"Les jours de la femme Louise et autres nouvelles" (Madeleine Bourdouxhe): Unterschied zwischen den Versionen
K (ââEinordnung) Â |
|||
(28 dazwischenliegende Versionen von 3 Benutzern werden nicht angezeigt) | |||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
â | + | ''Les jours de la femme Louise et autres nouvelles'' ist eine Sammlung von sieben, in den 1930er bis 40er Jahren entstandenen und 1985 erstmals gemeinsam publizierten ErzĂ€hlungen der belgischen Autorin Madeleine Bourdouxhe (1906-1996). In diesen Geschichten kombiniert Bourdouxhe alltĂ€gliche Ereignisse, TagtrĂ€ume, unmittelbare SinneseindrĂŒcke, alptraumhafte Erinnerungen, Halluzinationen und nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume zu einer ungewöhnlichen Form der Selbst- und Weltwahrnehmung, die reprĂ€sentativ fĂŒr ihr gesamtes Werk ist. | |
â | ''Les jours de la femme Louise et autres nouvelles'' ist eine Sammlung von sieben, in den 1930er bis 40er Jahren entstandenen und 1985 erstmals gemeinsam publizierten ErzĂ€hlungen der belgischen Autorin Madeleine Bourdouxhe. In diesen Geschichten kombiniert Bourdouxhe alltĂ€gliche Ereignisse, TagtrĂ€ume, SinneseindrĂŒcke, alptraumhafte Erinnerungen, Halluzinationen und nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume zu einer ungewöhnlichen Form der Selbst- und Weltwahrnehmung, die reprĂ€sentativ fĂŒr ihr gesamtes Werk ist. |  | |
â | Â | Â | |
 |  | ||
 |  | ||
Zeile 7: | Zeile 5: | ||
 | Das Gesamtwerk der belgisch-wallonischen Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe (geb. 1906 in LiĂšge, gest. 1996 in Bruxelles) umfasst fĂŒnf, zum Teil noch unveröffentlichte Romane (vgl. Fonds Bourdouxhe: ML 08993 â ML 08994), einen gröĂeren autobiographischen ''rĂ©cit'' und sieben ErzĂ€hlungen. |  | Das Gesamtwerk der belgisch-wallonischen Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe (geb. 1906 in LiĂšge, gest. 1996 in Bruxelles) umfasst fĂŒnf, zum Teil noch unveröffentlichte Romane (vgl. Fonds Bourdouxhe: ML 08993 â ML 08994), einen gröĂeren autobiographischen ''rĂ©cit'' und sieben ErzĂ€hlungen. |
 |  | ||
â | WĂ€hrend Bourdouxhe zu ihren Lebzeiten ausgesprochen bekannt ist â sie genieĂt das Ansehen von Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Simone de Beauvoir und der zeitgenössischen französischen Literaturkritik â, gerĂ€t sie nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit. Dies liegt zum einen daran, dass die Autorin ihr eigenes Werk nur sehr zurĂŒckhaltend âvermarktetâ; zum anderen an ihrer politischen Haltung der RĂ©sistance: Sie weigert sich in den 1940er Jahren, weiterhin bei einem der zwar renommierten, jedoch von den Nationalsozialisten kontrollierten VerlagshĂ€user wie Gallimard zu publizieren. Dort | + | WĂ€hrend Bourdouxhe zu ihren Lebzeiten ausgesprochen bekannt ist â sie genieĂt das Ansehen von Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Simone de Beauvoir und der zeitgenössischen französischen Literaturkritik â, gerĂ€t sie nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit. Dies liegt zum einen daran, dass die Autorin ihr eigenes Werk nur sehr zurĂŒckhaltend âvermarktetâ; zum anderen an ihrer politischen Haltung der RĂ©sistance: Sie weigert sich in den 1940er Jahren, weiterhin bei einem der zwar renommierten, jedoch von den Nationalsozialisten kontrollierten VerlagshĂ€user wie Gallimard zu publizieren. Dort erschien 1937 ihr erster Roman ''La Femme de Gilles'', der â ebenso wie ihr folgender, ''A la Recherche de Marie'' von 1943 â in Simone de Beauvoirs ''Le deuxiĂšme sexe'' anerkennende ErwĂ€hnung findet (Beauvoir 1976, II, 183-184 und 263-264). |
â | Â | Â | |
â | Â | ||
â | Â | Â | |
â | Â | ||
 |  | ||
 | + | Sowohl die literarische QualitĂ€t als auch die OriginalitĂ€t ihrer ErzĂ€hltexte sind bereits seit der Nominierung von ''La Femme de Gilles'' fĂŒr den Prix Goncourt und den Prix FĂ©mina im Jahre 1937 unangefochten. Gleichwohl lĂ€sst sich das Bourdouxheâsche Schreiben literaturĂ€sthetisch nur schwer einordnen. Es umfasst naturalistische wie surrealistische Elemente und bĂŒndelt gesellschaftspolitische Beobachtungen (Aron 2006) mit privaten, subjektiven Erfahrungen (Sarlet 1993), die in der Perspektive einzelner, sich meist innerhalb der hĂ€uslichen SphĂ€re bewegender Frauenfiguren zusammenlaufen (Paque 2011). Bourdouxhe lotet erzĂ€hlend subtile WahrnehmungsphĂ€nomene, vor allem körperlich-sinnliche EindrĂŒcke, gedankliche Assoziationsprozesse und diffuse, rational nicht fassbare BewusstseinszustĂ€nde aus, die durch scheinbar banale Alltagsereignisse oder stereotype Redeweisen in Gang gesetzt werden. Damit rĂŒcken ihre Texte poetologisch und stilistisch in die NĂ€he der ''Tropismes'' (1939) von Nathalie Sarraute, dem âGrĂŒndungstextâ der spĂ€teren ''nouveaux romanciers''. | |
 |  | ||
 | + | Wiederentdeckt wird Madeleine Bourdouxhe in den 1980er Jahren zunĂ€chst vor allem ĂŒber die Rezeption der entsprechenden Ăbersetzungen in England und Deutschland (Evans 1998, Gousseau 2000). Eine dezidiert literaturwissenschaftliche Erforschung ihres Werkes setzt allerdings erst mit erheblicher Verzögerung ein (vgl. Kovacshazy/Solte-Gresser 2011) und wird durch die Neuedition, die seit 2009 in Frankreich erfolgt, wesentlich befördert. | |
 |  | ||
 | ==Die TrÀume== |  | ==Die TrÀume== |
â | Eindeutig als nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume markierte Traumdarstellungen finden sich bei Bourdouxhe nur in einer einzigen ErzĂ€hlung, nĂ€mlich am Schluss von | + | Eindeutig als nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume markierte Traumdarstellungen finden sich bei Bourdouxhe nur in einer einzigen ErzĂ€hlung, nĂ€mlich am Schluss von ''Anna'' (vgl. Bourdouxhe 2009, 5-24, hier 24). Mit Blick auf die literarische Traumgestaltung relevanter und produktiver ist allerdings ein anderes, fĂŒr die Autorin typisches ErzĂ€hlverfahren: Die Figuren der Bourdouxheâschen Geschichten - die in allen sieben Texten scheinbar gewöhnlichen AlltagstĂ€tigkeiten nachgehen, auf den ersten Blick banale Dinge erleben und meist in heimischen, vertrauten RĂ€umen situiert sind - nehmen ihre Umgebung in einer eigentĂŒmlichen Mischung aus Traum und RealitĂ€t wahr: Figuren wie Anna, Blanche und Louise aus den gleichnamigen ErzĂ€hlungen oder RenĂ©, der Protagonist aus ''Champs de Lavande'', bewegen sich durch eine Welt, in der tatsĂ€chlich stattfindende Ereignisse â wie beispielsweise das Haarewaschen, Milchholen, GeschirrspĂŒlen oder Tanken an einer ZapfsĂ€ule â sich nicht eindeutig von plötzlich aufflackernden Erinnerungen, TagtrĂ€umen, kurzzeitigen RealitĂ€tsverzerrungen, BewusstseinseintrĂŒbungen, Wahnvorstellungen, Wunschphantasien, Zukunftsvisionen und SchlaftrĂ€umen unterscheiden lassen (vgl. ausfĂŒhrlicher Solte-Gresser 2010, 232-296). |
 |  | ||
