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Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.
 
Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.
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[[Datei:Nemo_Abb._3.jpg|thumb|right|871x198px|'''Abb. 3''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]]
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[[Datei:Nemo_Abb._3.jpg|thumb|center|871x198px|'''Abb. 3''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]]
    
Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen (Engel 2003, S. 154): Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird also nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet (Engel 2016, 21). So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.
 
Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen (Engel 2003, S. 154): Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird also nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet (Engel 2016, 21). So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.
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Diese Folge von ''Little Nemo'' inszeniert Träumen als Reise in die Traumwelt, die hier allerdings vor Erreichen des Ziels abgebrochen wird. Für die Reise wird die Erzählstruktur von Weg und Rückweg aktiviert und in einem spiegelsymmetrischen Seitenaufbau vermittelt (Abb. 7): Eintritt in die Höhle und Flucht aus ihr werden in vier gleich großen Panels in der ersten und letzten Zeile erzählt, während die Herleitung der 'Katastrophe', ihr Eintreten und ihre unmittelbaren Folgen in den mittleren Zeilen in Panels von zunehmender und dann wieder abnehmender Größe dargestellt sind.
 
Diese Folge von ''Little Nemo'' inszeniert Träumen als Reise in die Traumwelt, die hier allerdings vor Erreichen des Ziels abgebrochen wird. Für die Reise wird die Erzählstruktur von Weg und Rückweg aktiviert und in einem spiegelsymmetrischen Seitenaufbau vermittelt (Abb. 7): Eintritt in die Höhle und Flucht aus ihr werden in vier gleich großen Panels in der ersten und letzten Zeile erzählt, während die Herleitung der 'Katastrophe', ihr Eintreten und ihre unmittelbaren Folgen in den mittleren Zeilen in Panels von zunehmender und dann wieder abnehmender Größe dargestellt sind.
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[[Datei:Nemo_Abb._7.jpg|thumb|right|871x1203px|'''Abb. 7''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (gesamt).]]
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[[Datei:Nemo_Abb._7.jpg|thumb|center|871x1203px|'''Abb. 7''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (gesamt).]]
    
Auch die Entwicklung der Traumwelt unterliegt einer Dynamik von Zu- und Abnahme. Bis zum siebten Panel kommen jeweils neue Elemente der Traumwelt hinzu, die dann ab dem neunten Panel zurückgenommen werden. Das Seitenlayout ist somit nach Peeters als "produktiv" einzustufen, da die Handlungsstruktur aus dem visuellen Rhythmus der Panels abgeleitet wird (Peeters 1991, 42-44). Dabei beinhalten die größten Panels die Momente, in denen Nemo aktiv in die Traumhandlung eingreift (und so die Zerstörung der geträumten Welt herbeiführt). Er spricht allerdings nur in zweien der insgesamt 14 Panels der Haupthandlung, was für die frühen Little-Nemo-Strips nicht ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist indes, dass seine Redeanteile die Stellen des Eintritts in die und Wiederaustritts aus der Traumwelt markieren. Das erste und letzte Panel, die denselben Bildausschnitt zeigen, bilden eine visuelle Klammer, die die Struktur von Reise und Wiederkehr verstärkt, indem Nemo an exakt demselben Ort wieder 'ankommt', an dem seine Reise begonnen hat. Gleichzeitig dient das letzte Panel einer rückwirkenden Markierung des bisher Erzählten als Traum durch die die Szene des Erwachens als "Ur-Szene" der Traumdarstellung (Engel 2010, 157).
 
