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Zentrales Thema des präsentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabelschnur-ähnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die Träumende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen Vorwürfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des Gegenübers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lähmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt.
 
Zentrales Thema des präsentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabelschnur-ähnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die Träumende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen Vorwürfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des Gegenübers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lähmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt.
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Während der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzählt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum über das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schuldstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenüber: Der Lehrer, der offensichtlich der Täterseite angehört ("l'Allemand"; BS 65), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lässt keine Antworten jenseits des „règlements“ (BS 64) zu. Das detailreiche Wissen der Schülerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenüber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (BS 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen über die Shoah damit im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
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Während der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzählt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum über das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schulstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenüber: Der Lehrer, der offensichtlich der Täterseite angehört ("l'Allemand"; BS 65), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lässt keine Antworten jenseits des „règlements“ (BS 64) zu. Das detailreiche Wissen der Schülerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenüber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (BS 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen über die Shoah damit im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
    
Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitläufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zählen etwa das diffuse Schuldgefühl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mühselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem Gepäck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffälliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der Mühe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stößt. Die unerträgliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quälenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch BS 47 u. 49), erinnert darüber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen würde.
 
Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitläufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zählen etwa das diffuse Schuldgefühl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mühselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem Gepäck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffälliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der Mühe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stößt. Die unerträgliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quälenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch BS 47 u. 49), erinnert darüber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen würde.
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