"Les bagages de sable" (Anna Langfus, geb. Szternfinkiel): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
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==Autorin und Gesamtwerk==
 
==Autorin und Gesamtwerk==
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Die heute weitgehend unbekannte Autorin Anna Langfus wĂ€chst in einer assimilierten jĂŒdischen Familie in Polen auf, studiert Mathematik in Belgien und wird kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei einem Ferienaufenthalt in Polen zusammen mit ihrem Ehemann in das Ghetto Lublin deportiert. Es folgen weitere Verhaftungen und Internierungen. Als einzige Überlebende ihrer Familie lĂ€sst sie sich ab 1946 in Frankreich als Mathematiklehrerin nieder. Langfus zĂ€hlt zu den wenigen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren literarischen Arbeiten die Shoah auf ausdrĂŒcklich fiktionale Weise verarbeiten (Friedemann 2007, 112). Langfus’ Texte sind kaum erforscht. Systematische Studien zum Traum liegen daher bislang nicht vor. Eine Ausnahme bilden Schubert 2001 und Klein 1991, die sich beide mit TrĂ€umen in einem anderen Roman von Langfus, nĂ€mlich ''Le Sel et le soufre'', beschĂ€ftigen. Langfus’ Werk umfasst – neben zwei TheaterstĂŒcken, Hörspielen, essayistischen BeitrĂ€gen zum Judentum und zum Gedenken an die Shoah – vor allem drei Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Erfahrungen von Verfolgung, Vernichtung und Überleben auseinandersetzen. ''Les bagages de sable'' bildet zusammen mit den Romanen ''Le sel et le soufre'' (Salz und Schwefel) von 1960 und ''Saute, Barbara'' (bisher nicht ins Deutsche ĂŒbersetzt) von 1965 eine Art Trilogie: In jedem Werk geht es um Shoah-Überlebende, die ihr Weiterleben als eine unertrĂ€gliche Qual empfinden. WĂ€hrend die Hauptfigur von ''Le sel et le soufre'' persönlich der Judenverfolgung im Warschauer Ghetto und in den GefĂ€ngnissen der Gestapo ausgesetzt ist, handelt ''Saute, Barbara'' von einem Mann, der in den Ruinen Berlins ein Kind entfĂŒhrt, das ihn an seine ermordete Tochter erinnert.
 
Die heute weitgehend unbekannte Autorin Anna Langfus wĂ€chst in einer assimilierten jĂŒdischen Familie in Polen auf, studiert Mathematik in Belgien und wird kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei einem Ferienaufenthalt in Polen zusammen mit ihrem Ehemann in das Ghetto Lublin deportiert. Es folgen weitere Verhaftungen und Internierungen. Als einzige Überlebende ihrer Familie lĂ€sst sie sich ab 1946 in Frankreich als Mathematiklehrerin nieder. Langfus zĂ€hlt zu den wenigen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren literarischen Arbeiten die Shoah auf ausdrĂŒcklich fiktionale Weise verarbeiten (Friedemann 2007, 112). Langfus’ Texte sind kaum erforscht. Systematische Studien zum Traum liegen daher bislang nicht vor. Eine Ausnahme bilden Schubert 2001 und Klein 1991, die sich beide mit TrĂ€umen in einem anderen Roman von Langfus, nĂ€mlich ''Le Sel et le soufre'', beschĂ€ftigen. Langfus’ Werk umfasst – neben zwei TheaterstĂŒcken, Hörspielen, essayistischen BeitrĂ€gen zum Judentum und zum Gedenken an die Shoah – vor allem drei Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Erfahrungen von Verfolgung, Vernichtung und Überleben auseinandersetzen. ''Les bagages de sable'' bildet zusammen mit den Romanen ''Le sel et le soufre'' (Salz und Schwefel) von 1960 und ''Saute, Barbara'' (bisher nicht ins Deutsche ĂŒbersetzt) von 1965 eine Art Trilogie: In jedem Werk geht es um Shoah-Überlebende, die ihr Weiterleben als eine unertrĂ€gliche Qual empfinden. WĂ€hrend die Hauptfigur von ''Le sel et le soufre'' persönlich der Judenverfolgung im Warschauer Ghetto und in den GefĂ€ngnissen der Gestapo ausgesetzt ist, handelt ''Saute, Barbara'' von einem Mann, der in den Ruinen Berlins ein Kind entfĂŒhrt, das ihn an seine ermordete Tochter erinnert.
  
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==''Les bagages de sable''==
 
==''Les bagages de sable''==
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Im Roman irrt eine junge Frau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einzige Überlebende ihrer Familie durch eine Großstadt und trifft dort zufĂ€llig auf einen Ă€lteren Mann, mit dem sie einige Zeit in einem sĂŒdfranzösischen Ferienhaus verbringt. TrĂ€ume bilden die entscheidende Verbindung der Hauptfigur zu ihren ermordeten Familienangehörigen. Der Roman wurde im Jahr seiner Veröffentlichung mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.
 
Im Roman irrt eine junge Frau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einzige Überlebende ihrer Familie durch eine Großstadt und trifft dort zufĂ€llig auf einen Ă€lteren Mann, mit dem sie einige Zeit in einem sĂŒdfranzösischen Ferienhaus verbringt. TrĂ€ume bilden die entscheidende Verbindung der Hauptfigur zu ihren ermordeten Familienangehörigen. Der Roman wurde im Jahr seiner Veröffentlichung mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.
  
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==Die TrÀume==
 
==Die TrÀume==
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TraumerzĂ€hlungen, traumhaft-halluzinatorische Episoden und alptraumartige Wahrnehmungen der Protagonistin Maria stellen ein durchgehendes ErzĂ€hlprinzip des Romans dar. RegelmĂ€ĂŸig erscheinen der Hauptfigur im Traum oder in Visionen die im Konzentrationslager ermordeten Eltern und eine weitere geliebte Figur (BS 10, 47, 158, 204 u.a.). Diese wird in der nur spĂ€rlich vorhandenen Forschung aufgrund einer (oft unreflektiert erfolgenden) autobiographischen Deutung des Romans meist als Ehemann identifiziert (z.B. Friedemann 2007, 124), auch wenn der Text selbst diesbezĂŒglich nicht eindeutig ist und vieles fĂŒr den Bruder spricht.
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TraumerzĂ€hlungen, traumhaft-halluzinatorische Episoden und alptraumartige Wahrnehmungen der Protagonistin Maria stellen ein durchgehendes ErzĂ€hlprinzip des Romans dar. RegelmĂ€ĂŸig erscheinen der Hauptfigur im Traum oder in Visionen die im Konzentrationslager ermordeten Eltern und eine weitere geliebte Figur (BS 10, 47, 158, 204 u.a.). Diese wird in der nur spĂ€rlich vorhandenen Forschung aufgrund einer (oft unreflektiert erfolgenden) autobiographischen Deutung des Romans meist als Ehemann identifiziert (z.B. Friedemann 2007, 124), auch wenn der Text selbst diesbezĂŒglich nicht eindeutig ist und vieles fĂŒr den Bruder spricht.  
 