â | So katapultiert beispielsweise der Duft von Lavendelwasser das Bewusstsein der Hauptfigur in | + | So katapultiert beispielsweise der Duft von Lavendelwasser das Bewusstsein der Hauptfigur in''Champs de Lavande'' in ein phantastisches Universum aus WunschtrĂ€umen und SehnsĂŒchten (Bourdouxhe 2009, 113-115). Blanches Wahrnehmungsperspektive wiederum erhĂ€lt radikale Risse und BrĂŒche, als sie sich geradezu obsessiv in das Schrubben eines Topfes hineinversenkt. Mit einem Mal verselbstĂ€ndigt sich das tagtrĂ€umende Bewusstsein: Die Figur scheint in einen Abgrund zu stĂŒrzen, der sich hinter bzw. unter der AlltagsoberflĂ€che auftut und anderen Figuren der erzĂ€hlten Welt verborgen bleibt (Bourdouxhe 2009, 100-106). Das DienstmĂ€dchen Louise hingegen, das sich heimlich in seine Herrin verliebt, ersetzt in ihren TrĂ€umen den tatsĂ€chlichen Liebhaber durch ihre Beziehung zu Madame: Die ertrĂ€umte, jedoch als real erlebte Begegnung spielt sich auf derselben ErzĂ€hlebene ab wie der in seinem gewohnten Ablauf rekonstruierte Arbeitsalltag, so dass sich beides letztlich kaum noch unterscheiden lĂ€sst (Bourdouxhe 2009, 44-45). Wie die Protagonistin aus ''Un clou, une rose'' (Bourdouxhe 2009, 31-36), welche mit ihren Gedanken und GefĂŒhlen derart in der Erinnerung an eine verlorene Liebe gefangen ist, dass sie den nĂ€chtlichen Ăberfall eines RĂ€ubers kaum bemerkt, bewegt sich auch Clara in einer traumhaften SphĂ€re aus Erinnerungsfetzen und ersonnenen Dialogfragmenten, die mit der Wirklichkeit â eine taube Freundin wird zu Grabe getragen â nur sporadisch verknĂŒpft scheinen (Bourdouxhe 2009, 55-61). Hinzu kommt, dass eine ErzĂ€hlung wie ''Lâaube est dĂ©jĂ grise'' das gesamte Geschehen in einer zwielichtigen, traumhaften SphĂ€re zwischen Nacht und Tag ansiedelt (Bourdouxhe 2009, 75-96). Am radikalsten wird das Hin- und Herpendeln des Bewusstseins zwischen Traum, Wirklichkeit, Erinnerung und TagtrĂ€umerei in der ErzĂ€hlung ''Anna'' gestaltet. Dieser Text soll daher im Folgenden exemplarisch prĂ€sentiert und analysiert werden. |
 |  | ||
 |  | ||
â |  | + | ==BeispielerzĂ€hlung ''Anna''== |
â | == | + | ===Beschreibung=== |
â | + | Die 20-seitige ErzĂ€hlung ''Anna'', die erstmals 1949 in der ''Nouvelle Revue Française'' publiziert wird, handelt von einem offensichtlich ganz gewöhnlichen Tag im Leben eines Ehepaars, das auf einer Tankstelle in der französischen Provinz arbeitet (Bourdouxhe 2009, 5-24). Ob die titelgebende Hauptfigur ihre Kunden an der ZapfsĂ€ule bedient, Fleisch und Salat zubereitet, das Mittagessen zu sich nimmt, einen Anruf erhĂ€lt, ihr Kleid bĂŒgelt, eine Limonade trinkt oder abends mit ihrem Ehemann (ein-)schlĂ€ft: Nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Tag von dem vorangegangenen oder dem darauf folgenden in erheblichem MaĂe unterscheidet. Die Handlung ist im Wesentlichen in der engen Wohnung des Ehepaares auf dem TankstellengelĂ€nde angesiedelt. Die zahlreichen kleinen, scheinbar so gleichmĂ€Ăig aneinander gereihten und auf der HandlungsoberflĂ€che erzĂ€hlten Alltags-Ereignisse werden allerdings aus der Innenperspektive der Hauptfigur wiedergegeben, an deren Wahrnehmungshorizont sich die ErzĂ€hlstimme vollstĂ€ndig anpasst. Auf diese Weise zeigt sich: Anna selbst erlebt den beschriebenen Tag vollkommen anders, als dies etwa der Ehemann oder der Anrufer in der Interaktion mit ihrem GegenĂŒber erahnen könnten, die â anders als wir Leser/innen â keinerlei Innensicht in die Hauptfigur erhalten. | |
â | Â | ||
â | Die 20-seitige ErzĂ€hlung |  | |
 |  | ||
 | So erzĂ€hlt der Text neben der oberflĂ€chlichen AlltagsrealitĂ€t beispielsweise davon, dass sich das Benzin in den SchlĂ€uchen der ZapfsĂ€ule in Blut verwandelt, oder dass Anna in der Bewegung eines rauschhaften Tanzes durch die Luftschichten schwebt und sich auflöst. Die ErzĂ€hlung handelt des weiteren von einem vorbeifahrenden Auto, das gegen einen Pfosten prallt, an dem der Kopf des Fahrers zerschellt. Berichtet wird ferner von der erotischen Begegnung mit einem Unbekannten auf dem Waldboden, die Jahrhunderte lang andauert und vom nĂ€chtlichen Sternenhimmel aus beobachtet wird. Die ErzĂ€hlstimme beschreibt darĂŒber hinaus, wie sich eine Nachbarin beim Leeren des MĂŒlleimers eine Schnittwunde zuzieht, durch welche der MĂŒll so weit in den Körper eindringt, dass er verfault, oder dass Annas Körper in einer Bar mit den herabrieselnden Samen einer Weinrebe zu einem grĂŒnen Regen verschmilzt. |  | So erzĂ€hlt der Text neben der oberflĂ€chlichen AlltagsrealitĂ€t beispielsweise davon, dass sich das Benzin in den SchlĂ€uchen der ZapfsĂ€ule in Blut verwandelt, oder dass Anna in der Bewegung eines rauschhaften Tanzes durch die Luftschichten schwebt und sich auflöst. Die ErzĂ€hlung handelt des weiteren von einem vorbeifahrenden Auto, das gegen einen Pfosten prallt, an dem der Kopf des Fahrers zerschellt. Berichtet wird ferner von der erotischen Begegnung mit einem Unbekannten auf dem Waldboden, die Jahrhunderte lang andauert und vom nĂ€chtlichen Sternenhimmel aus beobachtet wird. Die ErzĂ€hlstimme beschreibt darĂŒber hinaus, wie sich eine Nachbarin beim Leeren des MĂŒlleimers eine Schnittwunde zuzieht, durch welche der MĂŒll so weit in den Körper eindringt, dass er verfault, oder dass Annas Körper in einer Bar mit den herabrieselnden Samen einer Weinrebe zu einem grĂŒnen Regen verschmilzt. |
Zeile 33: | Zeile 27: | ||
 | âAnna ferma les yeux. Ce serait le printemps sur la terre. Dans un vaste pays dâherbages, des soldats macheraient sur une route, devant des vergers fleuris. Et la lumiĂšre est parfumĂ©e. Des enfants immobiles regardent le visage amical des soldats. Une femme lĂšve la main: Bonjour soldats. Deux femmes lĂšvent la main: Repasserez-vous? Les soldats chantent. Ce quâils chantent en semaine et le dimanche. Airs de rĂ©giment, de valse et de romance. Chaque note, une Ă une, et chaque mot dĂ©chirant, qui appelle tous les mots, et dĂ©voile lâĂ©ternel au cĆur de ce qui meurt. Anna voit le visage amical, des hommes et des vergers en fleurs. Mais elle nâest ni enfant, ni femme qui salue. Elle est la chanson qui chantent les soldatsâ (Bourdouxhe 2009, 24). |  | âAnna ferma les yeux. Ce serait le printemps sur la terre. Dans un vaste pays dâherbages, des soldats macheraient sur une route, devant des vergers fleuris. Et la lumiĂšre est parfumĂ©e. Des enfants immobiles regardent le visage amical des soldats. Une femme lĂšve la main: Bonjour soldats. Deux femmes lĂšvent la main: Repasserez-vous? Les soldats chantent. Ce quâils chantent en semaine et le dimanche. Airs de rĂ©giment, de valse et de romance. Chaque note, une Ă une, et chaque mot dĂ©chirant, qui appelle tous les mots, et dĂ©voile lâĂ©ternel au cĆur de ce qui meurt. Anna voit le visage amical, des hommes et des vergers en fleurs. Mais elle nâest ni enfant, ni femme qui salue. Elle est la chanson qui chantent les soldatsâ (Bourdouxhe 2009, 24). |
 |  | ||
â | âAnna schloss die Augen. Auf der Erde wĂ€re FrĂŒhling. Inmitten ausgedehnter Weiden wĂŒrden Soldaten eine StraĂe entlangmarschieren, vorbei an blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Das Licht verströmt einen Wohlgeruch. Kinder betrachten die freundlichen Gesichter der Soldaten. Eine Frau hebt die Hand: Guten Tag, Soldaten! Zwei Frauen heben die Hand: Kommt ihr noch einmal vorbei? Die Soldaten singen. Sie singen, was sie wochentags und sonntags singen. Regimentslieder, Walzer, Liebesweisen. Und jede einzelne Note, jedes herzzerreiĂende Wort, das alle Wörter der Welt heraufbeschwört, offenbart dem Herz des Sterbenden die Ewigkeit. Anna sieht die freundlichen Gesichter der MĂ€nner und die blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Aber sie ist weder Kind noch grĂŒĂende Frau. Sie ist das Lied, das die Soldaten singenâ (Bourdouxhe 1998, 26 | + | âAnna schloss die Augen. Auf der Erde wĂ€re FrĂŒhling. Inmitten ausgedehnter Weiden wĂŒrden Soldaten eine StraĂe entlangmarschieren, vorbei an blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Das Licht verströmt einen Wohlgeruch. Kinder betrachten die freundlichen Gesichter der Soldaten. Eine Frau hebt die Hand: Guten Tag, Soldaten! Zwei Frauen heben die Hand: Kommt ihr noch einmal vorbei? Die Soldaten singen. Sie singen, was sie wochentags und sonntags singen. Regimentslieder, Walzer, Liebesweisen. Und jede einzelne Note, jedes herzzerreiĂende Wort, das alle Wörter der Welt heraufbeschwört, offenbart dem Herz des Sterbenden die Ewigkeit. Anna sieht die freundlichen Gesichter der MĂ€nner und die blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Aber sie ist weder Kind noch grĂŒĂende Frau. Sie ist das Lied, das die Soldaten singenâ (Bourdouxhe 1998, 26 f.). |
