"Manifeste du surréalisme" (André Breton): Unterschied zwischen den Versionen
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â | + | Das 1924 erschienene erste ''Manifeste du surrĂ©alisme'' des französischen Dichters und Schriftstellers AndrĂ© Breton (1896â1966) zĂ€hlt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ăsthetik dar. | |
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 | ==Zum Autor== |  | ==Zum Autor== |
â | In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als âKopfâ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren | + | In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als âKopfâ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame AktivitĂ€ten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons MaĂregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ăchtungen der AusgestoĂenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68â70, 220â230).  |
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â | Ausgehend vom | + | Ausgehend vom ''Manifeste du surrĂ©alisme'' finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie ''Nadja'' (1928), ''Les vases communicants'' (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder ''Lâamour fou'' (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ăsthetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315â333). |
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â | ==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surrĂ©alisme== | + | ==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten ''Manifeste du surrĂ©alisme''== |
â | Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde | + | Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/FĂ€hnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurĂŒck (ebd., 328). Einerseits schlieĂt das erste ''Manifeste du surrĂ©alisme'' partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surrĂ©alisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVIâXX). |
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â | Die Veröffentlichung der theoretischen Ăberlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''Ă©criture automatique''<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, | + | Die Veröffentlichung der theoretischen Ăberlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''Ă©criture automatique'' (Schneede 2006, 19, 23â27, 42â44).<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die KĂŒnstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert flieĂen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de LautrĂ©mont (1846â1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859â1947) (Hadda 2019, 17 f.).</ref> Obwohl sich 1924 schon bildende KĂŒnstler wie Max Ernst (1891â1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42â44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/FĂ€hnders 2005, 327). GeprĂ€gt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nĂ€mlich die Surrealisten das BĂŒrgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung fĂŒr das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergĂ€nzt und erneut aufgelegt (MS 61â65; MSd 45â49).  |
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â | In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt | + | In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche EinschĂŒbe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachtrĂ€gliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprĂŒnglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche RĂŒckbezĂŒge hergestellt werden (BĂŒrger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ăsthetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen AusfĂŒhrungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschlieĂend zu einem experimentellen Gedicht ĂŒber, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53â56; MSd 38â40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die fĂŒr die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war. |
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 | ==Imagination und Freiheit== |  | ==Imagination und Freiheit== |
â | Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und | + | Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und RealitĂ€t gegenĂŒbergestellt (Goumegou 2007, 267). Die FĂ€higkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukĂŒnftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14â16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken: |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;"> | + | : <span style="color: #7b879e;">OĂč commence-t-elle [l'imagination] Ă devenir mauvaise et oĂč sâarrĂȘte la sĂ©curitĂ© de lâesprit? Pour lâesprit, la possibilitĂ© dâerrer nâest-elle pas plutĂŽt la contingence du bien? (MS 15). |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlĂ€ssig? Ist fĂŒr den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die ZufĂ€lligkeit, richtig zu denken ( | + | : <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie [die Imagination] Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlĂ€ssig? Ist fĂŒr den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die ZufĂ€lligkeit, richtig zu denken? (MSd 12).</span> |
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â | + | Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen ĂŒber und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fĂŒrchten (MS 15 f.; MSd 12). | |
â | Des Weiteren fordert | + | Â |
 | + | Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr fĂŒr eigene Assoziationen lĂ€sst (MS 16â19; MSd 13â15). In seinen weiteren AusfĂŒhrungen begrĂŒndet er seine Kritik an der allzu groĂen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser âFreiheitsberaubungâ des Geistes zusĂ€tzlich beitrĂ€gt:  | |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;">[LâexpĂ©rience] tourne dans une cage dâoĂč il est de plus en difficile de la faire sortir [âŠ], et elle est gardĂ©e par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prĂ©texte de progrĂšs, on est parvenu Ă bannir de lâesprit tout ce qui se peut taxer Ă tort ou Ă raison de superstition, de chimĂšre; Ă proscrire tout mode de recherche de la vĂ©ritĂ© qui nâest pas conforme Ă lâusage ( | + | : <span style="color: #7b879e;">[LâexpĂ©rience] tourne dans une cage dâoĂč il est de plus en difficile de la faire sortir [âŠ], et elle est gardĂ©e par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prĂ©texte de progrĂšs, on est parvenu Ă bannir de lâesprit tout ce qui se peut taxer Ă tort ou Ă raison de superstition, de chimĂšre; Ă proscrire tout mode de recherche de la vĂ©ritĂ© qui nâest pas conforme Ă lâusage (MS 20). |