  
 
Zentrale Themen solcher TrĂ€ume sind das eigene SchuldgefĂŒhl, als einzige die Shoah ĂŒberlebt zu haben, aber auch der Vorwurf des erzĂ€hlenden Ich an die Angehörigen, von ihnen verlassen worden zu sein. In weiteren Alp- und FiebertrĂ€umen (BS 52, 65, 66) bricht die Vergangenheit in die Gegenwart der ErzĂ€hlerin ein. Wichtige Motive sind etwa GebĂ€ude, in denen Menschen und Tiere verbrennen (BS 51), die Folter eines Babys durch die Gestapo (BS 110) oder das Foto eines deportierten Kindes, das helfen soll, die Bedrohung durch deutsche Soldaten abzuwenden (BS 36, 37). Die erzĂ€hlten TrĂ€ume sind selten eindeutig als solche markiert. Jedoch werden sie zumeist gerahmt, etwa durch die Situation des Einschlafens (BS 36), eine nachtrĂ€gliche Fieberdiagnose (BS 67) oder den Anbruch eines neuen Tages (BS 85). Auch der Bericht von zunehmender MĂŒdigkeit oder die direkte Verbindung mit Tagesresten aus zuvor erzĂ€hlten Episoden (BS 37) legen es nahe, bestimmte Passagen als TrĂ€ume zu lesen. Die Protagonistin selbst hat allerdings aufgehört, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden: „il y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais“ (BS 13). Auch die Wachwelt der Hauptfigur ist daher von einer traumhaften, halluzinatorischen Wahrnehmung geprĂ€gt. Damit geht ein grundsĂ€tzlicher Zweifel an der RealitĂ€t bzw. der Eindruck einer Entwirklichung der eigenen Existenz einher. Beispielhaft prĂ€sentiert werden im Folgenden ein nĂ€chtlicher Alptraum und eine Situation, in der die Wirklichkeit als traumhaft erlebt wird.
 
Zentrale Themen solcher TrĂ€ume sind das eigene SchuldgefĂŒhl, als einzige die Shoah ĂŒberlebt zu haben, aber auch der Vorwurf des erzĂ€hlenden Ich an die Angehörigen, von ihnen verlassen worden zu sein. In weiteren Alp- und FiebertrĂ€umen (BS 52, 65, 66) bricht die Vergangenheit in die Gegenwart der ErzĂ€hlerin ein. Wichtige Motive sind etwa GebĂ€ude, in denen Menschen und Tiere verbrennen (BS 51), die Folter eines Babys durch die Gestapo (BS 110) oder das Foto eines deportierten Kindes, das helfen soll, die Bedrohung durch deutsche Soldaten abzuwenden (BS 36, 37). Die erzĂ€hlten TrĂ€ume sind selten eindeutig als solche markiert. Jedoch werden sie zumeist gerahmt, etwa durch die Situation des Einschlafens (BS 36), eine nachtrĂ€gliche Fieberdiagnose (BS 67) oder den Anbruch eines neuen Tages (BS 85). Auch der Bericht von zunehmender MĂŒdigkeit oder die direkte Verbindung mit Tagesresten aus zuvor erzĂ€hlten Episoden (BS 37) legen es nahe, bestimmte Passagen als TrĂ€ume zu lesen. Die Protagonistin selbst hat allerdings aufgehört, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden: „il y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais“ (BS 13). Auch die Wachwelt der Hauptfigur ist daher von einer traumhaften, halluzinatorischen Wahrnehmung geprĂ€gt. Damit geht ein grundsĂ€tzlicher Zweifel an der RealitĂ€t bzw. der Eindruck einer Entwirklichung der eigenen Existenz einher. Beispielhaft prĂ€sentiert werden im Folgenden ein nĂ€chtlicher Alptraum und eine Situation, in der die Wirklichkeit als traumhaft erlebt wird.
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===Der KZ-Traum===
 
===Der KZ-Traum===
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====Situierung====
 
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Der knapp fĂŒnfseitige Traum wird im ersten Drittel des Romans erzĂ€hlt (BS 62-66) und schließt direkt an einen Ausflug der Hauptfigur mit ihrem neuen Bekannten an. Diese Fahrt ins GrĂŒne ist die bisher einzige Episode, in der die Protagonistin ihr Leben fĂŒr einen kurzen Moment nicht als Qual erlebt hat. Die Ich-ErzĂ€hlerin kehrt erschöpft nach Hause zurĂŒck, legt sich angekleidet ins Bett und nimmt im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf eigenartige Körpersymptome und sich merkwĂŒrdig verschiebende Objekte in ihrer Umgebung wahr: Der Klang aus dem Bett fallender Schuhe dröhnt schmerzlich im Kopf, der Leib zittert trotz der Sommerhitze, im Kiefer haben sich zu viele ZĂ€hne ausgebreitet, die GlĂŒhbirne im Zimmer verwandelt sich in eine schrille Feuerglocke. Der Mann, der plötzlich an ihrer Bettkante sitzt und von dem der nun einsetzende Traum handelt, entpuppt sich wĂ€hrend des spĂ€teren Aufwachens als Arzt, der eine schwere Erkrankung seiner Patientin feststellt. Als die ErzĂ€hlerin vollstĂ€ndig erwacht ist, hat sich die Gestalt des Arztes in diejenige ihres Bekannten verwandelt, der sie darĂŒber aufklĂ€rt, wie lange sie geschlafen hat (BS 67).
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Der knapp fĂŒnfseitige <!-- dreiseitige?? -->Traum wird im ersten Drittel des Romans erzĂ€hlt (BS 62-64) und schließt direkt an einen Ausflug der Hauptfigur mit ihrem neuen Bekannten an. Diese Fahrt ins GrĂŒne ist die bisher einzige Episode, in der die Protagonistin ihr Leben fĂŒr einen kurzen Moment nicht als Qual erlebt hat. Die Ich-ErzĂ€hlerin kehrt erschöpft nach Hause zurĂŒck, legt sich angekleidet ins Bett und nimmt im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf eigenartige Körpersymptome und sich merkwĂŒrdig verschiebende Objekte in ihrer Umgebung wahr: Der Klang aus dem Bett fallender Schuhe dröhnt schmerzlich im Kopf, der Leib zittert trotz der Sommerhitze, im Kiefer haben sich zu viele ZĂ€hne ausgebreitet, die GlĂŒhbirne im Zimmer verwandelt sich in eine schrille Feuerglocke. Der Mann, der plötzlich an ihrer Bettkante sitzt und von dem der nun einsetzende Traum handelt, entpuppt sich wĂ€hrend des spĂ€teren Aufwachens als Arzt, der eine schwere Erkrankung seiner Patientin feststellt. Als die ErzĂ€hlerin vollstĂ€ndig erwacht ist, hat sich die Gestalt des Arztes in diejenige ihres Bekannten verwandelt, der sie darĂŒber aufklĂ€rt, wie lange sie geschlafen hat (BS 67).
 
