt Vercors später in seinem Essay La bataille du silence an, die Verkleidung des Geschehens als Traum habe er mit Rücksicht auf die zahlreichen Menschen vorgenommen, die ihre Angehörigen in einem „enfer semblable“ (Vercors 2002, 1010) wussten und denen er nicht die letzte Hoffnung auf deren Überleben nehmen wollte. Zugleich habe er sich aber auch selbst geweigert, das ganze Ausmaß des Grauens zu erfassen und den Text zunächst aus der Sorge zurückgehalten, sich durch mögliche unglaubwürdige Übertreibungen in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen (Verscors 2002, 1008-1009).


Der Traum

Beschreibung

In seinem knapp sechsseitigen Traumbericht schildert das erzählende Ich, wie es im dichten Nebel, mühsam gegen unsichtbare Widerstände ankämpfend und angsterfüllt durch eine sumpfige, übel riechende, geisterhafte Landschaft irrt. An den eigenen Schritten erkennt der Träumer, dass er sich im Kreis bewegt haben muss, bevor er auf unzählige weitere Fußspuren trifft. Bruchstückhaft erinnert er sich daran, einen Fluss durchquert und dabei zwei schwarze Schwäne aufgeschreckt zu haben, als er unvermittelt feststellt, nicht mehr allein durch dieses Unterwelt-Szenario zu gehen: Ein undeutlich wahrnehmbarer, ihm jedoch bekannt vorkommender Mann, mit dem er offensichtlich zahlreiche Erinnerungen teilt, läuft neben ihm her, lächelt ihn an und versucht, Kontakt aufzunehmen. Doch die Kommunikation scheitert daran, dass das Gegenüber eine verbrannte, zerfetzte Zunge hat, die sich in seinem Mund „wie eine schwarze, gekochte Schnecke“ zusammenzieht und das Sprechen verhindert (Vercors 2002, 181). Während der Erzähler erschrocken zurückweicht, nimmt er weitere Gestalten wahr, die nicht minder entstellt sind: Abgemagert, verstümmelt und monströs verzerrt, bewegen sie sich gespensterhaft durch die Landschaft. Im erzählenden Ich, das mit ihnen marschiert, ruft ihr grotesker Anblick gleichermaßen Abscheu wie Faszination hervor. Als sich der Nebel lichtet, nimmt der Erzähler in der Ferne die Umrisse eines Gebäudekomplexes wahr, in dessen Mitte ein rauchender Schornstein emporragt. Endlose Menschenschlangen bewegen sich darauf zu. Auf diejenigen, die zusammenbrechen und im Sumpf liegenbleiben, prügeln schwarz gekleidete Männer mit Knüppeln ein. Auch die Toten werden, so beobachtet der Träumer, weiterhin malträtiert oder wie leblose Dinge gleichgültig beiseite geschoben. Seinen Höhepunkt erreicht der Bericht, als das Ich selbst in körperlichen Kontakt mit einem Glied aus den Reihen des Todesmarsches gerät: Er tritt auf eine Hand, die sich wie eine weiche Krake anfühlt, während der Sterbende seinen leeren Blick auf ihn richtet.