 |  | ||
 |  | ||
â | Â | + | ===Analyse und Interpretation=== |
â | Â | ||
 | Die unauflösliche Verflechtung zwischen realistischem und traumhaftem Erleben prĂ€gt die Selbst- und Weltwahrnehmung der Protagonistin auf entscheidende Weise. Dies lĂ€sst sich auf der thematischen, der erzĂ€hltechnischen und der stilistisch-rhetorischen Ebene des Textes nachvollziehen (vgl. Solte-Gresser 2011a, 99-106). Doch zunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass einzig der am Schluss wiedergegebene Traum eine vergleichsweise eindeutige Markierung erfĂ€hrt: Das SchlieĂen der Augen, die verĂ€nderte Szenerie und AtmosphĂ€re sowie der Tempus- und Moduswechsel weisen darauf hin. Solche Signale, die einen Traum oder eine TagtrĂ€umerei ankĂŒndigen, finden sich auf den Seiten zuvor kaum. Beim ersten Lesen der ErzĂ€hlung muss man daher annehmen, dass die berichteten Ereignisse innerhalb der erzĂ€hlten Welt allesamt tatsĂ€chlich stattfinden. Was den RealitĂ€tsgrad des ErzĂ€hlten angeht, so wird zwischen dem Geruch des Fleisches und dem Blut in den ZapfsĂ€ulen, den rauschhaften Tanzbewegungen zur Musik und dem BĂŒgeln des Kleides, der Umarmung des fremden Mannes zwischen den Waldwurzeln und dem Dialog im Ehebett nicht unterschieden; fĂŒr die Figur spielt sich all dies auf derselben Wirklichkeitsebene ab. Erst indem man sich, vom Ende der ErzĂ€hlung her kommend, zurĂŒck an den Anfang bewegt, wird deutlich: Mehr als zwei Drittel der gesamten ErzĂ€hlung sind in der heimischen KĂŒche angesiedelt; hier befindet sich Anna offensichtlich dösend auf dem Sofa, ohne dass die Zeit wesentlich voranschreitet â auch wenn die ErzĂ€hlung selbst ganz andere SchauplĂ€tze und ganz andere Zeitdimensionen ins Spiel bringt. Die Figur hat die Wohnung also gar nicht verlassen, die tödlichen UnfĂ€lle der Vorbeikommenden haben sich offenbar nur in der Vorstellungswelt Annas abgespielt, bei dem beunruhigenden schwangeren Leib handelt es sich offensichtlich um eine erinnerte Körperwahrnehmung. |  | Die unauflösliche Verflechtung zwischen realistischem und traumhaftem Erleben prĂ€gt die Selbst- und Weltwahrnehmung der Protagonistin auf entscheidende Weise. Dies lĂ€sst sich auf der thematischen, der erzĂ€hltechnischen und der stilistisch-rhetorischen Ebene des Textes nachvollziehen (vgl. Solte-Gresser 2011a, 99-106). Doch zunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass einzig der am Schluss wiedergegebene Traum eine vergleichsweise eindeutige Markierung erfĂ€hrt: Das SchlieĂen der Augen, die verĂ€nderte Szenerie und AtmosphĂ€re sowie der Tempus- und Moduswechsel weisen darauf hin. Solche Signale, die einen Traum oder eine TagtrĂ€umerei ankĂŒndigen, finden sich auf den Seiten zuvor kaum. Beim ersten Lesen der ErzĂ€hlung muss man daher annehmen, dass die berichteten Ereignisse innerhalb der erzĂ€hlten Welt allesamt tatsĂ€chlich stattfinden. Was den RealitĂ€tsgrad des ErzĂ€hlten angeht, so wird zwischen dem Geruch des Fleisches und dem Blut in den ZapfsĂ€ulen, den rauschhaften Tanzbewegungen zur Musik und dem BĂŒgeln des Kleides, der Umarmung des fremden Mannes zwischen den Waldwurzeln und dem Dialog im Ehebett nicht unterschieden; fĂŒr die Figur spielt sich all dies auf derselben Wirklichkeitsebene ab. Erst indem man sich, vom Ende der ErzĂ€hlung her kommend, zurĂŒck an den Anfang bewegt, wird deutlich: Mehr als zwei Drittel der gesamten ErzĂ€hlung sind in der heimischen KĂŒche angesiedelt; hier befindet sich Anna offensichtlich dösend auf dem Sofa, ohne dass die Zeit wesentlich voranschreitet â auch wenn die ErzĂ€hlung selbst ganz andere SchauplĂ€tze und ganz andere Zeitdimensionen ins Spiel bringt. Die Figur hat die Wohnung also gar nicht verlassen, die tödlichen UnfĂ€lle der Vorbeikommenden haben sich offenbar nur in der Vorstellungswelt Annas abgespielt, bei dem beunruhigenden schwangeren Leib handelt es sich offensichtlich um eine erinnerte Körperwahrnehmung. |
 |  | ||
Zeile 44: | Zeile 37: | ||
 | Auch thematisch, motivisch und stilistisch sind die einzelnen RealitĂ€tsebenen ausgesprochen eng miteinander verflochten: Nicht nur ist der gesamte Text syntaktisch, lexikalisch und phonetisch von einer geradezu programmatischen Wiederholungsstruktur geprĂ€gt; auch durch die auĂergewöhnliche Bildlichkeit der ErzĂ€hlung verschmelzen Traum und Wirklichkeit zusehends miteinander: Die sich öffnenden und schlieĂenden BlĂŒten etwa tauchen als Weinreben im StraĂencafĂ© und als Bild fĂŒr den Orgasmus im Ehebett auf. Die blauen Adern charakterisieren gleichermaĂen die traumhaft verwandelten ZapfsĂ€ulen, das erinnerte DekolletĂ© der Protagonistin und das schmorende Fleisch in der Pfanne. Die in den Krieg ziehenden Soldaten sind GesprĂ€chsthema und Traumbild zugleich. Eine Differenzierung der einzelnen Ereignisse hinsichtlich ihres RealitĂ€tsstatusâ kann also bereits aufgrund der extremen Vieldeutigkeit und semantischen Offenheit des Textes nicht gelingen. Erschwert wird eine solche Zuordnung aber auch durch die radikal interne Fokalisierung: Die Perspektive der heterodiegetischen, sich also eigentlich auĂerhalb der erzĂ€hlten Welt befindlichen ErzĂ€hlinstanz (die zwischendurch ĂŒbrigens zwei Mal in eine homodiegetische Stimme wechselt) ist so eng an die Hauptfigur gebunden, dass wir beim Lesen vollstĂ€ndig in die subjektive Erfahrungswelt Annas eintauchen mĂŒssen, um dem Geschehen ĂŒberhaupt einigermaĂen folgen zu können. |  | Auch thematisch, motivisch und stilistisch sind die einzelnen RealitĂ€tsebenen ausgesprochen eng miteinander verflochten: Nicht nur ist der gesamte Text syntaktisch, lexikalisch und phonetisch von einer geradezu programmatischen Wiederholungsstruktur geprĂ€gt; auch durch die auĂergewöhnliche Bildlichkeit der ErzĂ€hlung verschmelzen Traum und Wirklichkeit zusehends miteinander: Die sich öffnenden und schlieĂenden BlĂŒten etwa tauchen als Weinreben im StraĂencafĂ© und als Bild fĂŒr den Orgasmus im Ehebett auf. Die blauen Adern charakterisieren gleichermaĂen die traumhaft verwandelten ZapfsĂ€ulen, das erinnerte DekolletĂ© der Protagonistin und das schmorende Fleisch in der Pfanne. Die in den Krieg ziehenden Soldaten sind GesprĂ€chsthema und Traumbild zugleich. Eine Differenzierung der einzelnen Ereignisse hinsichtlich ihres RealitĂ€tsstatusâ kann also bereits aufgrund der extremen Vieldeutigkeit und semantischen Offenheit des Textes nicht gelingen. Erschwert wird eine solche Zuordnung aber auch durch die radikal interne Fokalisierung: Die Perspektive der heterodiegetischen, sich also eigentlich auĂerhalb der erzĂ€hlten Welt befindlichen ErzĂ€hlinstanz (die zwischendurch ĂŒbrigens zwei Mal in eine homodiegetische Stimme wechselt) ist so eng an die Hauptfigur gebunden, dass wir beim Lesen vollstĂ€ndig in die subjektive Erfahrungswelt Annas eintauchen mĂŒssen, um dem Geschehen ĂŒberhaupt einigermaĂen folgen zu können. |
 |  | ||