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Der eigentliche Traum setzt mit dem Anblick des unbekannten Mannes an der Bettkante der ErzĂ€hlerin ein (BS 63). Als sie vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bemerkt sie, dass an ihrem RĂŒcken ein schwerer Stein hĂ€ngt, dessen Gewicht sie nach unten zieht. Dieser Stein ist mit einem Seil an ihrem Hals befestigt und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Auf den Vorwurf, dass das GegenĂŒber sie derart gefesselt habe, reagiert der Mann, indem er ihr zeigt, dass er seinerseits unter derselben Last leidet. Es folgt ein Disput darĂŒber, wer wem dieses Leid zugefĂŒgt habe, bevor die TrĂ€umerin versucht, den Anderen, der plötzlich Ähnlichkeit zu ihrem Vater aufweist, mit einem Messer zu befreien. Doch die TrĂ€umerin muss feststellen, dass es sich bei dem Seil um eine lebendige, pulsierende, beide miteinander verbindende Vene handelt, die schließlich zur Schnur der im Zimmer baumelnden Alarmglocke wird.
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Der eigentliche Traum setzt mit dem Anblick des unbekannten Mannes an der Bettkante der ErzĂ€hlerin ein (BS 63). Als sie vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bemerkt sie, dass an ihrem RĂŒcken ein schwerer Stein hĂ€ngt, dessen Gewicht sie nach unten zieht. Dieser Stein ist mit einem Seil an ihrem Hals befestigt und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Auf den Vorwurf, dass das GegenĂŒber sie derart gefesselt habe, reagiert der Mann, indem er ihr zeigt, dass er seinerseits unter derselben Last leidet. Es folgt ein Disput darĂŒber, wer wem dieses Leid zugefĂŒgt habe, bevor die TrĂ€umerin versucht, den Anderen, der plötzlich Ähnlichkeit zu ihrem Vater aufweist, mit einem Messer zu befreien. Doch die TrĂ€umerin muss feststellen, dass es sich bei dem Seil um eine lebendige, pulsierende, beide miteinander verbindende Vene handelt, die schließlich zur Schnur der im Zimmer baumelnden Alarmglocke wird.  
 
  
 
In einer zweiten, direkt anschließenden Traumepisode wechselt die Szenerie in ein Klassenzimmer, in dem die TrĂ€umerin in eine bedrohliche PrĂŒfungssituation versetzt wird (BS 64). Sie soll die Namen von Konzentrationslagern aufsagen, wĂ€hrend sie bemerkt, dass sie mit unziemlichen Schuhen bekleidet ist, die ihre Verhaltensnote herabsetzen könnten. Obwohl sie gut vorbereitet und sich keiner Schuld bewusst ist, wird sie von ihrem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt: Es sind alleine die Namen und Zahlen der Konzentrationslager gefragt, sie hingegen möchte sĂ€mtliche Details nennen, die „keinen Menschen interessieren“ (BS 65). Ihr fehlerhaftes Betragen wird mit den unerlaubten Schuhen erklĂ€rt, und sie selbst weiteren VorwĂŒrfen ausgesetzt; etwa sich im Konzentrationslager falsch verhalten zu haben oder den Namen eines geflohenen HĂ€ftlings zu verschweigen. Der Traum endet mit einer zusĂ€tzlichen DemĂŒtigung: WĂ€hrend der deutsche Lehrer sie ohrfeigt, bittet sie unterwĂŒrfig um eine gute Zensur (BS 66).
 
In einer zweiten, direkt anschließenden Traumepisode wechselt die Szenerie in ein Klassenzimmer, in dem die TrĂ€umerin in eine bedrohliche PrĂŒfungssituation versetzt wird (BS 64). Sie soll die Namen von Konzentrationslagern aufsagen, wĂ€hrend sie bemerkt, dass sie mit unziemlichen Schuhen bekleidet ist, die ihre Verhaltensnote herabsetzen könnten. Obwohl sie gut vorbereitet und sich keiner Schuld bewusst ist, wird sie von ihrem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt: Es sind alleine die Namen und Zahlen der Konzentrationslager gefragt, sie hingegen möchte sĂ€mtliche Details nennen, die „keinen Menschen interessieren“ (BS 65). Ihr fehlerhaftes Betragen wird mit den unerlaubten Schuhen erklĂ€rt, und sie selbst weiteren VorwĂŒrfen ausgesetzt; etwa sich im Konzentrationslager falsch verhalten zu haben oder den Namen eines geflohenen HĂ€ftlings zu verschweigen. Der Traum endet mit einer zusĂ€tzlichen DemĂŒtigung: WĂ€hrend der deutsche Lehrer sie ohrfeigt, bittet sie unterwĂŒrfig um eine gute Zensur (BS 66).
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====Analyse und Interpretation====
 
====Analyse und Interpretation====
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Zentrales Thema des prĂ€sentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabelschnur-Ă€hnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die TrĂ€umende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen VorwĂŒrfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des GegenĂŒbers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lĂ€hmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt.
  
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Zentrales Thema des prĂ€sentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabelschnur-Ă€hnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die TrĂ€umende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen VorwĂŒrfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des GegenĂŒbers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lĂ€hmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt.
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WĂ€hrend der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzĂ€hlt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum ĂŒber das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schulstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenĂŒber: Der Lehrer, der offensichtlich der TĂ€terseite angehört ("l'Allemand"; BS 65), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lĂ€sst keine Antworten jenseits des „rĂšglements“ (BS 64) zu. Das detailreiche Wissen der SchĂŒlerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenĂŒber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (BS 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen ĂŒber die Shoah damit im kollektiven GedĂ€chtnis zu verankern.
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WĂ€hrend der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzĂ€hlt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum ĂŒber das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schuldstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenĂŒber: Der Lehrer, der offensichtlich der TĂ€terseite angehört ("l'Allemand"; BS 65), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lĂ€sst keine Antworten jenseits des „rĂšglements“ (BS 64) zu. Das detailreiche Wissen der SchĂŒlerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenĂŒber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (BS 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen ĂŒber die Shoah damit im kollektiven GedĂ€chtnis zu verankern.  
 
  
 
Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitlĂ€ufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zĂ€hlen etwa das diffuse SchuldgefĂŒhl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mĂŒhselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem GepĂ€ck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffĂ€lliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der MĂŒhe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stĂ¶ĂŸt. Die unertrĂ€gliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quĂ€lenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch BS 47 u. 49), erinnert darĂŒber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen wĂŒrde.
 
Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitlĂ€ufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zĂ€hlen etwa das diffuse SchuldgefĂŒhl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mĂŒhselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem GepĂ€ck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffĂ€lliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der MĂŒhe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stĂ¶ĂŸt. Die unertrĂ€gliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quĂ€lenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch BS 47 u. 49), erinnert darĂŒber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen wĂŒrde.
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===Die Ferienidylle als Traum===
 
===Die Ferienidylle als Traum===
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====Situierung====
 
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Das schmerzende Licht der Sonne, der Transport von GepĂ€ck und der vergebliche Gedanke an Selbstmord spielen auch in jener fĂŒnfseitigen Passage eine wichtige Rolle, die von der Ankunft des ungleichen Paares in ihrem Ferienort erzĂ€hlt (BS 77-81). Eingerahmt wird sie von scheinbar eindeutigen Traummarkierungen: zu Beginn durch das Einschlafen im Zug, der gen SĂŒden rollt, sowie den Eindruck der Ich-ErzĂ€hlerin, im Schlaf die bislang bekannte Welt zu verlassen: „Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu“ (BS 77). Am Schluss der Episode erkundigt sich der Begleiter bei der Protagonistin, ob sie gut geschlafen habe (BS 81). Außerdem tragen mehrere bereits zuvor erzĂ€hlte TrĂ€ume dazu bei, auch diese Episode als Traum zu lesen. RĂŒckwirkend allerdings, wenn die ErzĂ€hlung nĂ€mlich mit dem Aufenthalt im Ferienhaus und einem Restaurantbesuch fortfĂ€hrt, lĂ€sst sich erkennen, dass der Zug inzwischen tatsĂ€chlich angekommen ist, die beiden Figuren also wirklich ausgestiegen sind und den Weg vom Bahnhof zu ihrem Domizil zurĂŒckgelegt haben, wo die Hauptfigur erschöpft ins Bett fĂ€llt.
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Das schmerzende Licht der Sonne, der Transport von GepĂ€ck und der vergebliche Gedanke an Selbstmord spielen auch in jener fĂŒnfseitigen Passage eine wichtige Rolle, die von der Ankunft des ungleichen Paares in ihrem Ferienort erzĂ€hlt (BS 77-81). Eingerahmt wird sie von scheinbar eindeutigen Traummarkierungen: zu Beginn durch das Einschlafen im Zug, der gen SĂŒden rollt, sowie den Eindruck der Ich-ErzĂ€hlerin, im Schlaf die bislang bekannte Welt zu verlassen: „Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu“ (BS 77). Am Schluss der Episode erkundigt sich der Begleiter bei der Protagonistin, ob sie gut geschlafen habe (BS 81). Außerdem tragen mehrere bereits zuvor erzĂ€hlte TrĂ€ume dazu bei, auch diese Episode als Traum zu lesen. RĂŒckwirkend allerdings, wenn die ErzĂ€hlung nĂ€mlich mit dem Aufenthalt im Ferienhaus und einem Restaurantbesuch fortfĂ€hrt, lĂ€sst sich erkennen, dass der Zug inzwischen tatsĂ€chlich angekommen ist, die beiden Figuren also wirklich ausgestiegen sind und den Weg vom Bahnhof zu ihrem Domizil zurĂŒckgelegt haben, wo die Hauptfigur erschöpft ins Bett fĂ€llt.  
 