Hier wird die Traumerzählung für einen Moment unterbrochen. Der Erzähler fügt ein, er müsse noch mehr gesehen haben, was seiner Erinnerung entfallen sei, bevor er einen schockartigen Erkenntnisprozess wiedergibt, den er innerhalb des Traumes durchläuft: Beim Überholen der deformierten, dahinsiechenden Gestalten erinnert er sich an die einem Toten in die Haut tätowierte Nummer. Bevor er noch errechnet hat, dass die Anzahl an Menschen keinesfalls Platz in den symmetrisch aufgereihten Baracken finden kann, wird ihm schlagartig die Bedeutung des Kamins auf dem Gelände klar. Zugleich nimmt er den Verwesungsgeruch und den aschefarbenen Rauch wahr, die von ihm ausgehen. Der Schrecken, der den Träumer durchfährt, ist so groß, dass die Wahrnehmung erneut nebelhaft getrübt wird und das Erinnerungsvermögen zusammenbricht. Fortgeführt wird der Bericht durch vereinzelte Bilder, „des ilôts de souvenir deserts“ (Vercors 2002, 185), die nun aus größerer Distanz wiedergegeben und von erklärenden Reflexionen begleitet werden: ein schluchzendes Kind, dessen Haar von Ungeziefer befallen ist, und der fest auf den Träumer gerichtete Blick jenes lächelnden Mannes, der ihm bereits zu Beginn des Traumes erschienen war. Dieser sendet ihm sterbend mit seinem Lächeln ein letztes brüderliches Zeichen („un signe fraternel“, Vercors 2002, 186), das er mit der Hoffnung verbindet, nicht vergessen zu werden.


Rahmen

An dieser Stelle bricht der eigentliche Traumbericht ab. Der Erzähler nimmt abschließend die Reflexionen wieder auf, die er einleitend angestellt hatte. Damit bettet er den Traum insgesamt in einen größeren traumtheoretischen Kontext ein. Die Erzählung beginnt und endet mit einer programmatischen Einbeziehung des Lesers in das Geschehen. Am Anfang steht die provokative Frage an den Rezipienten: „Est-ce que cela ne vous a jamais tourmenté?“ (Vercors 2002, 179). Diese wird in mehreren erneuten Leseransprachen variiert und konkretisiert. Ohne noch zu erklären, worauf sich das „cela“ bezieht, imaginiert der Erzähler seine Adressaten bei den unterschiedlichsten harmlosen Alltagstätigkeiten. Er führt dem Leser vor, wie das Wissen um Gewalt und Verbrechen in der Welt aufgrund seiner selbstvergessenen Bequemlichkeit nur bruchstückhaft in sein Bewusstsein vordringt, um dann sofort vergessen bzw. abgewehrt zu werden. Die Beispiele, die der Erzähler nennt, rücken geographisch immer näher an den Adressaten heran: von China und Japan durch Europa nach Spanien, Frankreich und schließlich bis nach Paris. Ab diesem Moment konkretisiert sich auch das zuvor unbestimmt mit „cela“ umschriebene Unheil: „Bientôt ce furent vos propres amis dont chaque jour vous apprenait l’emprisonnement, la déportation ou la mort“ (Vercors 2002, 179). Das Bild für den isolierten, sich im Wachleben von der Wirklichkeit abschottenden Leser, dem selbst keinerlei Unheil droht, ist irritierenderweise zugleich jenes, das zu den am weitesten verbreiteten innerhalb der Ikonographie der Shoah zählt: Das angesprochene „Du“ befinde sich, so der Erzähler, in einem finsteren, verschlossenen Zugwaggon, abgedichtet gegen „les cris d’agonie de ceux dont quelque part on brûlait les pids et les mains“ (Vercors 2002, 179).

Entscheidend für das Verständnis des Traums ist die anschließende traumtheoretische Passage, welche das Bild des „wagon plombé“ in eine andere Richtung weiterführt: In manchen besonderen Nächten gelinge es der Imagination, eine „wundersame Macht“ („un miraculeux pouvoir“, Vercors 2002, 180) zu entfalten und im Traum Dinge vorzuführen, die sich weder beweisen oder logisch erklären, noch überhaupt rational begreifen ließen. Es handele sich hier um Träume, die Teil eines kollektiven Unbewussten seien. Auf diese Weise ließen sie den Träumer an einem Wissen teilhaben, das im Wachzustand nicht zugänglich sei („une vaste conscience diffuse, d’une sorte de conscience universelle et flottante, à laquelle il nous arrive de participer dans le sommeil, par certaines nuits favorisées“, Vercors 2002, 180). Solche Träume, die etwas aussagen, was nicht nur jenseits des Verstandes, sondern auch jenseits der Imagination liegt, seien, so schließt der Erzähler seine Einleitung zu dem nun folgenden Traumbericht ab, eine Möglichkeit, der Isolation im verschlossenen Wagon zu entkommen: Man blicke im Traum endlich über die Böschung der Gleise hinweg und erlange Zutritt zu einer ansonsten verstellten Wahrheit.

