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„Ich liege auf dem Boden, und neben mir dieser Mann. Ich liege und stehe zugleich außerhalb meiner selbst, und es ist so, als sähe ich mir zu. Ich sehe einen Mann und eine Frau daliegen. Sie sind stumm, sie sind unbeweglich, erstarrt. Sie werden noch genauso starr daliegen, wenn unsere Hände sich schon voneinander gelöst haben und unsere Gesten wieder lebendig geworden sind. So sind sie, jetzt und in künftigen Jahrhunderten (...). Sie werden immer so sein, ein Mann und eine Frau, die keinen Namen haben, ewig sichtbar, wie Marmor und Stein, und es gibt nur noch sie auf Erden, uns sie geben der Erde einen Sinn“ (Bourdouxhe 1998, 18).
 
„Ich liege auf dem Boden, und neben mir dieser Mann. Ich liege und stehe zugleich außerhalb meiner selbst, und es ist so, als sähe ich mir zu. Ich sehe einen Mann und eine Frau daliegen. Sie sind stumm, sie sind unbeweglich, erstarrt. Sie werden noch genauso starr daliegen, wenn unsere Hände sich schon voneinander gelöst haben und unsere Gesten wieder lebendig geworden sind. So sind sie, jetzt und in künftigen Jahrhunderten (...). Sie werden immer so sein, ein Mann und eine Frau, die keinen Namen haben, ewig sichtbar, wie Marmor und Stein, und es gibt nur noch sie auf Erden, uns sie geben der Erde einen Sinn“ (Bourdouxhe 1998, 18).
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Im Anschluss an dieses Bild, das auf die atemlose, alles andere als starre Umarmung mit dem Fremden folgt, wird man beim Lesen recht abrupt wieder zurück in die Alltagswelt geführt: Nicht nur wird die allegorische Traumebene verlassen – womit die Erzählung eigentlich wieder auf dem Waldboden anlangen müsste. Auch das unmittelbar zuvor beschriebene Erlebnis des in der Luft umhergewirbelten, nur noch aus „Traum und Dunst“ (Bourdouxhe 1998, 17; „songe et vapeurs“, Bourdouxhe 2009, 15) bestehenden Leibes wird rückwirkend ent-realisiert und als Tagtraum enthüllt. Dies geschieht, indem uns die Erzählstimme, eine Erzählebene überspringend, zunächst auf die Tanzfläche zurückbringt („Alors, on danse?“, Bourdouxhe 2009, 16; „Was ist, tanzen wir?“ Bourdouxhe 1998, 19). Aber bereits im nächsten Satz befindet sich Anna plötzlich wieder auf dem heimischen Küchensofa, als sei nichts geschehen: „Assise au bord du divan, les mains serrées entre les genoux, Anna entend la voix“ (Bourdouxhe 2009, 16; „Auf dem Rand des Diwans sitzend, die Hände zwischen die Knie geklemmt, hört Anna seine Stimme“; Bourdouxhe 1998, 16). Die Figur hat also die Küche gar nicht verlassen. Nicht nur das Marmorbild und die Begegnung unter dem nächtlichem Sternenhimmel, auch der Tanz mit Bobby, der sie am Telefon eingeladen und von dem die Vision des Liebespaares im Wald ja überhaupt erst ihren Ausgang genommen hatte, waren erträumt: „Anna ne possède pas cette robe. Anna est allée vers la penderie, y a pris la jupe grise, l’a brossée et repassée“ (Bourdouxhe 2009, 16-17; „Anna hat kein solches Kleid. Anna ist zum Kleiderschrank gegangen, hat den grauen Rock herausgenommen, ihn ausgebürstet und gebügelt“, Bourdouxhe 1998, 19).
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Im Anschluss an dieses Bild, das auf die atemlose, alles andere als starre Umarmung mit dem Fremden folgt, wird man beim Lesen recht abrupt wieder zurück in die Alltagswelt geführt: Nicht nur wird die allegorische Traumebene verlassen – womit die Erzählung eigentlich wieder auf dem Waldboden anlangen müsste. Auch das unmittelbar zuvor beschriebene Erlebnis des in der Luft umhergewirbelten, nur noch aus „Traum und Dunst“ (Bourdouxhe 1998, 17; „songe et vapeurs“, Bourdouxhe 2009, 15) bestehenden Leibes wird rückwirkend ent-realisiert und als Tagtraum enthüllt. Dies geschieht, indem uns die Erzählstimme, eine Erzählebene überspringend, zunächst auf die Tanzfläche zurückbringt („Alors, on danse?“, Bourdouxhe 2009, 16; „Was ist, tanzen wir?“ Bourdouxhe 1998, 19). Aber bereits im nächsten Satz befindet sich Anna plötzlich wieder auf dem heimischen Küchensofa, als sei nichts geschehen: „Assise au bord du divan, les mains serrées entre les genoux, Anna entend la voix“ (Bourdouxhe 2009, 16; „Auf dem Rand des Diwans sitzend, die Hände zwischen die Knie geklemmt, hört Anna seine Stimme“, Bourdouxhe 1998, 16). Die Figur hat also die Küche gar nicht verlassen. Nicht nur das Marmorbild und die Begegnung unter dem nächtlichem Sternenhimmel, auch der Tanz mit Bobby, der sie am Telefon eingeladen und von dem die Vision des Liebespaares im Wald ja überhaupt erst ihren Ausgang genommen hatte, waren erträumt: „Anna ne possède pas cette robe. Anna est allée vers la penderie, y a pris la jupe grise, l’a brossée et repassée“ (Bourdouxhe 2009, 16-17; „Anna hat kein solches Kleid. Anna ist zum Kleiderschrank gegangen, hat den grauen Rock herausgenommen, ihn ausgebürstet und gebügelt“, Bourdouxhe 1998, 19).
    
Wie viele der Bourdouxhe’schen Erzählungen, besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit Worten, Klängen und Bildern innerhalb der Erzählung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbständigende Bildlichkeit bestimmter Eindrücke oder ‚Geschichten in der Geschichte’, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom Müll verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der Banalität des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8-9). Das harmlose „hübsche Lied“ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; „pourtant une chanson gaie“, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfällt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.), oder ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten Tränenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der Erzählung schließlich verbindet über musikalische Klänge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorüberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie „sieht“ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die träumende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem „einzelnen herzzerreißenden Wort“ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine überzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Übergang zwischen Traum- und Wachwelt, „beschwören“ „alle anderen Worte der Welt herauf“ (ebd.) und scheinen somit die Erzählung der ‚wirklichen’ Welt überhaupt erst hervorzubringen.
 
Wie viele der Bourdouxhe’schen Erzählungen, besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit Worten, Klängen und Bildern innerhalb der Erzählung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbständigende Bildlichkeit bestimmter Eindrücke oder ‚Geschichten in der Geschichte’, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom Müll verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der Banalität des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8-9). Das harmlose „hübsche Lied“ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; „pourtant une chanson gaie“, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfällt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.), oder ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten Tränenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der Erzählung schließlich verbindet über musikalische Klänge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorüberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie „sieht“ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die träumende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem „einzelnen herzzerreißenden Wort“ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine überzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Übergang zwischen Traum- und Wachwelt, „beschwören“ „alle anderen Worte der Welt herauf“ (ebd.) und scheinen somit die Erzählung der ‚wirklichen’ Welt überhaupt erst hervorzubringen.
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