  
 
Ein weiteres wichtiges Moment der Situierung ist der Beginn der Zugreise, von dem unmittelbar zuvor berichtet wird. Hier werden offensichtlich traumatische Erfahrungen der Protagonistin evoziert: die halluzinierte Begegnung mit dem ermordeten Geliebten, der ihr VorwĂŒrfe angesichts der bevorstehenden Reise macht, ein anschließender Weinkrampf, die Angst vor der Kontrolle durch Bahnbeamte und einer möglichen Verhaftung oder vor dem Signal und dem Rauch der ZĂŒge, die wie trĂ€umende Tiere wirken. All diese Elemente stellen die Episode in den motivisch-assoziativen Kontext der Deportation.
 
Ein weiteres wichtiges Moment der Situierung ist der Beginn der Zugreise, von dem unmittelbar zuvor berichtet wird. Hier werden offensichtlich traumatische Erfahrungen der Protagonistin evoziert: die halluzinierte Begegnung mit dem ermordeten Geliebten, der ihr VorwĂŒrfe angesichts der bevorstehenden Reise macht, ein anschließender Weinkrampf, die Angst vor der Kontrolle durch Bahnbeamte und einer möglichen Verhaftung oder vor dem Signal und dem Rauch der ZĂŒge, die wie trĂ€umende Tiere wirken. All diese Elemente stellen die Episode in den motivisch-assoziativen Kontext der Deportation.
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====Beschreibung, Analyse und Interpretation====
 
====Beschreibung, Analyse und Interpretation====
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Die Passage fĂ€hrt mit einem abrupten Szenenwechsel fort, der eine traumhafte Landschaft prĂ€sentiert. Das erzĂ€hlende Ich durchquert eine Idylle, die als gĂ€nzlich irreal erlebt wird. Alle Elemente der Umgebung scheinen kĂŒnstlich und einer auf Illusion angelegten Theaterszenerie anzugehören: Die KleidungsstĂŒcke der Passanten wirken wie KostĂŒme, Sonne, Himmel und Landschaft wie gemalte Kulissen, die HĂ€uschen, als seien sie aus Pappmaschee angefertigt (BS 79). Auch Formulierungen wie „dĂ©cor“, „travesti“, „figurants“, „scĂšne gĂ©ante“ und „spectateurs“ (BS 77 f.) unterstreichen den theaterhaften Eindruck. Das erzĂ€hlende Ich entscheidet sich, selbst zur Mitwirkenden an diesem „recht lustigen StĂŒck“ (BS 78) zu werden. Auch wenn ihr die Rolle fremd bleibt, versucht sie, diese gut zu spielen (ebd.). Zugleich nimmt sie aber die konventionelle Rolle der Zuschauerin ein: Einerseits erliegt sie der Illusion des Theaters, andererseits weiß sie genau, dass es sich dabei um eine Illusion handelt: „Bien sĂ»r, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel“ (ebd.). Über die Theatermetapher hinaus werden auch andere Formen des Ästhetisch-KĂŒnstlerischen mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit in Verbindung gebracht: Sie erscheint wie ein gemaltes Bild („une belle toile peinte“, BS 79) oder ein Film, der von einem „projecteur monstre“ (BS 78) abgespielt wird.
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Die Passage fĂ€hrt mit einem abrupten Szenenwechsel fort, der eine traumhafte Landschaft prĂ€sentiert. Das erzĂ€hlende Ich durchquert eine Idylle, die als gĂ€nzlich irreal erlebt wird. Alle Elemente der Umgebung scheinen kĂŒnstlich und einer auf Illusion angelegten Theaterszenerie anzugehören: Die KleidungsstĂŒcke der Passanten wirken wie KostĂŒme, Sonne, Himmel und Landschaft wie gemalte Kulissen, die HĂ€uschen, als seien sie aus Pappmaschee angefertigt (BS 79). Auch Formulierungen wie „dĂ©cor“, „travesti“, „figurants“, „scĂšne gĂ©ante“ und „spectateurs“ (BS 77 f.) unterstreichen den theaterhaften Eindruck. Das erzĂ€hlende Ich entscheidet sich, selbst zur Mitwirkenden an diesem „recht lustigen StĂŒck“ (BS 78) zu werden. Auch wenn ihr die Rolle fremd bleibt, versucht sie, diese gut zu spielen (ebd.). Zugleich nimmt sie aber die konventionelle Rolle der Zuschauerin ein: Einerseits erliegt sie der Illusion des Theaters, andererseits weiß sie genau, dass es sich dabei um eine Illusion handelt: „Bien sĂ»r, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel“ (ebd.). Über die Theatermetapher hinaus werden auch andere Formen des Ästhetisch-KĂŒnstlerischen mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit in Verbindung gebracht: Sie erscheint wie ein gemaltes Bild („une belle toile peinte“, BS 79) oder ein Film, der von einem „projecteur monstre“ (BS 78) abgespielt wird.  
 
  
 
Doch in dieser Passage wird nicht nur die Umgebung wie ein Traum erlebt. Das Wahrgenommene wird zugleich auch als traumhaft reflektiert: Die BĂ€ume werden als „arbres de songe“ bezeichnet, die „vĂ©gĂ©tation“ als „imaginaire“ (ebd.) und die Umgebung als ein Treibhaus, in dem sich Jahrhunderte alte, von Kinderbildern ĂŒberlagerte TrĂ€ume angesammelt haben. Im Zusammenhang mit dem Eindruck des erzĂ€hlenden Ich, sich durch die Verdichtung unzĂ€hliger bereits zuvor getrĂ€umter TrĂ€ume zu bewegen, ist vor allem der Schluss der Passage bedeutsam. Die ErzĂ€hlerin ist von der Wirklichkeit derart entfremdet, dass sie sich letztlich selbst als unwirklich erlebt: Weil ihr beim Einschlafen die GerĂ€usche im Haus irreal vorkommen, erwĂ€gt sie die These, dass auch sie selbst gar nicht wirklich existiert, sondern nur eine Gestalt aus den TrĂ€umen der Toten ist. Im Bett liegend, nimmt sie allerdings noch die Decken-Balken des wirklichen Schlafzimmers als gute Möglichkeit war, um sich daran aufzuhĂ€ngen, bevor sie tatsĂ€chlich einschlĂ€ft.
 