Vor dem Hintergrund einer solchen Traumkonzeption wird auch das, was im selben Absatz zunächst wie die Markierung einer konventionellen Traumerzählung erscheint, hochgradig ambivalent: „J’ai vu en songe des choses étranges que ni l’imagination, ni la vie inconsciente ne peuvent expliquer. Des choses qui se passaient, pendant que je les rêvais à des milles de là“ (Vercors 2002, 180). Die „Dinge, die geschahen, während ich sie Meilen davon entfernt träumte“, erreichen damit einen ganz eigenen, autonomen Wirklichkeitsstatus: Sie existieren eben nicht nur im Traum, sondern geschehen auch außerhalb des Traums, zur selben Zeit an einem anderen Ort. Es zeigt sich also, dass „durch offenkundige Brüche in der Traumfiktion die Fiktionalität des Traums beständig angezweifelt wird. Der Gestus des ‚nur ein Traum’ wird mehrfach gebrochen und textintern hinterfragt“ (Lux 2008, 341). An die eingangs erörterte Traumkonzeption knüpft auch das Ende der Erzählung an, mit der der traumtheoretische Rahmen geschlossen wird: „Comment cela est-il survenu“?, fragt der Erzähler, nachdem sein Gedächtnis aufgrund der schockierenden Erkenntnis, die der Traum in Gang setzt, „in ein Loch gefallen ist“ (Vercors 2002, 185). Er gibt darauf selbst die Antwort: „Comme en songe. En songe il n’y a pas de comment“ (Vercors 2002, 186). Das Gesehene erscheint also wie ein Traum; ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt, wird systematisch in der Schwebe gehalten bzw. explizit angezweifelt: „J’ai d’autres idées là-dessus“ (ebd.). Es geht im Traum also nicht um eine Erklärung, sondern einzig darum, eine Wahrheit anzuerkennen, die sich unauslöschlich in die Wahrnehmung des Träumers eingegraben hat. Denn was für das erzählende Ich nach dem Erwachen zurückbleibt, sind vor allem die im Traum erlebten sinnlichen Eindrücke, ein animalisch-instinkthafter Überlebenswillen und die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen Traum und Wachwelt unwiderruflich eingerissen sind: Der Träumer, der zu Beginn mitleidig oder entsetzt die erträumten Figuren beobachtet, lässt sich am Schluss nicht mehr unterscheiden von den leidenden und entsetzlichen Gestalten, die ihm im Traum begegnen und zulächeln. Der Träumende bleibt nicht nur auf ewig mit ihnen verbunden, sondern ist nun in der abschließenden Traumreflexion selbst einer dieser Menschen: „Maintenant j’étais un de ces hommes. Je ne le suis pas devenu. Je l’étais. Depuis toujours. Je n’étais plus ce spectateur (...). J’étais seulement un de ces hommes-là“ (Vercors 2002, 186).

Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben diese Figur, die die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, denkt am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – über all diejenigen nach, die sich nach wie vor unbeirrt und selbstverständlich außerhalb des Traums bewegen: Das gefolterte Ich wendet sich im letzten Absatz in seiner Agonie an die Leser, die der Erzähler zu Beginn des Textes angesprochen hatte. Seine Gewissheit, dass diese sich nicht vor dem Grauen verschließen werden, sondern von der Existenz der Leidenden wissen, dass sie an die Gequälten denken (wobei die französische Formulierung „songer“ ebenso gut meinen könnte, dass sie von ihnen träumen) und ihnen ab und zu „ein Schärflein Sorge“ („l’obole d’un souci“, Vercors 2002, 186) zukommen lassen, entlockt ihm ein Lächeln. Mit dieser verzweifelten Wendung der Deportierten an ein kollektives „nous“ erklärt der letzte Satz also rückwirkend auch das rätselhafte Lächeln der Figuren im Traum.