Auch die Entwicklung der Traumwelt unterliegt einer Dynamik von Zu- und Abnahme. Bis zum siebten Panel kommen jeweils neue Elemente der Traumwelt hinzu, die dann ab dem neunten Panel zurückgenommen werden. Das Seitenlayout ist somit nach Peeters als "produktiv" einzustufen, da die Handlungsstruktur aus dem visuellen Rhythmus der Panels abgeleitet wird (Peeters 1991, 42-44). Dabei beinhalten die größten Panels die Momente, in denen Nemo aktiv in die Traumhandlung eingreift (und so die Zerstörung der geträumten Welt herbeiführt). Er spricht allerdings nur in zweien der insgesamt 14 Panels der Haupthandlung, was für die frühen Little-Nemo-Strips nicht ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist indes, dass seine Redeanteile die Stellen des Eintritts in die und Wiederaustritts aus der Traumwelt markieren. Das erste und letzte Panel, die denselben Bildausschnitt zeigen, bilden eine visuelle Klammer, die die Struktur von Reise und Wiederkehr verstärkt, indem Nemo an exakt demselben Ort wieder 'ankommt', an dem seine Reise begonnen hat. Gleichzeitig dient das letzte Panel einer rückwirkenden Markierung des bisher Erzählten als Traum durch die die Szene des Erwachens als "Ur-Szene" der Traumdarstellung (Engel 2010, 157).
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<div style='text-align: right;'>[[Autoren|JB]]</div>
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<div style='text-align: right;'>[[Autoren|Juliane Blank]]</div>
    
==Ausgaben und Forschungsliteratur==
 
==Ausgaben und Forschungsliteratur==
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*Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München: Beck 2002.
 
*Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München: Beck 2002.
*Blank, Juliane: Shaping the World. Dreams, Dreaming, and Dreamworlds in Comics (''Dream of the Rarebit Fiend'', ''Little Nemo'' and ''The Sandman''). In: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hg.): Writing the Dream / Ècrire le rève. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Cultural Dream Studies 1), 277-303.
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*Blank, Juliane: Shaping the World. Dreams, Dreaming, and Dreamworlds in Comics (''Dream of the Rarebit Fiend'', ''Little Nemo'' and ''The Sandman''). In: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Cultural Dream Studies 1), 277-303.
 
*Braun, Alexander: Winsor McCay. Comics, Filme, Träume. Bonn: Bocola 2012.
 
*Braun, Alexander: Winsor McCay. Comics, Filme, Träume. Bonn: Bocola 2012.
 
*Bukatman, Scott: The Poetics of Slumberland. Animated Spirits and the Animating Spirit. Berkeley: University of California Press 2012.
 
*Bukatman, Scott: The Poetics of Slumberland. Animated Spirits and the Animating Spirit. Berkeley: University of California Press 2012.
 
*Canemaker, John: Winsor McCay: His Life and Art. New York: Abrams überarb. u. erw. Aufl. 2005.
 
*Canemaker, John: Winsor McCay: His Life and Art. New York: Abrams überarb. u. erw. Aufl. 2005.
*Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? In: Christine Ivanovic/Jürgen Lehmann/ Markus May (Hg.): Phantastik - Kult oder Kultur? Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, 153-169.
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*Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? In: Christine Ivanovic/Jürgen Lehmann/Markus May (Hg.): Phantastik - Kult oder Kultur? Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, 153-169.
 
*Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: KulturPoetik 10 (2010) 2, 153–176.
 
*Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: KulturPoetik 10 (2010) 2, 153–176.
*Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hg.): Writing the Dream / Ècrire le rève. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
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*Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
 
*Harvey, Robert C.: The Art of the Funnies: An Aesthetic History. Jackson: Mississippi UP 1994.
 
*Harvey, Robert C.: The Art of the Funnies: An Aesthetic History. Jackson: Mississippi UP 1994.
 
*Heer, Jeet: Little Nemo in Comicsland. In: Spring 82 (2006) 2; [http://www.vqronline.org/essay/little-nemo-comicsland http://www.vqronline.org/essay/little-nemo-comicsland] (24.11.2017)
 
*Heer, Jeet: Little Nemo in Comicsland. In: Spring 82 (2006) 2; [http://www.vqronline.org/essay/little-nemo-comicsland http://www.vqronline.org/essay/little-nemo-comicsland] (24.11.2017)
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[[Kategorie:Comic]]
 
[[Kategorie:Comic]]
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[[Kategorie:Jahrhundertwende]]
      
[[Kategorie:McCay,_Winsor|Winsor McCay]]
 
[[Kategorie:McCay,_Winsor|Winsor McCay]]

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