Doch in dieser Passage wird nicht nur die Umgebung wie ein Traum erlebt. Das Wahrgenommene wird zugleich auch als traumhaft reflektiert: Die BĂ€ume werden als „arbres de songe“ bezeichnet, die „vĂ©gĂ©tation“ als „imaginaire“ (ebd.) und die Umgebung als ein Treibhaus, in dem sich Jahrhunderte alte, von Kinderbildern ĂŒberlagerte TrĂ€ume angesammelt haben. Im Zusammenhang mit dem Eindruck des erzĂ€hlenden Ich, sich durch die Verdichtung unzĂ€hliger bereits zuvor getrĂ€umter TrĂ€ume zu bewegen, ist vor allem der Schluss der Passage bedeutsam. Die ErzĂ€hlerin ist von der Wirklichkeit derart entfremdet, dass sie sich letztlich selbst als unwirklich erlebt: Weil ihr beim Einschlafen die GerĂ€usche im Haus irreal vorkommen, erwĂ€gt sie die These, dass auch sie selbst gar nicht wirklich existiert, sondern nur eine Gestalt aus den TrĂ€umen der Toten ist. Im Bett liegend, nimmt sie allerdings noch die Decken-Balken des wirklichen Schlafzimmers als gute Möglichkeit war, um sich daran aufzuhĂ€ngen, bevor sie tatsĂ€chlich einschlĂ€ft.
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In mehrfacher Hinsicht können die TrĂ€ume im Werk von Anna Langfus als paradigmatisch fĂŒr die literarische Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung - genauer: dem Überleben der Shoah - gelten: Die beiden prĂ€sentierten Passagen sind Beispiele dafĂŒr, wie in Langfus’ Roman das VerhĂ€ltnis von Traum und Wirklichkeit umgekehrt wird: Was Wirklichkeit ist, wird erlebt wie ein Traum; die TrĂ€ume selbst hingegen erscheinen ausgesprochen realistisch und sind fĂŒr die TrĂ€umende auch nachtrĂ€glich nicht von der Wachwelt zu unterscheiden. FĂŒr die Figur sind SchlaftrĂ€ume, traumatische Erfahrung, traumhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und Selbstentfremdung untrennbar miteinander verflochten (Klein 1991, 517). Eine solche Verflechtung wird zusĂ€tzlich auf der formalen Ebene des Textes erreicht, und zwar durch die zahlreichen Traum-Motive, den Titel, das Ende (v.a. BS 236) und das Motto des Romans, die sich jeweils auf das Gedicht ''La mort rose'' aus der Gedichtsammlung ''Le Revolver aux cheveux blancs'' von AndrĂ© Breton aus dem Jahre 1932 beziehen.
  
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In mehrfacher Hinsicht können die TrĂ€ume im Werk von Anna Langfus als paradigmatisch fĂŒr die literarische Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung - genauer: dem Überleben der Shoah - gelten: Die beiden prĂ€sentierten Passagen sind Beispiele dafĂŒr, wie in Langfus’ Roman das VerhĂ€ltnis von Traum und Wirklichkeit umgekehrt wird: Was Wirklichkeit ist, wird erlebt wie ein Traum; die TrĂ€ume selbst hingegen erscheinen ausgesprochen realistisch und sind fĂŒr die TrĂ€umende auch nachtrĂ€glich nicht von der Wachwelt zu unterscheiden. FĂŒr die Figur sind SchlaftrĂ€ume, traumatische Erfahrung, traumhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und Selbstentfremdung untrennbar miteinander verflochten (Klein 1991, 517). Eine solche Verflechtung wird zusĂ€tzlich auf der formalen Ebene des Textes erreicht, und zwar durch die zahlreichen Traum-Motive, den Titel, das Ende (v.a. BS 236) und das Motto des Romans, die sich jeweils auf das Gedicht ''La mort rose'' aus der Gedichtsammlung ''Le Revolver aux cheveux blancs'' von AndrĂ© Breton aus dem Jahre 1932 beziehen. Die Protagonistin selbst hat den Eindruck, nur in den TrĂ€umen Verstorbener zu existieren.  
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Die Protagonistin selbst hat den Eindruck, nur in den TrĂ€umen Verstorbener zu existieren. Diese Erfahrung einer fundamentalen Entwirklichung findet sich auch in zahlreichen weiteren Texten ĂŒber die Shoah. Als „ĂȘtre fictif“ (BS 81) geistert die Überlebende durch die HĂ€user der Opfer und wird so zu einer Art Gespenst; einem „revenant“ im wörtlichen Sinne: einer WiedergĂ€ngerin, die sich zwischen den Welten und Zeiten bewegt (Weinberg 1999, 175). Die gĂ€nzlich unwahrscheinliche Erfahrung, die Shoah ĂŒberlebt zu haben, lĂ€sst sich fĂŒr Langfus nicht vermitteln (v.a. BS 22-28 und Langfus 1963) – zumindest nicht als linearer, rational nachvollziehbarer Erfahrungsbericht. In AlprĂ€umen, flash-backs und dem Eindruck traumhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit hingegen – also jenseits einer ‚realistischen’ Darstellung (vgl. Schubert 2001, 343) – ist sie ĂŒber den gesamten Roman hinweg prĂ€sent.
  
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Diese Erfahrung einer fundamentalen Entwirklichung findet sich auch in zahlreichen weiteren Texten ĂŒber die Shoah. Als „ĂȘtre fictif“ (BS 81) geistert die Überlebende durch die HĂ€user der Opfer und wird so zu einer Art Gespenst; einem „revenant“ im wörtlichen Sinne: einer WiedergĂ€ngerin, die sich zwischen den Welten und Zeiten bewegt (Weinberg 1999, 175). Die gĂ€nzlich unwahrscheinliche Erfahrung, die Shoah ĂŒberlebt zu haben, lĂ€sst sich fĂŒr Langfus nicht vermitteln (v.a. BS 22-28 und Langfus 1963) – zumindest nicht als linearer, rational nachvollziehbarer Erfahrungsbericht. In AlprĂ€umen, flash-backs und dem Eindruck traumhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit hingegen – also jenseits einer ‚realistischen’ Darstellung (vgl. Schubert 2001, 343) – ist sie ĂŒber den gesamten Roman hinweg prĂ€sent.
 
  
  
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===Ausgaben / Quellen===
 
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* Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1962.
  
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* Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1962.
 
 
(= zitierte Ausgabe; zitiert als BS)
 
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* Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1981 (Folio 1283).
 
* Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1981 (Folio 1283).
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(= Taschenbuchausgabe)
 
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* Anna Langfus: GepĂ€ck aus Sand, ĂŒbers. von Yvonne Meier-Haas. MĂŒnchen: Piper 1964.
 
* Anna Langfus: GepĂ€ck aus Sand, ĂŒbers. von Yvonne Meier-Haas. MĂŒnchen: Piper 1964.
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(= deutsche Übersetzung)
 
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===Forschungsliteratur===
 
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* Clark Schaneman, Judith: Writing to survive. The Novels of Anna Langfus. In: Women in French Studies 9 (2001), 92-105.
 
* Clark Schaneman, Judith: Writing to survive. The Novels of Anna Langfus. In: Women in French Studies 9 (2001), 92-105.
  
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* Schubert, Katja: Notwendige Umwege. GedĂ€chtnis und Zeugenschaft in Texten jĂŒdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Ausschwitz/ Voies de traverses obligĂ©es. Hildesheim: Olms 2001, zu Langfus’ Roman ''Le sel et le soufre'': 340-348.
 