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â | : <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem KĂ€fig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen [âŠ], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebrĂ€uchlichen entspricht ( | + | : <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem KĂ€fig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen [âŠ], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebrĂ€uchlichen entspricht (MSd 15).</span> |
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â | Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe âsuperstitionâ und âchimĂšreâ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim | + | Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe âsuperstitionâ und âchimĂšreâ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezĂŒglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschlieĂen (MS 24â28; MSd 18â21). |
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 | ==Traum und RealitÀt== |  | ==Traum und RealitÀt== |
â | Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert | + | Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert; durch den Eingriff des GedĂ€chtnisses erfolgen jedoch VerĂ€nderungen, so dass sich scheinbar mehrere TrĂ€ume abspielen. Was innerhalb des Traumes als RealitĂ€t eingestuft wird, hĂ€ngt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der TrĂ€umenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des RealitĂ€tsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollstĂ€ndig aufgelöst werden können. Er wĂŒnscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wĂ€re zurĂŒckzutreten. Breton schlieĂt auch weder die Möglichkeit einer narrativen WeitererzĂ€hlung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergefĂŒhrt werden (MS 21 f.; MSd 16â18). In solchen Ăberlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die fĂŒr die Surrealisten Ă€sthetisch von Interesse war. Danach Ă€uĂert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes: |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;"> | + | : <span style="color: #7b879e;">pourqoui nâaccorderais-je pas au rĂȘve ce que je refuse parfois Ă la rĂ©alitĂ©, soit cette valeur de certitude en elle-mĂȘme, qui, dans son temps, nâest point exposĂ©e Ă mon dĂ©saveu ? Pourqoui nâattenderais-je pas de lâindice du rĂȘve plus que je nâattends dâun degrĂ© de conscience chaque jour plus Ă©levĂ© ? Le rĂȘve ne peut-il ĂȘtre appliquĂ©, lui aussi, Ă la rĂ©solution des questions fondamentales de la vie ? (MS 22). |
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â | : <span style="color: #7b879e;"> | + | : <span style="color: #7b879e;">warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden GewiĂheit nĂ€mlich, der fĂŒr die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem tĂ€glich wachsenden BewuĂtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? (MSd 17).</span> |
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â | Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt | + | Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt Breton die VerlĂ€sslichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der TrĂ€umenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reiĂt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16â18). Breton versteht Traum und RealitĂ€t daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar: |
â | Breton versteht Traum und RealitĂ€t daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar: |  | |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Je crois Ă la rĂ©solution future de ces deux Ă©tats, en apparence si contradictoires, que sont le rĂȘve et la rĂ©alitĂ©, en une sorte de rĂ©alitĂ© absolue, de surrĂ©alitĂ©, si lâon peut ainsi dire. Câest Ă sa conquĂȘte que je vais, certain de nây pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies dâune telle possession ( | + | : <span style="color: #7b879e;">Je crois Ă la rĂ©solution future de ces deux Ă©tats, en apparence si contradictoires, que sont le rĂȘve et la rĂ©alitĂ©, en une sorte de rĂ©alitĂ© absolue, de surrĂ©alitĂ©, si lâon peut ainsi dire. Câest Ă sa conquĂȘte que je vais, certain de nây pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies dâune telle possession (MS 24). |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die kĂŒnftige Auflösung dieser scheinbar so gegensĂ€tzlichen ZustĂ€nde von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten RealitĂ€t, wenn man so sagen kann: SurrealitĂ€t. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekĂŒmmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwĂ€gen ( | + | : <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die kĂŒnftige Auflösung dieser scheinbar so gegensĂ€tzlichen ZustĂ€nde von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten RealitĂ€t, wenn man so sagen kann: SurrealitĂ€t. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekĂŒmmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwĂ€gen (MSd 18).</span> |
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â | Die Aufhebung der Grenzen zwischen ârĂȘveâ und ârĂ©alitĂ©â ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich | + | Die Aufhebung der Grenzen zwischen ârĂȘveâ und ârĂ©alitĂ©â ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes kĂŒnstlerisches Schaffen ausrichtet. |
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 | ==Traumtheoretische BezĂŒge== |  | ==Traumtheoretische BezĂŒge== |