â | Betrachtet man den Text in seiner Gesamtstruktur, wird allerdings deutlich, dass die traumhaften Wahrnehmungen der Protagonistin den weitaus gröĂten Teil der ErzĂ€hlung ausmachen. Die Ă€uĂeren Ereignisse in der zur Tankstelle gehörenden Wohnung bilden lediglich ein loses GerĂŒst fĂŒr das, was sich im Inneren des Subjekts abspielt. Diese ausgesprochen abgrĂŒndigen Erfahrungswelten werden erzĂ€hltechnisch zudem durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traum- und Vorstellungsebenen inszeniert (Solte-Gresser 2011b, 259). Beispielsweise wird die ertrĂ€umte Liebensbegegnung unter nĂ€chtlichem Himmel wie ein tatsĂ€chliches, einmaliges Erlebnis eingefĂŒhrt (âUn soir, et câĂ©tait dans le bois de Meudon, un homme Ă©tait prĂšs dâelleâ, Bourdouxhe 2009, 14 | + | Betrachtet man den Text in seiner Gesamtstruktur, wird allerdings deutlich, dass die traumhaften Wahrnehmungen der Protagonistin den weitaus gröĂten Teil der ErzĂ€hlung ausmachen. Die Ă€uĂeren Ereignisse in der zur Tankstelle gehörenden Wohnung bilden lediglich ein loses GerĂŒst fĂŒr das, was sich im Inneren des Subjekts abspielt. Diese ausgesprochen abgrĂŒndigen Erfahrungswelten werden erzĂ€hltechnisch zudem durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traum- und Vorstellungsebenen inszeniert (Solte-Gresser 2011b, 259). Beispielsweise wird die ertrĂ€umte Liebensbegegnung unter nĂ€chtlichem Himmel wie ein tatsĂ€chliches, einmaliges Erlebnis eingefĂŒhrt (âUn soir, et câĂ©tait dans le bois de Meudon, un homme Ă©tait prĂšs dâelleâ, Bourdouxhe 2009, 14; âEines Abends, es war im Wald von Meudon, war ein Mann bei ihrâ, Bourdouxhe 1998, 18). Am Ende der Episode jedoch, in der die ErzĂ€hlstimme fast unmerklich von der dritten Person Singular in die Ich-Perspektive und das Tempus vom PrĂ€sens ins Futur wechselt, erstarrt das Paar zu einer geradezu allegorischen Vision. Damit stellt diese Passage genau genommen einen Meta-Traum dar â einen Traum im Traum eines weiteren Traumes: |
 |  | ||
â | âJe suis couchĂ©e avec cet homme auprĂšs de moi. Je suis moi couchĂ©e, et Ă la fois hors de moi, et câest comme si je me voyais. Je vois un homme et une femme couchĂ©s. Ils sont silcencieux, ils sont immobiles, figĂ©s. Ils resteront ainsi couchĂ©s, figĂ©s, mĂȘme quand nos mains se dĂ©senlaceront et que nos gestes se reformeront. Il sont ainsi pour des siĂšcles Ă venir | + | âJe suis couchĂ©e avec cet homme auprĂšs de moi. Je suis moi couchĂ©e, et Ă la fois hors de moi, et câest comme si je me voyais. Je vois un homme et une femme couchĂ©s. Ils sont silcencieux, ils sont immobiles, figĂ©s. Ils resteront ainsi couchĂ©s, figĂ©s, mĂȘme quand nos mains se dĂ©senlaceront et que nos gestes se reformeront. Il sont ainsi pour des siĂšcles Ă venir [...]. Et ils seront ainsi, homme et femme qui nâont pas de nom, visibles Ă©ternellement, comme le marbre et la pierre, et il nây a quâeux sur la terre, et ils sont un sens de la terreâ (Bourdouxhe 2009, 16). |
 |  | ||
â | âIch liege auf dem Boden, und neben mir dieser Mann. Ich liege und stehe zugleich auĂerhalb meiner selbst, und es ist so, als sĂ€he ich mir zu. Ich sehe einen Mann und eine Frau daliegen. Sie sind stumm, sie sind unbeweglich, erstarrt. Sie werden noch genauso starr daliegen, wenn unsere HĂ€nde sich schon voneinander gelöst haben und unsere Gesten wieder lebendig geworden sind. So sind sie, jetzt und in kĂŒnftigen Jahrhunderten | + | âIch liege auf dem Boden, und neben mir dieser Mann. Ich liege und stehe zugleich auĂerhalb meiner selbst, und es ist so, als sĂ€he ich mir zu. Ich sehe einen Mann und eine Frau daliegen. Sie sind stumm, sie sind unbeweglich, erstarrt. Sie werden noch genauso starr daliegen, wenn unsere HĂ€nde sich schon voneinander gelöst haben und unsere Gesten wieder lebendig geworden sind. So sind sie, jetzt und in kĂŒnftigen Jahrhunderten [...]. Sie werden immer so sein, ein Mann und eine Frau, die keinen Namen haben, ewig sichtbar, wie Marmor und Stein, und es gibt nur noch sie auf Erden, uns sie geben der Erde einen Sinnâ (Bourdouxhe 1998, 18). |
â | Â | Â | |
â | Â | ||
â | Â | Â | |
â | Â | ||
 |  | ||
 | + | Im Anschluss an dieses Bild, das auf die atemlose, alles andere als starre Umarmung mit dem Fremden folgt, wird man beim Lesen recht abrupt wieder zurĂŒck in die Alltagswelt gefĂŒhrt: Nicht nur wird die allegorische Traumebene verlassen â womit die ErzĂ€hlung eigentlich wieder auf dem Waldboden anlangen mĂŒsste. Auch das unmittelbar zuvor beschriebene Erlebnis des in der Luft umhergewirbelten, nur noch aus âTraum und Dunstâ (Bourdouxhe 1998, 17; âsonge et vapeursâ, Bourdouxhe 2009, 15) bestehenden Leibes wird rĂŒckwirkend ent-realisiert und als Tagtraum enthĂŒllt. Dies geschieht, indem uns die ErzĂ€hlstimme, eine ErzĂ€hlebene ĂŒberspringend, zunĂ€chst auf die TanzflĂ€che zurĂŒckbringt (âAlors, on danse?â, Bourdouxhe 2009, 16; âWas ist, tanzen wir?â, Bourdouxhe 1998, 19). Aber bereits im nĂ€chsten Satz befindet sich Anna plötzlich wieder auf dem heimischen KĂŒchensofa, als sei nichts geschehen: âAssise au bord du divan, les mains serrĂ©es entre les genoux, Anna entend la voixâ (Bourdouxhe 2009, 16; âAuf dem Rand des Diwans sitzend, die HĂ€nde zwischen die Knie geklemmt, hört Anna seine Stimmeâ, Bourdouxhe 1998, 16). Die Figur hat also die KĂŒche gar nicht verlassen. Nicht nur das Marmorbild und die Begegnung unter dem nĂ€chtlichem Sternenhimmel, auch der Tanz mit Bobby, der sie am Telefon eingeladen und von dem die Vision des Liebespaares im Wald ja ĂŒberhaupt erst ihren Ausgang genommen hatte, waren ertrĂ€umt: âAnna ne possĂšde pas cette robe. Anna est allĂ©e vers la penderie, y a pris la jupe grise, lâa brossĂ©e et repassĂ©eâ (Bourdouxhe 2009, 16-17; âAnna hat kein solches Kleid. Anna ist zum Kleiderschrank gegangen, hat den grauen Rock herausgenommen, ihn ausgebĂŒrstet und gebĂŒgeltâ, Bourdouxhe 1998, 19). | |
 |  | ||
 | + | Wie viele der Bourdouxheâschen ErzĂ€hlungen besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nĂ€mlich die intensive Auseinandersetzung mit Worten, KlĂ€ngen und Bildern innerhalb der ErzĂ€hlung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbstĂ€ndigende Bildlichkeit bestimmter EindrĂŒcke oder âGeschichten in der Geschichteâ, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom MĂŒll-verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der BanalitĂ€t des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8 f.). Das harmlose âhĂŒbsche Liedâ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; âpourtant une chanson gaieâ, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfĂ€llt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.); ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten TrĂ€nenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der ErzĂ€hlung schlieĂlich verbindet ĂŒber musikalische KlĂ€nge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorĂŒberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie âsiehtâ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die trĂ€umende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem âeinzelnen herzzerreiĂenden Wortâ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine ĂŒberzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Ăbergang zwischen Traum- und Wachwelt, âbeschwörenâ âalle anderen Worte der Welt heraufâ (ebd.) und scheinen somit die ErzĂ€hlung der âwirklichenâ Welt ĂŒberhaupt erst hervorzubringen. | |
 |  | ||
 | ==Einordnung== |  | ==Einordnung== |
â | Was an der Interpretation der ErzĂ€hlung | + | Was an der Interpretation der ErzĂ€hlung ''Anna'' zu Tage tritt, kann fĂŒr die meisten der Bourdouxheâschen Texte gelten: So politisch und gesellschaftskritisch sie auch geprĂ€gt sein mögen â Bourdouxhe konzentriert sich in ihren Romanen und ErzĂ€hlungen vor allem auf problematische Arbeits- und GeschlechterverhĂ€ltnisse im Bergarbeiter- und KleinbĂŒrgermilieu (Dubois 2011) â, die RealitĂ€t in all ihrer KomplexitĂ€t ist fĂŒr die Autorin nicht als solche, d.h. nicht in ihrer Ă€uĂeren Ereignisstruktur fassbar (vgl. dazu ihre poetologischen ĂuĂerungen von 1939 in Kovacshazy/Solte-Gresser 2011, 195-197, bes. 196). Die Darstellung der Wirklichkeit ist auf das engste an die subjektive Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung der erlebenden Figuren geknĂŒpft. Ihre Ă€sthetische DignitĂ€t erhĂ€lt die erzĂ€hlte Alltagswirklichkeit durch den programmatischen Einbezug und die systematische Verflechtung unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen, SinneseindrĂŒcke und Erfahrungsmodi zu einem komplexen Ganzen. Traum und RealitĂ€t stehen damit nicht in einem dualistischen VerhĂ€ltnis zueinander. Bourdouxhe geht es vielmehr darum, gerade die vielschichtigen SphĂ€ren zu erkunden, die TrĂ€umen und Wachen miteinander verbinden. Sie spĂŒrt den möglichen ĂbergĂ€ngen zwischen diesen Welten nach, differenziert erzĂ€hlend die damit einhergehenden GrenzzustĂ€nde des Bewusstseins und lotet die so entstehenden SpielrĂ€ume poetisch und Ă€sthetisch aus. |