Analyse und Interpretation

Nicht nur die Rahmung des Traums, auch der Traumbericht selbst weist zahlreiche konventionelle Verfahren der Traumdarstellung auf: Die Wahrnehmung des Träumenden ist getrübt, es vollziehen sich unerklärliche Sprünge, Erkenntnisse blitzen schockartig auf, Unvorstellbares und Unbegreifliches werden instinktiv gewusst, unterschiedliche Zeitebenen fallen zusammen, Identitäten verschwimmen oder überlagern sich. Besonders ausgeprägt sind die groteske Verzerrung und monströse Körperlichkeit der Traumgestalten. Ohne Kenntnis der historischen Fakten müssen sie dem Leser wie eine karikaturhafte Überzeichnung des Geschehens erscheinen. Ein besonderes Augenmerk wird innerhalb des Berichtes jedoch auf die sinnliche Wahrnehmung des Träumenden gelegt, womit der Eindruck unrealistischer Zuspitzung relativiert wird: In allen Einzelheiten werden die visuellen, akustischen, olfaktorischen und haptischen Eindrücke des träumenden Ich beschrieben. Oftmals handelt es sich um synästhetische Wahrnehmungen: Die Schreie werden als rot, die Seufzer als bleich bezeichnet (Vercors 2002, 182), in der Luft hängen zerrissene Stoffschleier aus Gaze oder Damast, die den Träumer am Vorwärtskommen hindern (Vercors 2002, 180). Den größten Raum nehmen die geradezu naturalistisch verfahrenden körperlichen Beschreibungen der Geschundenen ein, deren Grad der Entstellung und Entmenschlichung sich an den Grenzen des Erträglichen bewegt. Die Ambivalenzen von Faszination und Abscheu, Faktizität und Unvorstellbarem können als weitere Kennzeichen einer typischen Traumdarstellung gelten. Einzig aus der Perspektive des (heutigen) Leserwissens, etwa über das Phänomen des ‚Muselmanns’ im Lager (Frankl 1982, Agamben 1998), lässt sich erkennen, dass es sich bei der Beschreibung der KZ-Häftlinge als wandelnde Skelette kaum um eine Übertreibung handelt (Körte 2006).

Auch wenn die historische Realität also ‚realistischer’ beschrieben wird als der Träumende es wohl selbst ahnt, ist die literarisch-verfremdende Dimension des Textes nicht zu übersehen. Auffälligstes ästhetisches Verfahren sind Vergleiche oder andere Formen bildhaften Sprechens. Der gesamte Bericht ist durchzogen von Analogiebildungen, die allerdings wenig stereotyp oder konventionell sind. Sie stammen zwar vorrangig aus dem Bereich der belebten und unbelebten Natur, schlagen sich aber in ungewöhnlichen Bildern nieder (Lux 2008, 346). So wird nicht nur die Zunge des KZ-Häftlings mit einer zusammengerollten Schnecke verglichen; die Gesichter der Gestalten gleichen bleichen Endivien, ihre Haut wirkt wie verdorbene Milch, Augenlider werden zu abgenutztem Seidenpapier, der Mund ist zwischen zwei brennenden Klammern verschwunden. Die Verletzungen erwecken den Anschein aufbrechender Knospen, die Lymphknoten quellen wie Eingeweide hervor – mitunter bildet die Krankheitsmetaphorik die einzig bleibende Verbindung zum menschlichen Körper (Lux 2008, 347).