* Schubert, Katja: Notwendige Umwege. GedĂ€chtnis und Zeugenschaft in Texten jĂŒdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Ausschwitz/ Voies de traverses obligĂ©es. Hildesheim: Olms 2001, zu Langfus’ Roman ''Le sel et le soufre'': 340-348.
  
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* Jensen, Merete Stristrup: Genre littĂ©raire et rĂ©cits issus de l’expĂ©rience concentrationnaire. L’exemple d’Anna Langfus. In: Dies. u.a. (Hg.): FrontiĂšres de genres, migrations, transferts, transgressions. Lyon: PUL 2005, 157-172.
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* Jensen, Merete Stistrup: Genre littĂ©raire et rĂ©cits issus de l’expĂ©rience concentrationnaire. L’exemple d’Anna Langfus. In: Dies. u.a. (Hg.): FrontiĂšres de genres, migrations, transferts, transgressions. Lyon: PUL 2005, 157-172.
  
 
* Weinberg, Manfred: Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und GedĂ€chtnis. In: Elisabeth Bronfen/Sigrid Weigel u.a. (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln: Böhlau 1999, 173-206.
 
* Weinberg, Manfred: Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und GedĂ€chtnis. In: Elisabeth Bronfen/Sigrid Weigel u.a. (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln: Böhlau 1999, 173-206.
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Solte-Gresser, Christiane: "Les bagages de sable" (Anna Langfus, geb. Szternfinkiel). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Les_bagages_de_sable%22_(Anna_Langfus,_geb._Szternfinkiel) .
  
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Aktuelle Version vom 11. Dezember 2018, 20:04 Uhr

Les bagages de sable (GepĂ€ck aus Sand) ist ein 1962 erstmals veröffentlichter Roman der polnisch-französischen Schriftstellerin Anna Langfus (geb. 2. Januar 1902 in Lublin, gest. 12. Mai 1966 in Paris). Er erzĂ€hlt von den Versuchen der Protagonistin, als Shoah-Überlebende in der NachkriegsrealitĂ€t Fuß zu fassen. Traumberichte und traumhaftes ErzĂ€hlen spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle fĂŒr die Darstellung traumatischer Erfahrung.


Autorin und Gesamtwerk

Die heute weitgehend unbekannte Autorin Anna Langfus wĂ€chst in einer assimilierten jĂŒdischen Familie in Polen auf, studiert Mathematik in Belgien und wird kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei einem Ferienaufenthalt in Polen zusammen mit ihrem Ehemann in das Ghetto Lublin deportiert. Es folgen weitere Verhaftungen und Internierungen. Als einzige Überlebende ihrer Familie lĂ€sst sie sich ab 1946 in Frankreich als Mathematiklehrerin nieder. Langfus zĂ€hlt zu den wenigen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren literarischen Arbeiten die Shoah auf ausdrĂŒcklich fiktionale Weise verarbeiten (Friedemann 2007, 112). Langfus’ Texte sind kaum erforscht. Systematische Studien zum Traum liegen daher bislang nicht vor. Eine Ausnahme bilden Schubert 2001 und Klein 1991, die sich beide mit TrĂ€umen in einem anderen Roman von Langfus, nĂ€mlich Le Sel et le soufre, beschĂ€ftigen. Langfus’ Werk umfasst – neben zwei TheaterstĂŒcken, Hörspielen, essayistischen BeitrĂ€gen zum Judentum und zum Gedenken an die Shoah – vor allem drei Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Erfahrungen von Verfolgung, Vernichtung und Überleben auseinandersetzen. Les bagages de sable bildet zusammen mit den Romanen Le sel et le soufre (Salz und Schwefel) von 1960 und Saute, Barbara (bisher nicht ins Deutsche ĂŒbersetzt) von 1965 eine Art Trilogie: In jedem Werk geht es um Shoah-Überlebende, die ihr Weiterleben als eine unertrĂ€gliche Qual empfinden. WĂ€hrend die Hauptfigur von Le sel et le soufre persönlich der Judenverfolgung im Warschauer Ghetto und in den GefĂ€ngnissen der Gestapo ausgesetzt ist, handelt Saute, Barbara von einem Mann, der in den Ruinen Berlins ein Kind entfĂŒhrt, das ihn an seine ermordete Tochter erinnert.


Les bagages de sable

Im Roman irrt eine junge Frau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einzige Überlebende ihrer Familie durch eine Großstadt und trifft dort zufĂ€llig auf einen Ă€lteren Mann, mit dem sie einige Zeit in einem sĂŒdfranzösischen Ferienhaus verbringt. TrĂ€ume bilden die entscheidende Verbindung der Hauptfigur zu ihren ermordeten Familienangehörigen. Der Roman wurde im Jahr seiner Veröffentlichung mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.


Die TrÀume

TraumerzĂ€hlungen, traumhaft-halluzinatorische Episoden und alptraumartige Wahrnehmungen der Protagonistin Maria stellen ein durchgehendes ErzĂ€hlprinzip des Romans dar. RegelmĂ€ĂŸig erscheinen der Hauptfigur im Traum oder in Visionen die im Konzentrationslager ermordeten Eltern und eine weitere geliebte Figur (BS 10, 47, 158, 204 u.a.). Diese wird in der nur spĂ€rlich vorhandenen Forschung aufgrund einer (oft unreflektiert erfolgenden) autobiographischen Deutung des Romans meist als Ehemann identifiziert (z.B. Friedemann 2007, 124), auch wenn der Text selbst diesbezĂŒglich nicht eindeutig ist und vieles fĂŒr den Bruder spricht.

Zentrale Themen solcher TrĂ€ume sind das eigene SchuldgefĂŒhl, als einzige die Shoah ĂŒberlebt zu haben, aber auch der Vorwurf des erzĂ€hlenden Ich an die Angehörigen, von ihnen verlassen worden zu sein. In weiteren Alp- und FiebertrĂ€umen (BS 52, 65, 66) bricht die Vergangenheit in die Gegenwart der ErzĂ€hlerin ein. Wichtige Motive sind etwa GebĂ€ude, in denen Menschen und Tiere verbrennen (BS 51), die Folter eines Babys durch die Gestapo (BS 110) oder das Foto eines deportierten Kindes, das helfen soll, die Bedrohung durch deutsche Soldaten abzuwenden (BS 36, 37). Die erzĂ€hlten TrĂ€ume sind selten eindeutig als solche markiert. Jedoch werden sie zumeist gerahmt, etwa durch die Situation des Einschlafens (BS 36), eine nachtrĂ€gliche Fieberdiagnose (BS 67) oder den Anbruch eines neuen Tages (BS 85). Auch der Bericht von zunehmender MĂŒdigkeit oder die direkte Verbindung mit Tagesresten aus zuvor erzĂ€hlten Episoden (BS 37) legen es nahe, bestimmte Passagen als TrĂ€ume zu lesen. Die Protagonistin selbst hat allerdings aufgehört, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden: „il y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais“ (BS 13). Auch die Wachwelt der Hauptfigur ist daher von einer traumhaften, halluzinatorischen Wahrnehmung geprĂ€gt. Damit geht ein grundsĂ€tzlicher Zweifel an der RealitĂ€t bzw. der Eindruck einer Entwirklichung der eigenen Existenz einher. Beispielhaft prĂ€sentiert werden im Folgenden ein nĂ€chtlicher Alptraum und eine Situation, in der die Wirklichkeit als traumhaft erlebt wird.