â | Â | Â | |
â | Â | Â | |
â | Â | Â | |
â | Â | ||
â | Â | Â | |
 |  | ||
 | + | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Christiane Solte-Gresser]]</div> | |
 |  | ||
 | ==Literatur== |  | ==Literatur== |
 | ===Ausgaben=== |  | ===Ausgaben=== |
â | Â | ||
â | Â | ||
 |  | ||
â | + | *Erstausgabe der ErzĂ€hlsammlung | |
â | + | Sept Nouvelles. Hg. von Françoise Collin. Paris: Tierce 1985. | |
 |  | ||
â | + | *Erstausgabe ''Anna'' | |
â | + | Anna. In: La Nouvelle Revue Française 52 (MĂ€rz 1949), 65-76. | |
 |  | ||
â | + | *Zitierte Ausgabe | |
â | + | Les jours de la femme Louise et autres nouvelles. Arles: Actes Sud 2009. | |
 |  | ||
â | + | *Deutsche Ăbersetzung | |
â | + | Wenn der Morgen dĂ€mmert [''LâAube est dĂ©jĂ grise et autres nouvelles'']. Ăbers. von Monika Schlitzer und Sabine Schwenk. MĂŒnchen: Piper 1998. | |
 |  | ||
â | + | *Manuskripte | |
â | Madeleine Bourdouxhe | + | Fonds Madeleine Bourdouxhe in den ''Archives et MusĂ©e de la LittĂ©rature''. BibliothĂšque Royale Albert I, Bruxelles, ML 08970 â ML 09021 (noch nicht digitalisiert). |
 |  | ||
 | + | *Poetologischer Essay | |
 | + | Madeleine Bourdouxhe: LittĂ©rature et christianisme [rĂ©ponse de Madeleine Bourdouxhe Ă une enquĂȘte dans ''La CitĂ© chrĂ©tienne'', 5 fĂ©vrier 1939]. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Peter Lang 2011, 195-197. | |
 |  | ||
 |  | ||
 | ===Forschungsliteratur=== |  | ===Forschungsliteratur=== |
â | Aron, Paul: | + | * Aron, Paul: Un avatar du populisme. In: Ders., La LittĂ©rature prolĂ©tarienne en Belgique francophone depuis 1900. Bruxelles: Labor 2006, 180-186. |
â |  | + | * Beauvoir, Simone de: Le deuxiĂšme sexe [1949]. 2 Bde. Paris: Gallimard 1976. |
â | Beauvoir, Simone de: | + | * Dubois, Jacques: Madeleine Bourdouxhe dans la mouvance populiste. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Peter Lang 2011, 125-129. |
â |  | + | * Evans, Faith: Nachwort. In: Madeleine Bourdouxhe, Wenn der Morgen dĂ€mmert [''Sept Nouvelles'']. MĂŒnchen: Piper 1998, 135-152. |
â | Dubois, Jacques: | + | * Gousseau, Josette: Madeleine Bourdouxhe, lâengagement au fĂ©minin. In: RenĂ©e Linkhorn (Hg.), La Belgique telle quâelle sâĂ©crit. Perspectives sur les lettres belges de langue française. New York u.a.: Lang 1995, 197-209. |
 | + | * Kovacshazy, CĂ©cile/Christiane Solte-Gresser: DĂ©couvertes et redĂ©couvertes dâune Ćuvre oubliĂ©e. In: C. K./C. S.-G. (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 9-13. | |
 | + | * Paque, Jeannine: Femmes, femme. Ambivalences du fĂ©minisme. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 129-135. | |
 | + | * Sarlet, Claudette: Madeleine Bourdouxhe, attentif au signe de tout lieu. In: Textyles 9 (1993), 19-26. | |
 | + | * Solte-Gresser, Christiane: SpielrĂ€ume des Alltags. Literarische Gestaltung von AlltĂ€glichkeit in deutscher, französischer und italienischer ErzĂ€hlprosa (1929-1949). WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2010, bes. 232-296. | |
 | + | * Solte-Gresser, Christiane (2011a): ''Anna''. La poĂ©tique du quotidien. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 99-106. | |
 | + | * Solte-Gresser, Christiane (2011b): âAlptraum mit Aufschubâ. AnsĂ€tze zur Analyse literarischer TraumerzĂ€hlungen. In: Susanne Goumegou/Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 239-262. | |
 |  | ||
â | Â | ||
 |  | ||
â | Â | ||
 |  | ||
â | Â | ||
 |  | ||
â | Â | ||
 |  | ||
â | + | {| style="border: 1px solid #98A7C4; background-color: #ffffff; border-left: 20px solid #98A7C4; margin-bottom: 0.4em; margin-left: auto; margin-right: auto; width: 100%;" border="0" cellspacing="2" cellpadding="5" | |
 | + | |- | |
 | + | || | |
 | + | Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: | |
 |  | ||
â | Solte-Gresser, Christiane: | + | Solte-Gresser, Christiane: Les jours de la femme Louise et autres nouvelles (Madeleine Bourdouxhe). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Les_jours_de_la_femme_Louise_et_autres_nouvelles%22_(Madeleine_Bourdouxhe). |
 |  | ||
â | + | |} | |
 |  | ||
â | + | [[Kategorie:Französisch]] | |
 | + | [[Kategorie:Belgien]] | |
 | + | [[Kategorie:20._Jahrhundert]] | |
 | + | [[Kategorie:Moderne]] | |
 | + | [[Kategorie:Literatur]] | |
 | + | [[Kategorie:ErzÀhlung]] | |
 | + | [[Kategorie: Bourdouxhe,_Madeleine|Madeleine Bourdouxhe]] |
Aktuelle Version vom 11. Dezember 2018, 20:05 Uhr
Les jours de la femme Louise et autres nouvelles ist eine Sammlung von sieben, in den 1930er bis 40er Jahren entstandenen und 1985 erstmals gemeinsam publizierten ErzĂ€hlungen der belgischen Autorin Madeleine Bourdouxhe (1906-1996). In diesen Geschichten kombiniert Bourdouxhe alltĂ€gliche Ereignisse, TagtrĂ€ume, unmittelbare SinneseindrĂŒcke, alptraumhafte Erinnerungen, Halluzinationen und nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume zu einer ungewöhnlichen Form der Selbst- und Weltwahrnehmung, die reprĂ€sentativ fĂŒr ihr gesamtes Werk ist.
Autorin, Gesamtwerk und Rezeption
Das Gesamtwerk der belgisch-wallonischen Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe (geb. 1906 in LiĂšge, gest. 1996 in Bruxelles) umfasst fĂŒnf, zum Teil noch unveröffentlichte Romane (vgl. Fonds Bourdouxhe: ML 08993 â ML 08994), einen gröĂeren autobiographischen rĂ©cit und sieben ErzĂ€hlungen.
WĂ€hrend Bourdouxhe zu ihren Lebzeiten ausgesprochen bekannt ist â sie genieĂt das Ansehen von Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Simone de Beauvoir und der zeitgenössischen französischen Literaturkritik â, gerĂ€t sie nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit. Dies liegt zum einen daran, dass die Autorin ihr eigenes Werk nur sehr zurĂŒckhaltend âvermarktetâ; zum anderen an ihrer politischen Haltung der RĂ©sistance: Sie weigert sich in den 1940er Jahren, weiterhin bei einem der zwar renommierten, jedoch von den Nationalsozialisten kontrollierten VerlagshĂ€user wie Gallimard zu publizieren. Dort erschien 1937 ihr erster Roman La Femme de Gilles, der â ebenso wie ihr folgender, A la Recherche de Marie von 1943 â in Simone de Beauvoirs Le deuxiĂšme sexe anerkennende ErwĂ€hnung findet (Beauvoir 1976, II, 183-184 und 263-264).
Sowohl die literarische QualitĂ€t als auch die OriginalitĂ€t ihrer ErzĂ€hltexte sind bereits seit der Nominierung von La Femme de Gilles fĂŒr den Prix Goncourt und den Prix FĂ©mina im Jahre 1937 unangefochten. Gleichwohl lĂ€sst sich das Bourdouxheâsche Schreiben literaturĂ€sthetisch nur schwer einordnen. Es umfasst naturalistische wie surrealistische Elemente und bĂŒndelt gesellschaftspolitische Beobachtungen (Aron 2006) mit privaten, subjektiven Erfahrungen (Sarlet 1993), die in der Perspektive einzelner, sich meist innerhalb der hĂ€uslichen SphĂ€re bewegender Frauenfiguren zusammenlaufen (Paque 2011). Bourdouxhe lotet erzĂ€hlend subtile WahrnehmungsphĂ€nomene, vor allem körperlich-sinnliche EindrĂŒcke, gedankliche Assoziationsprozesse und diffuse, rational nicht fassbare BewusstseinszustĂ€nde aus, die durch scheinbar banale Alltagsereignisse oder stereotype Redeweisen in Gang gesetzt werden. Damit rĂŒcken ihre Texte poetologisch und stilistisch in die NĂ€he der Tropismes (1939) von Nathalie Sarraute, dem âGrĂŒndungstextâ der spĂ€teren nouveaux romanciers.