Bemerkenswert ist zudem, dass die Reaktion des Träumers auf seine Wahrnehmungen mit einer kritischen Reflexion derselben einhergeht: Das verzweifelte Bemühen der Traumgestalt, trotz verstümmelter Zunge zu sprechen, wird nicht nur als unerträglich empfunden, sondern auch als pathetisch beurteilt. Damit eröffnet der Traum zugleich eine poetologische Dimension: Es geht innerhalb der Beschreibung des Geschehens auch um die grundsätzliche Frage, wie sich die „catastrophe inexplicable“ (Vercors 2002, 182) beschreiben lässt, ja ob sie überhaupt darstellbar ist, ohne sie durch Pathos oder Groteske unglaubwürdig zu machen (Canovas 1999, 423). Denn die versengte Zunge, die die Kommunikation der Erfahrung verhindert, weil sie sich verkrampft, einrollt und verhärtet, aber auch die wie zerfetzte Zungen vom Himmel herabhängenden Stoffbahnen, die ein Durchdringen kaum zulassen, sind im Text direkt mit dem Problem des Mitteilens verbunden. Hinzu kommt, dass das französische „langue“ (Vercors 2002, 180, 181) sowohl das Sprechorgan als auch die Sprache selbst meint. Nadja Lux hat darüber hinaus gezeigt, dass sich die Versuche, das Erlebte zu kommunizieren, auch nonverbal, d.h. durch Gesten und Mimik, vollziehen. Gerade an solchen Stellen der Erzählung wird deutlich, wie die sich die Erkenntnis des Erzählers vollzieht (Lux 2008, 350): von der anfänglich verstellten Sicht durch die vernebelte Umgebung über die schlichte Verleugnung des Gezeigten („Je ne vois rien“, Vercors 2002, 181) und Momente blitzartigen Zulassens des Unvorstellbaren verläuft der Prozess weiter über ein Sich-Lichten des Nebels, Schock, Abwehr und anschließende erneute Hinwendung zu den Tatsachen bis hin zur vollständigen Identifikation und einer dezidierten Aufforderung zur Solidarität.

Ein weiteres Verfahren, sich der Darstellung des Undarstellbaren anzunähern, liegt in der sprachlich-erzählerischen Anlehnung an bekannte Vorgängertexte. Solche Texte liefern epochenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt hier in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes Divina Commedia, Shakespeares Hamlet und die Ästhetik der Dekadenzliteratur (Lux 2008, 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors 2002, 183) und die auffällige Totentanz-Motivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Das literarische Verfahren des Autors wäre mit Nadja Lux als "asymptotisches Erzählen" der Shoah zu bezeichnen: Es bewegt sich zwischen den beiden Extremen der mimetischen Repräsentation und der traumhaften Verfremdung des Geschehens. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit des treffenden Ausdrucks, wird gleichwohl eine möglichst weitgehende sprachliche Annäherung versucht. Vercors’ Traumerzählung wäre damit eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“ (Lux 2008, 358).

Einordnung

Als eine der frühesten literarischen Auseinandersetzungen mit der Shoah ist die Traumerzählung Vercors’ in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. An der ästhetischen Gestaltung des Textes sowie anhand des Publikationskontextes lassen sich mögliche Funktionen ästhetischer Traumfingierung für eine Wirklichkeit erkennen, die an die Grenzen des Darstellbaren stößt.