Der KZ-Traum

Situierung

Der knapp fĂŒnfseitige Traum wird im ersten Drittel des Romans erzĂ€hlt (BS 62-66) und schließt direkt an einen Ausflug der Hauptfigur mit ihrem neuen Bekannten an. Diese Fahrt ins GrĂŒne ist die bisher einzige Episode, in der die Protagonistin ihr Leben fĂŒr einen kurzen Moment nicht als Qual erlebt hat. Die Ich-ErzĂ€hlerin kehrt erschöpft nach Hause zurĂŒck, legt sich angekleidet ins Bett und nimmt im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf eigenartige Körpersymptome und sich merkwĂŒrdig verschiebende Objekte in ihrer Umgebung wahr: Der Klang aus dem Bett fallender Schuhe dröhnt schmerzlich im Kopf, der Leib zittert trotz der Sommerhitze, im Kiefer haben sich zu viele ZĂ€hne ausgebreitet, die GlĂŒhbirne im Zimmer verwandelt sich in eine schrille Feuerglocke. Der Mann, der plötzlich an ihrer Bettkante sitzt und von dem der nun einsetzende Traum handelt, entpuppt sich wĂ€hrend des spĂ€teren Aufwachens als Arzt, der eine schwere Erkrankung seiner Patientin feststellt. Als die ErzĂ€hlerin vollstĂ€ndig erwacht ist, hat sich die Gestalt des Arztes in diejenige ihres Bekannten verwandelt, der sie darĂŒber aufklĂ€rt, wie lange sie geschlafen hat (BS 67).

Beschreibung

Der eigentliche Traum setzt mit dem Anblick des unbekannten Mannes an der Bettkante der ErzĂ€hlerin ein (BS 63). Als sie vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bemerkt sie, dass an ihrem RĂŒcken ein schwerer Stein hĂ€ngt, dessen Gewicht sie nach unten zieht. Dieser Stein ist mit einem Seil an ihrem Hals befestigt und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Auf den Vorwurf, dass das GegenĂŒber sie derart gefesselt habe, reagiert der Mann, indem er ihr zeigt, dass er seinerseits unter derselben Last leidet. Es folgt ein Disput darĂŒber, wer wem dieses Leid zugefĂŒgt habe, bevor die TrĂ€umerin versucht, den Anderen, der plötzlich Ähnlichkeit zu ihrem Vater aufweist, mit einem Messer zu befreien. Doch die TrĂ€umerin muss feststellen, dass es sich bei dem Seil um eine lebendige, pulsierende, beide miteinander verbindende Vene handelt, die schließlich zur Schnur der im Zimmer baumelnden Alarmglocke wird.

In einer zweiten, direkt anschließenden Traumepisode wechselt die Szenerie in ein Klassenzimmer, in dem die TrĂ€umerin in eine bedrohliche PrĂŒfungssituation versetzt wird (BS 64). Sie soll die Namen von Konzentrationslagern aufsagen, wĂ€hrend sie bemerkt, dass sie mit unziemlichen Schuhen bekleidet ist, die ihre Verhaltensnote herabsetzen könnten. Obwohl sie gut vorbereitet und sich keiner Schuld bewusst ist, wird sie von ihrem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt: Es sind alleine die Namen und Zahlen der Konzentrationslager gefragt, sie hingegen möchte sĂ€mtliche Details nennen, die „keinen Menschen interessieren“ (BS 65). Ihr fehlerhaftes Betragen wird mit den unerlaubten Schuhen erklĂ€rt, und sie selbst weiteren VorwĂŒrfen ausgesetzt; etwa sich im Konzentrationslager falsch verhalten zu haben oder den Namen eines geflohenen HĂ€ftlings zu verschweigen. Der Traum endet mit einer zusĂ€tzlichen DemĂŒtigung: WĂ€hrend der deutsche Lehrer sie ohrfeigt, bittet sie unterwĂŒrfig um eine gute Zensur (BS 66).


Analyse und Interpretation

Zentrales Thema des prĂ€sentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabelschnur-Ă€hnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die TrĂ€umende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen VorwĂŒrfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des GegenĂŒbers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lĂ€hmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt.

WĂ€hrend der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzĂ€hlt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum ĂŒber das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schulstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenĂŒber: Der Lehrer, der offensichtlich der TĂ€terseite angehört ("l'Allemand"; BS 65), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lĂ€sst keine Antworten jenseits des „rĂšglements“ (BS 64) zu. Das detailreiche Wissen der SchĂŒlerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenĂŒber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (BS 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen ĂŒber die Shoah damit im kollektiven GedĂ€chtnis zu verankern.

Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitlĂ€ufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zĂ€hlen etwa das diffuse SchuldgefĂŒhl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mĂŒhselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem GepĂ€ck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffĂ€lliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der MĂŒhe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stĂ¶ĂŸt. Die unertrĂ€gliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quĂ€lenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch BS 47 u. 49), erinnert darĂŒber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen wĂŒrde.


Die Ferienidylle als Traum

Situierung

Das schmerzende Licht der Sonne, der Transport von GepĂ€ck und der vergebliche Gedanke an Selbstmord spielen auch in jener fĂŒnfseitigen Passage eine wichtige Rolle, die von der Ankunft des ungleichen Paares in ihrem Ferienort erzĂ€hlt (BS 77-81). Eingerahmt wird sie von scheinbar eindeutigen Traummarkierungen: zu Beginn durch das Einschlafen im Zug, der gen SĂŒden rollt, sowie den Eindruck der Ich-ErzĂ€hlerin, im Schlaf die bislang bekannte Welt zu verlassen: „Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu“ (BS 77). Am Schluss der Episode erkundigt sich der Begleiter bei der Protagonistin, ob sie gut geschlafen habe (BS 81). Außerdem tragen mehrere bereits zuvor erzĂ€hlte TrĂ€ume dazu bei, auch diese Episode als Traum zu lesen. RĂŒckwirkend allerdings, wenn die ErzĂ€hlung nĂ€mlich mit dem Aufenthalt im Ferienhaus und einem Restaurantbesuch fortfĂ€hrt, lĂ€sst sich erkennen, dass der Zug inzwischen tatsĂ€chlich angekommen ist, die beiden Figuren also wirklich ausgestiegen sind und den Weg vom Bahnhof zu ihrem Domizil zurĂŒckgelegt haben, wo die Hauptfigur erschöpft ins Bett fĂ€llt.

Ein weiteres wichtiges Moment der Situierung ist der Beginn der Zugreise, von dem unmittelbar zuvor berichtet wird. Hier werden offensichtlich traumatische Erfahrungen der Protagonistin evoziert: die halluzinierte Begegnung mit dem ermordeten Geliebten, der ihr VorwĂŒrfe angesichts der bevorstehenden Reise macht, ein anschließender Weinkrampf, die Angst vor der Kontrolle durch Bahnbeamte und einer möglichen Verhaftung oder vor dem Signal und dem Rauch der ZĂŒge, die wie trĂ€umende Tiere wirken. All diese Elemente stellen die Episode in den motivisch-assoziativen Kontext der Deportation.