Wiederentdeckt wird Madeleine Bourdouxhe in den 1980er Jahren zunĂ€chst vor allem ĂŒber die Rezeption der entsprechenden Ăbersetzungen in England und Deutschland (Evans 1998, Gousseau 2000). Eine dezidiert literaturwissenschaftliche Erforschung ihres Werkes setzt allerdings erst mit erheblicher Verzögerung ein (vgl. Kovacshazy/Solte-Gresser 2011) und wird durch die Neuedition, die seit 2009 in Frankreich erfolgt, wesentlich befördert.
Die TrÀume
Eindeutig als nĂ€chtliche SchlaftrĂ€ume markierte Traumdarstellungen finden sich bei Bourdouxhe nur in einer einzigen ErzĂ€hlung, nĂ€mlich am Schluss von Anna (vgl. Bourdouxhe 2009, 5-24, hier 24). Mit Blick auf die literarische Traumgestaltung relevanter und produktiver ist allerdings ein anderes, fĂŒr die Autorin typisches ErzĂ€hlverfahren: Die Figuren der Bourdouxheâschen Geschichten - die in allen sieben Texten scheinbar gewöhnlichen AlltagstĂ€tigkeiten nachgehen, auf den ersten Blick banale Dinge erleben und meist in heimischen, vertrauten RĂ€umen situiert sind - nehmen ihre Umgebung in einer eigentĂŒmlichen Mischung aus Traum und RealitĂ€t wahr: Figuren wie Anna, Blanche und Louise aus den gleichnamigen ErzĂ€hlungen oder RenĂ©, der Protagonist aus Champs de Lavande, bewegen sich durch eine Welt, in der tatsĂ€chlich stattfindende Ereignisse â wie beispielsweise das Haarewaschen, Milchholen, GeschirrspĂŒlen oder Tanken an einer ZapfsĂ€ule â sich nicht eindeutig von plötzlich aufflackernden Erinnerungen, TagtrĂ€umen, kurzzeitigen RealitĂ€tsverzerrungen, BewusstseinseintrĂŒbungen, Wahnvorstellungen, Wunschphantasien, Zukunftsvisionen und SchlaftrĂ€umen unterscheiden lassen (vgl. ausfĂŒhrlicher Solte-Gresser 2010, 232-296).
So katapultiert beispielsweise der Duft von Lavendelwasser das Bewusstsein der Hauptfigur inChamps de Lavande in ein phantastisches Universum aus WunschtrĂ€umen und SehnsĂŒchten (Bourdouxhe 2009, 113-115). Blanches Wahrnehmungsperspektive wiederum erhĂ€lt radikale Risse und BrĂŒche, als sie sich geradezu obsessiv in das Schrubben eines Topfes hineinversenkt. Mit einem Mal verselbstĂ€ndigt sich das tagtrĂ€umende Bewusstsein: Die Figur scheint in einen Abgrund zu stĂŒrzen, der sich hinter bzw. unter der AlltagsoberflĂ€che auftut und anderen Figuren der erzĂ€hlten Welt verborgen bleibt (Bourdouxhe 2009, 100-106). Das DienstmĂ€dchen Louise hingegen, das sich heimlich in seine Herrin verliebt, ersetzt in ihren TrĂ€umen den tatsĂ€chlichen Liebhaber durch ihre Beziehung zu Madame: Die ertrĂ€umte, jedoch als real erlebte Begegnung spielt sich auf derselben ErzĂ€hlebene ab wie der in seinem gewohnten Ablauf rekonstruierte Arbeitsalltag, so dass sich beides letztlich kaum noch unterscheiden lĂ€sst (Bourdouxhe 2009, 44-45). Wie die Protagonistin aus Un clou, une rose (Bourdouxhe 2009, 31-36), welche mit ihren Gedanken und GefĂŒhlen derart in der Erinnerung an eine verlorene Liebe gefangen ist, dass sie den nĂ€chtlichen Ăberfall eines RĂ€ubers kaum bemerkt, bewegt sich auch Clara in einer traumhaften SphĂ€re aus Erinnerungsfetzen und ersonnenen Dialogfragmenten, die mit der Wirklichkeit â eine taube Freundin wird zu Grabe getragen â nur sporadisch verknĂŒpft scheinen (Bourdouxhe 2009, 55-61). Hinzu kommt, dass eine ErzĂ€hlung wie Lâaube est dĂ©jĂ grise das gesamte Geschehen in einer zwielichtigen, traumhaften SphĂ€re zwischen Nacht und Tag ansiedelt (Bourdouxhe 2009, 75-96). Am radikalsten wird das Hin- und Herpendeln des Bewusstseins zwischen Traum, Wirklichkeit, Erinnerung und TagtrĂ€umerei in der ErzĂ€hlung Anna gestaltet. Dieser Text soll daher im Folgenden exemplarisch prĂ€sentiert und analysiert werden.
BeispielerzÀhlung Anna
Beschreibung
Die 20-seitige ErzĂ€hlung Anna, die erstmals 1949 in der Nouvelle Revue Française publiziert wird, handelt von einem offensichtlich ganz gewöhnlichen Tag im Leben eines Ehepaars, das auf einer Tankstelle in der französischen Provinz arbeitet (Bourdouxhe 2009, 5-24). Ob die titelgebende Hauptfigur ihre Kunden an der ZapfsĂ€ule bedient, Fleisch und Salat zubereitet, das Mittagessen zu sich nimmt, einen Anruf erhĂ€lt, ihr Kleid bĂŒgelt, eine Limonade trinkt oder abends mit ihrem Ehemann (ein-)schlĂ€ft: Nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Tag von dem vorangegangenen oder dem darauf folgenden in erheblichem MaĂe unterscheidet. Die Handlung ist im Wesentlichen in der engen Wohnung des Ehepaares auf dem TankstellengelĂ€nde angesiedelt. Die zahlreichen kleinen, scheinbar so gleichmĂ€Ăig aneinander gereihten und auf der HandlungsoberflĂ€che erzĂ€hlten Alltags-Ereignisse werden allerdings aus der Innenperspektive der Hauptfigur wiedergegeben, an deren Wahrnehmungshorizont sich die ErzĂ€hlstimme vollstĂ€ndig anpasst. Auf diese Weise zeigt sich: Anna selbst erlebt den beschriebenen Tag vollkommen anders, als dies etwa der Ehemann oder der Anrufer in der Interaktion mit ihrem GegenĂŒber erahnen könnten, die â anders als wir Leser/innen â keinerlei Innensicht in die Hauptfigur erhalten.
So erzĂ€hlt der Text neben der oberflĂ€chlichen AlltagsrealitĂ€t beispielsweise davon, dass sich das Benzin in den SchlĂ€uchen der ZapfsĂ€ule in Blut verwandelt, oder dass Anna in der Bewegung eines rauschhaften Tanzes durch die Luftschichten schwebt und sich auflöst. Die ErzĂ€hlung handelt des weiteren von einem vorbeifahrenden Auto, das gegen einen Pfosten prallt, an dem der Kopf des Fahrers zerschellt. Berichtet wird ferner von der erotischen Begegnung mit einem Unbekannten auf dem Waldboden, die Jahrhunderte lang andauert und vom nĂ€chtlichen Sternenhimmel aus beobachtet wird. Die ErzĂ€hlstimme beschreibt darĂŒber hinaus, wie sich eine Nachbarin beim Leeren des MĂŒlleimers eine Schnittwunde zuzieht, durch welche der MĂŒll so weit in den Körper eindringt, dass er verfault, oder dass Annas Körper in einer Bar mit den herabrieselnden Samen einer Weinrebe zu einem grĂŒnen Regen verschmilzt.
Am Schluss der ErzĂ€hlung fĂ€llt die Hauptfigur in den Schlaf; das wegdĂ€mmernde Bewusstsein gleitet allmĂ€hlich in einen Traumzustand ĂŒber: WĂ€hrend der Ehemann nach einem kurzen GesprĂ€ch ĂŒber die Aufgabe von MĂ€nnern, Kriege zu fĂŒhren, zu schnarchen beginnt, hĂ€lt Anna zunĂ€chst die Augen offen. Vor ihrem geistigen Auge tauchen noch einmal die nachbarlichen Gestalten auf, die sie zuvor beobachtet hatte. Obwohl Anna weiĂ, dass es drauĂen dunkel ist, ist die Szene in gleiĂendes Sonnenlicht getaucht, wĂ€hrend die Stimme des Bettlers von gegenĂŒber dieselben Worte von sich gibt, die tagsĂŒber bereits zu vernehmen waren. Dann schlieĂt die Figur die Augen, der Text wechselt vom imparfait zunĂ€chst in den Konjunktiv, bevor er schlieĂlich ins PrĂ€sens ĂŒbergeht und mit einer Traumschilderung fortfĂ€hrt. Die Szenerie dieses Traumes scheint aus einer anderen ErzĂ€hlung Bourdouxhes entnommen; nĂ€mlich Sous le pont Mirabeau, einem autobiographischen Text ĂŒber die Flucht einer Mutter mit ihrem Neugeborenen von Bruxelles nach SĂŒdfrankreich im Mai 1940 wĂ€hrend des Einmarsches der Deutschen Wehrmacht in Belgien: Soldaten marschieren eine frĂŒhsommerlich blĂŒhende StraĂe entlang. Am Ende des Traumerlebnisses hat sich die TrĂ€umende selbst in das Lied verwandelt, welches die vorbeiziehenden Soldaten singen.