Die traumtheoretische Reflexion der Einleitung nimmt zunächst einmal Bezug auf das Konzept des Unanimismus, das im Frankreich der ersten Jahrhunderthälfte besonders von Jules Romains in seiner Petite introduction à l’unanimisme (Romains 1933) vertreten wurde. Dieser Ansatz weist gewisse Überschneidungen mit C. J. Jungs Idee eines kollektiven Unbewussten auf, das Jung insbesondere im Zusammenhang mit dem Phänomen des Träumens entwickelt (Jung 1990, v.a. 7-67). Im Traum, so der Erzähler, sei es dem Träumer möglich, eine kollektive Verbindung mit der ‚Weltseele’ einzugehen und damit an einem überindividuellen Wissen teilzuhaben. Aus dieser Vorstellung resultiert zum einen der erzählerische Appell an kollektive Solidarität, die programmatisch einem egozentrischen Individualismus entgegen gesetzt wird. Zum anderen dient der Verweis auf die kollektive Dimension des Träumens dazu, „individualpsychologische Deutungsversuche im Hinblick auf das narrative Ich“ von vornherein auszuschließen (Lux 2008, 337). Damit wird auch dem Traumgeschehen selbst eine kollektive Relevanz zugesprochen. Darüber hinaus wird durch den Bezug auf das unanimistische Konzept die These vertreten, dass der Traum zwar jenseits des logisch Erklärlichen, des rational Fassbaren und des faktisch Beweisbaren liegt. Dennoch kann man sich seinem Wahrheitsgehalt nicht entziehen. Daraus ergeben sich für den Träumer unmittelbare Konsequenzen in der Wachwelt; nämlich das Gebot, dem Weltgeschehen nicht teilnahmslos gegenüber zu stehen.

Diese solidarisierende Wirkung spricht Vercors freilich nicht nur dem Traum, sondern auch der Literatur zu: Angesichts des nationalsozialistischen Grauens müsse das Unrecht mittels der Erzählung „in die Welt hinaus geschrien“ werden (Vercors, zit. nach Riffaud 2002, X). Dies auf Umwegen – in Form einer Traumerzählung – zu tun, schützt in Zeiten politischen Terrors nicht nur Autor und Leser vor Verfolgung. Die Inszenierung nicht nachprüfbarer Fakten als Traum dient, über die von Vercors deklarierte ‚Schonung’ der Hinterbliebenen hinaus, auch dazu, die Entscheidung über die Wahrheit des Berichteten an den Adressaten zu delegieren. Frédéric Canovas geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter: Das Grauen würde vom Leser eher zugelassen, wenn dieser sich im Glauben wiegen könne, dass es nur geträumt sei (Canovas 1999, 343). Nadja Lux hält dem entgegen, dass gerade die Offenheit und Uneindeutigkeit der Erzählung zu deren Glaubwürdigkeit beitragen. „In der Traumfiktion konnte, im Rückgriff auf die Gattungstradition, das Unvorstellbare in den Mantel des bloß Imaginären gehüllt werden. So war es möglich, die Grenzen des Plausiblen, Wahrscheinlichen zu transzendieren“ (Lux 2008, 332). Der Effekt des Grauens, der durch den Rekurs auf die tradierte Bildersprache des Angst- oder Alptraums erzielt wird, kann jedenfalls durchaus als kalkuliert gelten. Unstrittig ist weiterhin, dass der Traum auch „auf die traumatische Befangenheit“ zurückzuführen ist, „die sich der Wiedergabe des Erlebten oder auch nur Berichteten in den Weg stellte. Mithilfe der Traumdarstellung wird auch der eigene Erkenntnisprozess (...) nachvollzogen“ (Lux 2008, 356).

Dem Traum-Ich kommt damit die wichtige Funktion eines Stellvertreters zu; und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen wird der Träumer zum Sprachrohr für diejenigen, die – wie die Traumgestalten im Text – über keine eigene Stimme verfügen. Zum anderen vermittelt er dem angesprochenen Leser den Bewusstwerdungsprozesses im Durchqueren der Alptraumlandschaft buchstäblich schrittweise. Die Vermittlungsposition, die der Traum hier einnimmt, verweist zugleich auf das grundsätzliche Problem der Mitteilbarkeit und der Darstellbarkeit der Shoah. Während den Figuren im Traum selbst die Sprache versagt, nähert sich die Traumsprache des Erzählers dem Grauen an, indem es eben das Ringen um eine angemessene Sprache und die nachhaltige Beschädigung des Vorstellungsvermögens bildlich vor Augen führt.