Beschreibung, Analyse und Interpretation

Die Passage fĂ€hrt mit einem abrupten Szenenwechsel fort, der eine traumhafte Landschaft prĂ€sentiert. Das erzĂ€hlende Ich durchquert eine Idylle, die als gĂ€nzlich irreal erlebt wird. Alle Elemente der Umgebung scheinen kĂŒnstlich und einer auf Illusion angelegten Theaterszenerie anzugehören: Die KleidungsstĂŒcke der Passanten wirken wie KostĂŒme, Sonne, Himmel und Landschaft wie gemalte Kulissen, die HĂ€uschen, als seien sie aus Pappmaschee angefertigt (BS 79). Auch Formulierungen wie „dĂ©cor“, „travesti“, „figurants“, „scĂšne gĂ©ante“ und „spectateurs“ (BS 77 f.) unterstreichen den theaterhaften Eindruck. Das erzĂ€hlende Ich entscheidet sich, selbst zur Mitwirkenden an diesem „recht lustigen StĂŒck“ (BS 78) zu werden. Auch wenn ihr die Rolle fremd bleibt, versucht sie, diese gut zu spielen (ebd.). Zugleich nimmt sie aber die konventionelle Rolle der Zuschauerin ein: Einerseits erliegt sie der Illusion des Theaters, andererseits weiß sie genau, dass es sich dabei um eine Illusion handelt: „Bien sĂ»r, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel“ (ebd.). Über die Theatermetapher hinaus werden auch andere Formen des Ästhetisch-KĂŒnstlerischen mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit in Verbindung gebracht: Sie erscheint wie ein gemaltes Bild („une belle toile peinte“, BS 79) oder ein Film, der von einem „projecteur monstre“ (BS 78) abgespielt wird.

Doch in dieser Passage wird nicht nur die Umgebung wie ein Traum erlebt. Das Wahrgenommene wird zugleich auch als traumhaft reflektiert: Die BĂ€ume werden als „arbres de songe“ bezeichnet, die „vĂ©gĂ©tation“ als „imaginaire“ (ebd.) und die Umgebung als ein Treibhaus, in dem sich Jahrhunderte alte, von Kinderbildern ĂŒberlagerte TrĂ€ume angesammelt haben. Im Zusammenhang mit dem Eindruck des erzĂ€hlenden Ich, sich durch die Verdichtung unzĂ€hliger bereits zuvor getrĂ€umter TrĂ€ume zu bewegen, ist vor allem der Schluss der Passage bedeutsam. Die ErzĂ€hlerin ist von der Wirklichkeit derart entfremdet, dass sie sich letztlich selbst als unwirklich erlebt: Weil ihr beim Einschlafen die GerĂ€usche im Haus irreal vorkommen, erwĂ€gt sie die These, dass auch sie selbst gar nicht wirklich existiert, sondern nur eine Gestalt aus den TrĂ€umen der Toten ist. Im Bett liegend, nimmt sie allerdings noch die Decken-Balken des wirklichen Schlafzimmers als gute Möglichkeit war, um sich daran aufzuhĂ€ngen, bevor sie tatsĂ€chlich einschlĂ€ft.


Einordnung

In mehrfacher Hinsicht können die TrĂ€ume im Werk von Anna Langfus als paradigmatisch fĂŒr die literarische Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung - genauer: dem Überleben der Shoah - gelten: Die beiden prĂ€sentierten Passagen sind Beispiele dafĂŒr, wie in Langfus’ Roman das VerhĂ€ltnis von Traum und Wirklichkeit umgekehrt wird: Was Wirklichkeit ist, wird erlebt wie ein Traum; die TrĂ€ume selbst hingegen erscheinen ausgesprochen realistisch und sind fĂŒr die TrĂ€umende auch nachtrĂ€glich nicht von der Wachwelt zu unterscheiden. FĂŒr die Figur sind SchlaftrĂ€ume, traumatische Erfahrung, traumhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und Selbstentfremdung untrennbar miteinander verflochten (Klein 1991, 517). Eine solche Verflechtung wird zusĂ€tzlich auf der formalen Ebene des Textes erreicht, und zwar durch die zahlreichen Traum-Motive, den Titel, das Ende (v.a. BS 236) und das Motto des Romans, die sich jeweils auf das Gedicht La mort rose aus der Gedichtsammlung Le Revolver aux cheveux blancs von AndrĂ© Breton aus dem Jahre 1932 beziehen.

Die Protagonistin selbst hat den Eindruck, nur in den TrĂ€umen Verstorbener zu existieren. Diese Erfahrung einer fundamentalen Entwirklichung findet sich auch in zahlreichen weiteren Texten ĂŒber die Shoah. Als „ĂȘtre fictif“ (BS 81) geistert die Überlebende durch die HĂ€user der Opfer und wird so zu einer Art Gespenst; einem „revenant“ im wörtlichen Sinne: einer WiedergĂ€ngerin, die sich zwischen den Welten und Zeiten bewegt (Weinberg 1999, 175). Die gĂ€nzlich unwahrscheinliche Erfahrung, die Shoah ĂŒberlebt zu haben, lĂ€sst sich fĂŒr Langfus nicht vermitteln (v.a. BS 22-28 und Langfus 1963) – zumindest nicht als linearer, rational nachvollziehbarer Erfahrungsbericht. In AlprĂ€umen, flash-backs und dem Eindruck traumhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit hingegen – also jenseits einer ‚realistischen’ Darstellung (vgl. Schubert 2001, 343) – ist sie ĂŒber den gesamten Roman hinweg prĂ€sent.


Christiane Solte-Gresser

Literatur

Ausgaben / Quellen

  • Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1962.

(= zitierte Ausgabe; zitiert als BS)

  • Anna Langfus: Les bagages de sable. Paris: Gallimard 1981 (Folio 1283).

(= Taschenbuchausgabe)

  • Anna Langfus: GepĂ€ck aus Sand, ĂŒbers. von Yvonne Meier-Haas. MĂŒnchen: Piper 1964.

(= deutsche Übersetzung)

  • Anna Langfus: "Un crime ne s’imprime pas". Discours inĂ©dit prononcĂ© devant la WIZO en mars 1963. In: Les nouveaux cahiers 101 (Sommer 1990), 42.


Forschungsliteratur

  • Clark Schaneman, Judith: Writing to survive. The Novels of Anna Langfus. In: Women in French Studies 9 (2001), 92-105.
  • Friedemann, Joe: Langages du dĂ©sastre. Saint Genouph: Nizet 2007, 107-141.
  • Klein, Judith: „An unseren SchlĂ€fen perlt die Angst." Traumberichte in literarischen Werken ĂŒber das Grauen der Ghettos und Lager. In: Psyche 6 (1991) 45, 506-521.
  • Levi, Clara: La guerre dans les textes littĂ©raires d’Anna Langfus. La mise Ă  distance de l’expĂ©rience. In: Esprit CrĂ©ateur 40 (2000) 2, 52-60.
  • Schubert, Katja: Notwendige Umwege. GedĂ€chtnis und Zeugenschaft in Texten jĂŒdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Ausschwitz/ Voies de traverses obligĂ©es. Hildesheim: Olms 2001, zu Langfus’ Roman Le sel et le soufre: 340-348.
  • Jensen, Merete Stistrup: Genre littĂ©raire et rĂ©cits issus de l’expĂ©rience concentrationnaire. L’exemple d’Anna Langfus. In: Dies. u.a. (Hg.): FrontiĂšres de genres, migrations, transferts, transgressions. Lyon: PUL 2005, 157-172.
  • Weinberg, Manfred: Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und GedĂ€chtnis. In: Elisabeth Bronfen/Sigrid Weigel u.a. (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln: Böhlau 1999, 173-206.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Solte-Gresser, Christiane: "Les bagages de sable" (Anna Langfus, geb. Szternfinkiel). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Les_bagages_de_sable%22_(Anna_Langfus,_geb._Szternfinkiel) .