âAnna ferma les yeux. Ce serait le printemps sur la terre. Dans un vaste pays dâherbages, des soldats macheraient sur une route, devant des vergers fleuris. Et la lumiĂšre est parfumĂ©e. Des enfants immobiles regardent le visage amical des soldats. Une femme lĂšve la main: Bonjour soldats. Deux femmes lĂšvent la main: Repasserez-vous? Les soldats chantent. Ce quâils chantent en semaine et le dimanche. Airs de rĂ©giment, de valse et de romance. Chaque note, une Ă une, et chaque mot dĂ©chirant, qui appelle tous les mots, et dĂ©voile lâĂ©ternel au cĆur de ce qui meurt. Anna voit le visage amical, des hommes et des vergers en fleurs. Mais elle nâest ni enfant, ni femme qui salue. Elle est la chanson qui chantent les soldatsâ (Bourdouxhe 2009, 24).
âAnna schloss die Augen. Auf der Erde wĂ€re FrĂŒhling. Inmitten ausgedehnter Weiden wĂŒrden Soldaten eine StraĂe entlangmarschieren, vorbei an blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Das Licht verströmt einen Wohlgeruch. Kinder betrachten die freundlichen Gesichter der Soldaten. Eine Frau hebt die Hand: Guten Tag, Soldaten! Zwei Frauen heben die Hand: Kommt ihr noch einmal vorbei? Die Soldaten singen. Sie singen, was sie wochentags und sonntags singen. Regimentslieder, Walzer, Liebesweisen. Und jede einzelne Note, jedes herzzerreiĂende Wort, das alle Wörter der Welt heraufbeschwört, offenbart dem Herz des Sterbenden die Ewigkeit. Anna sieht die freundlichen Gesichter der MĂ€nner und die blĂŒhenden ObstgĂ€rten. Aber sie ist weder Kind noch grĂŒĂende Frau. Sie ist das Lied, das die Soldaten singenâ (Bourdouxhe 1998, 26 f.).
Analyse und Interpretation
Die unauflösliche Verflechtung zwischen realistischem und traumhaftem Erleben prĂ€gt die Selbst- und Weltwahrnehmung der Protagonistin auf entscheidende Weise. Dies lĂ€sst sich auf der thematischen, der erzĂ€hltechnischen und der stilistisch-rhetorischen Ebene des Textes nachvollziehen (vgl. Solte-Gresser 2011a, 99-106). Doch zunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass einzig der am Schluss wiedergegebene Traum eine vergleichsweise eindeutige Markierung erfĂ€hrt: Das SchlieĂen der Augen, die verĂ€nderte Szenerie und AtmosphĂ€re sowie der Tempus- und Moduswechsel weisen darauf hin. Solche Signale, die einen Traum oder eine TagtrĂ€umerei ankĂŒndigen, finden sich auf den Seiten zuvor kaum. Beim ersten Lesen der ErzĂ€hlung muss man daher annehmen, dass die berichteten Ereignisse innerhalb der erzĂ€hlten Welt allesamt tatsĂ€chlich stattfinden. Was den RealitĂ€tsgrad des ErzĂ€hlten angeht, so wird zwischen dem Geruch des Fleisches und dem Blut in den ZapfsĂ€ulen, den rauschhaften Tanzbewegungen zur Musik und dem BĂŒgeln des Kleides, der Umarmung des fremden Mannes zwischen den Waldwurzeln und dem Dialog im Ehebett nicht unterschieden; fĂŒr die Figur spielt sich all dies auf derselben Wirklichkeitsebene ab. Erst indem man sich, vom Ende der ErzĂ€hlung her kommend, zurĂŒck an den Anfang bewegt, wird deutlich: Mehr als zwei Drittel der gesamten ErzĂ€hlung sind in der heimischen KĂŒche angesiedelt; hier befindet sich Anna offensichtlich dösend auf dem Sofa, ohne dass die Zeit wesentlich voranschreitet â auch wenn die ErzĂ€hlung selbst ganz andere SchauplĂ€tze und ganz andere Zeitdimensionen ins Spiel bringt. Die Figur hat die Wohnung also gar nicht verlassen, die tödlichen UnfĂ€lle der Vorbeikommenden haben sich offenbar nur in der Vorstellungswelt Annas abgespielt, bei dem beunruhigenden schwangeren Leib handelt es sich offensichtlich um eine erinnerte Körperwahrnehmung.
Was hier an auĂergewöhnlichen Ereignissen, fremden, geradezu mĂ€rchenhaften Orten, aus dem alltĂ€glichen Zeitrahmen herausragenden Augenblicken und intensiven SinneseindrĂŒcken beschrieben wird, setzt sich zusammen aus TagtrĂ€umen, einem Schock-Szenario, das an ein flashback eines traumatischen Ereignisses denken lĂ€sst (ob der eigene Sohn tatsĂ€chlich bei einem Autounfall ums Leben kam, bleibt allerdings offen), erotischen Phantasievorstellungen, weiteren Erinnerungsfragmenten oder alptraumhaften Halluzinationen, die ĂŒber lange Assoziationsketten aneinandergereiht werden.
Auch thematisch, motivisch und stilistisch sind die einzelnen RealitĂ€tsebenen ausgesprochen eng miteinander verflochten: Nicht nur ist der gesamte Text syntaktisch, lexikalisch und phonetisch von einer geradezu programmatischen Wiederholungsstruktur geprĂ€gt; auch durch die auĂergewöhnliche Bildlichkeit der ErzĂ€hlung verschmelzen Traum und Wirklichkeit zusehends miteinander: Die sich öffnenden und schlieĂenden BlĂŒten etwa tauchen als Weinreben im StraĂencafĂ© und als Bild fĂŒr den Orgasmus im Ehebett auf. Die blauen Adern charakterisieren gleichermaĂen die traumhaft verwandelten ZapfsĂ€ulen, das erinnerte DekolletĂ© der Protagonistin und das schmorende Fleisch in der Pfanne. Die in den Krieg ziehenden Soldaten sind GesprĂ€chsthema und Traumbild zugleich. Eine Differenzierung der einzelnen Ereignisse hinsichtlich ihres RealitĂ€tsstatusâ kann also bereits aufgrund der extremen Vieldeutigkeit und semantischen Offenheit des Textes nicht gelingen. Erschwert wird eine solche Zuordnung aber auch durch die radikal interne Fokalisierung: Die Perspektive der heterodiegetischen, sich also eigentlich auĂerhalb der erzĂ€hlten Welt befindlichen ErzĂ€hlinstanz (die zwischendurch ĂŒbrigens zwei Mal in eine homodiegetische Stimme wechselt) ist so eng an die Hauptfigur gebunden, dass wir beim Lesen vollstĂ€ndig in die subjektive Erfahrungswelt Annas eintauchen mĂŒssen, um dem Geschehen ĂŒberhaupt einigermaĂen folgen zu können.
Betrachtet man den Text in seiner Gesamtstruktur, wird allerdings deutlich, dass die traumhaften Wahrnehmungen der Protagonistin den weitaus gröĂten Teil der ErzĂ€hlung ausmachen. Die Ă€uĂeren Ereignisse in der zur Tankstelle gehörenden Wohnung bilden lediglich ein loses GerĂŒst fĂŒr das, was sich im Inneren des Subjekts abspielt. Diese ausgesprochen abgrĂŒndigen Erfahrungswelten werden erzĂ€hltechnisch zudem durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traum- und Vorstellungsebenen inszeniert (Solte-Gresser 2011b, 259). Beispielsweise wird die ertrĂ€umte Liebensbegegnung unter nĂ€chtlichem Himmel wie ein tatsĂ€chliches, einmaliges Erlebnis eingefĂŒhrt (âUn soir, et câĂ©tait dans le bois de Meudon, un homme Ă©tait prĂšs dâelleâ, Bourdouxhe 2009, 14; âEines Abends, es war im Wald von Meudon, war ein Mann bei ihrâ, Bourdouxhe 1998, 18). Am Ende der Episode jedoch, in der die ErzĂ€hlstimme fast unmerklich von der dritten Person Singular in die Ich-Perspektive und das Tempus vom PrĂ€sens ins Futur wechselt, erstarrt das Paar zu einer geradezu allegorischen Vision. Damit stellt diese Passage genau genommen einen Meta-Traum dar â einen Traum im Traum eines weiteren Traumes:
âJe suis couchĂ©e avec cet homme auprĂšs de moi. Je suis moi couchĂ©e, et Ă la fois hors de moi, et câest comme si je me voyais. Je vois un homme et une femme couchĂ©s. Ils sont silcencieux, ils sont immobiles, figĂ©s. Ils resteront ainsi couchĂ©s, figĂ©s, mĂȘme quand nos mains se dĂ©senlaceront et que nos gestes se reformeront. Il sont ainsi pour des siĂšcles Ă venir [...]. Et ils seront ainsi, homme et femme qui nâont pas de nom, visibles Ă©ternellement, comme le marbre et la pierre, et il nây a quâeux sur la terre, et ils sont un sens de la terreâ (Bourdouxhe 2009, 16).