â | An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' von Sigmund Freud (1856â1939)<ref> Breton traf bereits 1921 | + | An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' (1899) von Sigmund Freud (1856â1939),<ref>Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernĂŒchtert (Sebbag 2004, 21 f.; JimĂ©nez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch bestĂ€ndig von diesen BemĂŒhungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der BeschĂ€ftigung mit TrĂ€umen ziehen wollten. WĂ€hrend Freud in GesprĂ€chen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der âunlogischâ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration fĂŒr ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des kĂŒnstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschrĂ€nkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und ĂŒberheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).</ref> ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu Ă€uĂern und auf dessen Fachbegriffe zurĂŒckzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger AnstoĂ fĂŒr die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt: |
â | In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, |  | |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de [âŠ] dĂ©couvertes [de Freud], un courant dâopinion se dessine enfin, Ă la faveur duquel lâexplorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisĂ© quâil sera Ă ne plus seulement tenir compte des rĂ©alitĂ©s sommaires. Lâimagination est peut-ĂȘtre sur le point de reprendre ses droits ( | + | : <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de [âŠ] dĂ©couvertes [de Freud], un courant dâopinion se dessine enfin, Ă la faveur duquel lâexplorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisĂ© quâil sera Ă ne plus seulement tenir compte des rĂ©alitĂ©s sommaires. Lâimagination est peut-ĂȘtre sur le point de reprendre ses droits (MS 20). |
â | : <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten ( | + |  |
 | + | : <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (MSd 15).</span> | |
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â | Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die | + | Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die OberflĂ€che treten. Mit Zuspruch gegenĂŒber Freuds Kritik bemĂ€ngelt anschlieĂend Breton die ungenĂŒgende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen groĂen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, fĂŒhrt Breton seinen eigenen Gedankengang ĂŒber Traum und RealitĂ€t weiter aus (MS 20â23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primĂ€r zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279). |
â | Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf | + | Â |
 | + | Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Ăberlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen DenkanstoĂ fĂŒr die Entwicklung der ''Ă©criture automatique'' charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.): | |
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 | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |  | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Tout occupĂ© que jâĂ©tais encore de Freud Ă cette Ă©poque et familiarisĂ© avec ses mĂ©thodes dâexamen que jâavais eu quelque peu lâoccasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je rĂ©solus dâobtenir de moi ce quâon cherche Ă obtenir dÂŽeux, soit un monologue de dĂ©bit aussi rapide que possible, sur lequel lâesprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne sâembarasse, par suite, dâaucune rĂ©ticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensĂ©e parlĂ©e. Il mâavait paru, et il ma paraĂźt encore [âŠ] que la vitesse de la pensĂ©e nÂŽest pas supĂ©rieur Ă celle de la parole, et quÂŽelle ne dĂ©fie pas forcĂ©ment la langue, ni mĂȘme la plume qui court ( | + | : <span style="color: #7b879e;">Tout occupĂ© que jâĂ©tais encore de Freud Ă cette Ă©poque et familiarisĂ© avec ses mĂ©thodes dâexamen que jâavais eu quelque peu lâoccasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je rĂ©solus dâobtenir de moi ce quâon cherche Ă obtenir dÂŽeux, soit un monologue de dĂ©bit aussi rapide que possible, sur lequel lâesprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne sâembarasse, par suite, dâaucune rĂ©ticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensĂ©e parlĂ©e. Il mâavait paru, et il ma paraĂźt encore [âŠ] que la vitesse de la pensĂ©e nÂŽest pas supĂ©rieur Ă celle de la parole, et quÂŽelle ne dĂ©fie pas forcĂ©ment la langue, ni mĂȘme la plume qui court (MS 33). |
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â | : <span style="color: #7b879e;">Ich beschĂ€ftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets | + | : <span style="color: #7b879e;">Ich beschĂ€ftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref>WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds ĂŒber das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42â44). </ref> und beschloĂ nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nĂ€mlich einen so rasch wie möglich flieĂenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei ZurĂŒckhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wĂ€re. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch [âŠ], daĂ das Tempo des Denkstroms nicht gröĂer ist als das des Redestroms und daĂ das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (MSd 24 f.).</span> |
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â | Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der | + | Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollstĂ€ndig erinnern, ihn beschĂ€ftigte aber zugleich die Satzstruktur von âIl y a un homme coupĂ© en deux par la fenĂȘtreâ (MS 31; âDa ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wirdâ, MSd 23). |
â | Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum Traumdiskurs | + | Â |
 | + | Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von TrĂ€umen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Ăberlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (JimĂ©nez 2013, 24â29). Diese streift also bisweilen flĂŒchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton ĂŒberwiegend seine Ansicht zum VerhĂ€ltnis zwischen Traum und RealitĂ€t zu bekrĂ€ftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279). | |
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 | ==Rezeption und Bedeutung des Werks== |  | ==Rezeption und Bedeutung des Werks== |