SG

Literatur

(Illegal gedruckte) Erstausgaben:

Vercors: „Le Songe“, in: Traits (ohne Nummerierung und Seitenzahlen), 14. Juli 1944 (Schweiz).

Vercors: „Le Songe“, in: Les Lettres Françaises (ohne Nummerierung und Seitenzahlen, erste nicht mehr im Untergrund entstandene Ausgabe der Zeitschrift seit 1942), 16. September 1944 (Frankreich).


Erste selbständige Veröffentlichung:

Vercors: Le Songe, 43 Seiten, Paris: Minuit 1945.

Taschenbuchausgabe: Vercors: „Le Songe“, in: ders.: Le silence de la mer et autres récits, Paris: Albin Michel 1988.

Gesamtausgabe: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, hg. von Alain Riffaud, Paris: Omnibus 2002.

Zitierte Ausgabe: Vercors: „Le Songe“, in: ders.: Le silence de la mer et autres œuvres, hg. von Alain Riffaud, Paris: Omnibus 2002, S. 177-186 (=Nouvelles de la guerre et de la Résistance, S. 99-291).

Weitere traum-spezifische Arbeit Vercors’:

Vercors: Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques, Paris: Creuzevault 1934 (Album über die ironische Auseinandersetzung mit der Freud’schen Traumdeutung).


Forschungsliteratur

Agamben, Giorgio: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringheri 1998. Bieber, Konrad F.: L’Allemagne vu par les écrivains de la Résistance française, Genf: Droz / Lille: Giard 1954.

Canovas, Frédéric: „Ce que tout lecteur doit savoir: Vercors, le rêve et l’écriture de la mort“, in: : Cesbron, Georges / Jacquin, Gérard: Vercors et son œuvre, Actes du colloque, Université d’Angers, Mai 1995), Paris: L’Harmattan 1999, S. 417-436.

Cesbron, Georges / Jacquin, Gérard: Vercors et son œuvre, Actes du colloque, Université d’Angers, Mai 1995), Paris: L’Harmattan 1999.

Dufiet, Jean Paul: „Novembre 1943, Le Songe de Vercors: la littérature et la camp de concentration nazi“, in: Roman 20-50 28 (1999), S. 115-127.

Frankl, Viktor E.: Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München: dtv 1988.

Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image während der Zeit der Occupation im Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Schriftsteller Vercors (Jean Bruller) und Robert Brasillach, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1997.

Herzfeld, Claude: „Le Songe ou la mort en situation“, in: Cesbron, Georges / Jacquin, Gérard: Vercors et son œuvre, Actes du colloque, Université d’Angers, Mai 1995), Paris: L’Harmattan 1999, S. 409-416.

Jung, Carl Gustav: Traum und Traumdeutung (= C. G. Jung-Taschenbuch-Gesamtausgabe in elf Bänden, Bd. 4), München: dtv 1990.

Kidd, William: „Vercors – Writing the Unspeakable: From Le Silence de la mer (1942) to La puissance du jour (1951)“, in: European Memories of the Second World War, hg. Helmut Peitsch u.a., New York / Oxford: Berghahn 1999, S. 46-54.

Körte, Mona: „Stummer Zeuge. Der ‚’Muselmann’ in Erinnerung und Erzählung“, in: Silke Segler-Meßner, Monika Neuhofer, Peter Kuon (Hg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: 2006, S. 97-110.

Lux, Nadja: „Alptraum Deutschland“: Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’, Freiburg: Rombach 2008, S. 321-358.

Riffaud, Alain: „Vercors, dessinateur, écrivain, homme engagé“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, hg. von Alain Riffaud, Paris: Omnibus 2002, S. I-XXVI. Romains, Jules: „Petite introduction à l’unanimisme“, in: ders.: Problèmes européens, Paris: Flammarion 1933, S. 217-245.