âIch liege auf dem Boden, und neben mir dieser Mann. Ich liege und stehe zugleich auĂerhalb meiner selbst, und es ist so, als sĂ€he ich mir zu. Ich sehe einen Mann und eine Frau daliegen. Sie sind stumm, sie sind unbeweglich, erstarrt. Sie werden noch genauso starr daliegen, wenn unsere HĂ€nde sich schon voneinander gelöst haben und unsere Gesten wieder lebendig geworden sind. So sind sie, jetzt und in kĂŒnftigen Jahrhunderten [...]. Sie werden immer so sein, ein Mann und eine Frau, die keinen Namen haben, ewig sichtbar, wie Marmor und Stein, und es gibt nur noch sie auf Erden, uns sie geben der Erde einen Sinnâ (Bourdouxhe 1998, 18).
Im Anschluss an dieses Bild, das auf die atemlose, alles andere als starre Umarmung mit dem Fremden folgt, wird man beim Lesen recht abrupt wieder zurĂŒck in die Alltagswelt gefĂŒhrt: Nicht nur wird die allegorische Traumebene verlassen â womit die ErzĂ€hlung eigentlich wieder auf dem Waldboden anlangen mĂŒsste. Auch das unmittelbar zuvor beschriebene Erlebnis des in der Luft umhergewirbelten, nur noch aus âTraum und Dunstâ (Bourdouxhe 1998, 17; âsonge et vapeursâ, Bourdouxhe 2009, 15) bestehenden Leibes wird rĂŒckwirkend ent-realisiert und als Tagtraum enthĂŒllt. Dies geschieht, indem uns die ErzĂ€hlstimme, eine ErzĂ€hlebene ĂŒberspringend, zunĂ€chst auf die TanzflĂ€che zurĂŒckbringt (âAlors, on danse?â, Bourdouxhe 2009, 16; âWas ist, tanzen wir?â, Bourdouxhe 1998, 19). Aber bereits im nĂ€chsten Satz befindet sich Anna plötzlich wieder auf dem heimischen KĂŒchensofa, als sei nichts geschehen: âAssise au bord du divan, les mains serrĂ©es entre les genoux, Anna entend la voixâ (Bourdouxhe 2009, 16; âAuf dem Rand des Diwans sitzend, die HĂ€nde zwischen die Knie geklemmt, hört Anna seine Stimmeâ, Bourdouxhe 1998, 16). Die Figur hat also die KĂŒche gar nicht verlassen. Nicht nur das Marmorbild und die Begegnung unter dem nĂ€chtlichem Sternenhimmel, auch der Tanz mit Bobby, der sie am Telefon eingeladen und von dem die Vision des Liebespaares im Wald ja ĂŒberhaupt erst ihren Ausgang genommen hatte, waren ertrĂ€umt: âAnna ne possĂšde pas cette robe. Anna est allĂ©e vers la penderie, y a pris la jupe grise, lâa brossĂ©e et repassĂ©eâ (Bourdouxhe 2009, 16-17; âAnna hat kein solches Kleid. Anna ist zum Kleiderschrank gegangen, hat den grauen Rock herausgenommen, ihn ausgebĂŒrstet und gebĂŒgeltâ, Bourdouxhe 1998, 19).
Wie viele der Bourdouxheâschen ErzĂ€hlungen besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nĂ€mlich die intensive Auseinandersetzung mit Worten, KlĂ€ngen und Bildern innerhalb der ErzĂ€hlung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbstĂ€ndigende Bildlichkeit bestimmter EindrĂŒcke oder âGeschichten in der Geschichteâ, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom MĂŒll-verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der BanalitĂ€t des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8 f.). Das harmlose âhĂŒbsche Liedâ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; âpourtant une chanson gaieâ, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfĂ€llt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.); ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten TrĂ€nenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der ErzĂ€hlung schlieĂlich verbindet ĂŒber musikalische KlĂ€nge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorĂŒberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie âsiehtâ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die trĂ€umende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem âeinzelnen herzzerreiĂenden Wortâ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine ĂŒberzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Ăbergang zwischen Traum- und Wachwelt, âbeschwörenâ âalle anderen Worte der Welt heraufâ (ebd.) und scheinen somit die ErzĂ€hlung der âwirklichenâ Welt ĂŒberhaupt erst hervorzubringen.
Einordnung
Was an der Interpretation der ErzĂ€hlung Anna zu Tage tritt, kann fĂŒr die meisten der Bourdouxheâschen Texte gelten: So politisch und gesellschaftskritisch sie auch geprĂ€gt sein mögen â Bourdouxhe konzentriert sich in ihren Romanen und ErzĂ€hlungen vor allem auf problematische Arbeits- und GeschlechterverhĂ€ltnisse im Bergarbeiter- und KleinbĂŒrgermilieu (Dubois 2011) â, die RealitĂ€t in all ihrer KomplexitĂ€t ist fĂŒr die Autorin nicht als solche, d.h. nicht in ihrer Ă€uĂeren Ereignisstruktur fassbar (vgl. dazu ihre poetologischen ĂuĂerungen von 1939 in Kovacshazy/Solte-Gresser 2011, 195-197, bes. 196). Die Darstellung der Wirklichkeit ist auf das engste an die subjektive Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung der erlebenden Figuren geknĂŒpft. Ihre Ă€sthetische DignitĂ€t erhĂ€lt die erzĂ€hlte Alltagswirklichkeit durch den programmatischen Einbezug und die systematische Verflechtung unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen, SinneseindrĂŒcke und Erfahrungsmodi zu einem komplexen Ganzen. Traum und RealitĂ€t stehen damit nicht in einem dualistischen VerhĂ€ltnis zueinander. Bourdouxhe geht es vielmehr darum, gerade die vielschichtigen SphĂ€ren zu erkunden, die TrĂ€umen und Wachen miteinander verbinden. Sie spĂŒrt den möglichen ĂbergĂ€ngen zwischen diesen Welten nach, differenziert erzĂ€hlend die damit einhergehenden GrenzzustĂ€nde des Bewusstseins und lotet die so entstehenden SpielrĂ€ume poetisch und Ă€sthetisch aus.
Literatur
Ausgaben
- Erstausgabe der ErzÀhlsammlung
Sept Nouvelles. Hg. von Françoise Collin. Paris: Tierce 1985.
- Erstausgabe Anna
Anna. In: La Nouvelle Revue Française 52 (MÀrz 1949), 65-76.
- Zitierte Ausgabe
Les jours de la femme Louise et autres nouvelles. Arles: Actes Sud 2009.
- Deutsche Ăbersetzung
Wenn der Morgen dĂ€mmert [LâAube est dĂ©jĂ grise et autres nouvelles]. Ăbers. von Monika Schlitzer und Sabine Schwenk. MĂŒnchen: Piper 1998.
- Manuskripte
Fonds Madeleine Bourdouxhe in den Archives et MusĂ©e de la LittĂ©rature. BibliothĂšque Royale Albert I, Bruxelles, ML 08970 â ML 09021 (noch nicht digitalisiert).
- Poetologischer Essay
Madeleine Bourdouxhe: LittĂ©rature et christianisme [rĂ©ponse de Madeleine Bourdouxhe Ă une enquĂȘte dans La CitĂ© chrĂ©tienne, 5 fĂ©vrier 1939]. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Peter Lang 2011, 195-197.
Forschungsliteratur
- Aron, Paul: Un avatar du populisme. In: Ders., La Littérature prolétarienne en Belgique francophone depuis 1900. Bruxelles: Labor 2006, 180-186.
- Beauvoir, Simone de: Le deuxiÚme sexe [1949]. 2 Bde. Paris: Gallimard 1976.
- Dubois, Jacques: Madeleine Bourdouxhe dans la mouvance populiste. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Peter Lang 2011, 125-129.
- Evans, Faith: Nachwort. In: Madeleine Bourdouxhe, Wenn der Morgen dĂ€mmert [Sept Nouvelles]. MĂŒnchen: Piper 1998, 135-152.
- Gousseau, Josette: Madeleine Bourdouxhe, lâengagement au fĂ©minin. In: RenĂ©e Linkhorn (Hg.), La Belgique telle quâelle sâĂ©crit. Perspectives sur les lettres belges de langue française. New York u.a.: Lang 1995, 197-209.
- Kovacshazy, CĂ©cile/Christiane Solte-Gresser: DĂ©couvertes et redĂ©couvertes dâune Ćuvre oubliĂ©e. In: C. K./C. S.-G. (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 9-13.
- Paque, Jeannine: Femmes, femme. Ambivalences du fĂ©minisme. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 129-135.
- Sarlet, Claudette: Madeleine Bourdouxhe, attentif au signe de tout lieu. In: Textyles 9 (1993), 19-26.
- Solte-Gresser, Christiane: SpielrĂ€ume des Alltags. Literarische Gestaltung von AlltĂ€glichkeit in deutscher, französischer und italienischer ErzĂ€hlprosa (1929-1949). WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2010, bes. 232-296.
- Solte-Gresser, Christiane (2011a): Anna. La poĂ©tique du quotidien. In: CĂ©cile Kovacshazy/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisĂ©s sur son Ćuvre littĂ©raire. Bruxelles: Lang 2011, 99-106.
- Solte-Gresser, Christiane (2011b): âAlptraum mit Aufschubâ. AnsĂ€tze zur Analyse literarischer TraumerzĂ€hlungen. In: Susanne Goumegou/Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 239-262.
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: Solte-Gresser, Christiane: Les jours de la femme Louise et autres nouvelles (Madeleine Bourdouxhe). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Les_jours_de_la_femme_Louise_et_autres_nouvelles%22_(Madeleine_Bourdouxhe). |