â | Das | + | Das ''Manifeste du surrĂ©alisme'' von 1924 lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darĂŒber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergĂ€nzend herangezogen, um z.B. die Ăberlegungen hinter ausgewĂ€hlten Ă€sthetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunĂ€chst ein Papier ĂŒber einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit ĂŒber die FlĂ€che zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl kĂŒnstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum fĂŒr Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99â101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''Ă©criture automatique'' setzte. Daneben muss die ''Frottage'' natĂŒrlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des KĂŒnstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110â127). |
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 | ==Literatur== |  | ==Literatur== |
 | ===Ausgaben=== |  | ===Ausgaben=== |
â | * Breton, AndrĂ©: | + | * Breton, AndrĂ©: Manifeste du surrĂ©alisme. Paris: Ăd. du Sagittaire 1924. |
 | + | * Ders.: Manifeste du surrĂ©alisme; Poisson soluble. Paris: Ăd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929. | |
 | + | * Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS. | |
 | + | * Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Ăbers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts EnzyklopĂ€die 434); zitiert als MSd. | |
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â | * | + | ===Kontexte=== |
 | + | *Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & RĂȘves surrĂ©alistes. Paris: Jean-Michel Place 2004. | |
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 | ===Forschungsliteratur=== |  | ===Forschungsliteratur=== |
â | * Asholt, Wolfgang/FĂ€hnders | + | * Alexandrian, Sarane: Le SurrĂ©alisme et le rĂȘve. Paris: Gallimard 1974. |
â | * BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus | + | * Asholt, Wolfgang/Walter FĂ€hnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europĂ€ischen Avantgarde (1909â1938). Stuttgart: Metzler 2005. |
â | * Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: | + | * BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222). |
 | + | * Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): TrĂ€ume 1900â2000. Kunst, Wissenschaft und das UnbewuĂte. MĂŒnchen u.a: Prestel 2000, 13â60. | |
 | * Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007. |  | * Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007. |
â | * Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus | + | * Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador DalĂ, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149). |
â | * JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: | + | * JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17â54. |
â | * Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus | + | * Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: AndrĂ© Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frĂŒhen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90. |
 | + | * Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111. | |
 | + | * Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. MĂŒnchen: Beck 2006. | |
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Aktuelle Version vom 29. August 2022, 22:19 Uhr
Das 1924 erschienene erste Manifeste du surrĂ©alisme des französischen Dichters und Schriftstellers AndrĂ© Breton (1896â1966) zĂ€hlt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ăsthetik dar.
Zum Autor
In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als âKopfâ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame AktivitĂ€ten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons MaĂregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ăchtungen der AusgestoĂenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68â70, 220â230).
Ausgehend vom Manifeste du surrĂ©alisme finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie Nadja (1928), Les vases communicants (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder Lâamour fou (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ăsthetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315â333).
Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surréalisme
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/FĂ€hnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurĂŒck (ebd., 328). Einerseits schlieĂt das erste Manifeste du surrĂ©alisme partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surrĂ©alisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVIâXX).
Die Veröffentlichung der theoretischen Ăberlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der Ă©criture automatique (Schneede 2006, 19, 23â27, 42â44).[1] Obwohl sich 1924 schon bildende KĂŒnstler wie Max Ernst (1891â1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42â44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/FĂ€hnders 2005, 327). GeprĂ€gt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nĂ€mlich die Surrealisten das BĂŒrgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung fĂŒr das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergĂ€nzt und erneut aufgelegt (MS 61â65; MSd 45â49).
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche EinschĂŒbe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachtrĂ€gliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprĂŒnglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche RĂŒckbezĂŒge hergestellt werden (BĂŒrger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ăsthetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen AusfĂŒhrungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschlieĂend zu einem experimentellen Gedicht ĂŒber, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53â56; MSd 38â40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die fĂŒr die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
Imagination und Freiheit
Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und RealitĂ€t gegenĂŒbergestellt (Goumegou 2007, 267). Die FĂ€higkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukĂŒnftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14â16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:
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Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen ĂŒber und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fĂŒrchten (MS 15 f.; MSd 12).
Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr fĂŒr eigene Assoziationen lĂ€sst (MS 16â19; MSd 13â15). In seinen weiteren AusfĂŒhrungen begrĂŒndet er seine Kritik an der allzu groĂen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser âFreiheitsberaubungâ des Geistes zusĂ€tzlich beitrĂ€gt:
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Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe âsuperstitionâ und âchimĂšreâ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezĂŒglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschlieĂen (MS 24â28; MSd 18â21).
Traum und RealitÀt
Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert; durch den Eingriff des GedĂ€chtnisses erfolgen jedoch VerĂ€nderungen, so dass sich scheinbar mehrere TrĂ€ume abspielen. Was innerhalb des Traumes als RealitĂ€t eingestuft wird, hĂ€ngt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der TrĂ€umenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des RealitĂ€tsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollstĂ€ndig aufgelöst werden können. Er wĂŒnscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wĂ€re zurĂŒckzutreten. Breton schlieĂt auch weder die Möglichkeit einer narrativen WeitererzĂ€hlung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergefĂŒhrt werden (MS 21 f.; MSd 16â18). In solchen Ăberlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die fĂŒr die Surrealisten Ă€sthetisch von Interesse war. Danach Ă€uĂert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes:
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Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt Breton die VerlĂ€sslichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der TrĂ€umenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reiĂt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16â18). Breton versteht Traum und RealitĂ€t daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:
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Die Aufhebung der Grenzen zwischen ârĂȘveâ und ârĂ©alitĂ©â ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes kĂŒnstlerisches Schaffen ausrichtet.
Traumtheoretische BezĂŒge
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf Die Traumdeutung (1899) von Sigmund Freud (1856â1939),[2] ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu Ă€uĂern und auf dessen Fachbegriffe zurĂŒckzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger AnstoĂ fĂŒr die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:
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Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die OberflĂ€che treten. Mit Zuspruch gegenĂŒber Freuds Kritik bemĂ€ngelt anschlieĂend Breton die ungenĂŒgende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen groĂen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, fĂŒhrt Breton seinen eigenen Gedankengang ĂŒber Traum und RealitĂ€t weiter aus (MS 20â23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primĂ€r zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279).
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Ăberlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen DenkanstoĂ fĂŒr die Entwicklung der Ă©criture automatique charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.):
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Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollstĂ€ndig erinnern, ihn beschĂ€ftigte aber zugleich die Satzstruktur von âIl y a un homme coupĂ© en deux par la fenĂȘtreâ (MS 31; âDa ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wirdâ, MSd 23).
Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von TrĂ€umen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Ăberlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (JimĂ©nez 2013, 24â29). Diese streift also bisweilen flĂŒchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton ĂŒberwiegend seine Ansicht zum VerhĂ€ltnis zwischen Traum und RealitĂ€t zu bekrĂ€ftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279).
Rezeption und Bedeutung des Werks
Das Manifeste du surrĂ©alisme von 1924 lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darĂŒber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergĂ€nzend herangezogen, um z.B. die Ăberlegungen hinter ausgewĂ€hlten Ă€sthetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der Frottage[4] verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur Ă©criture automatique setzte. Daneben muss die Frottage natĂŒrlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des KĂŒnstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110â127).
Literatur
Ausgaben
- Breton, AndrĂ©: Manifeste du surrĂ©alisme. Paris: Ăd. du Sagittaire 1924.
- Ders.: Manifeste du surrĂ©alisme; Poisson soluble. Paris: Ăd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929.
- Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS.
- Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Ăbers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts EnzyklopĂ€die 434); zitiert als MSd.
Kontexte
- Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & RĂȘves surrĂ©alistes. Paris: Jean-Michel Place 2004.
Forschungsliteratur
- Alexandrian, Sarane: Le SurrĂ©alisme et le rĂȘve. Paris: Gallimard 1974.
- Asholt, Wolfgang/Walter FĂ€hnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europĂ€ischen Avantgarde (1909â1938). Stuttgart: Metzler 2005.
- BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
- Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): TrĂ€ume 1900â2000. Kunst, Wissenschaft und das UnbewuĂte. MĂŒnchen u.a: Prestel 2000, 13â60.
- Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007.
- Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador DalĂ, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
- JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17â54.
- Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: AndrĂ© Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frĂŒhen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90.
- Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111.
- Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. MĂŒnchen: Beck 2006.
Anmerkungen
- â Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten psychischen Automatismus. Die KĂŒnstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert flieĂen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in Les Chants de Maldoror des Comte de LautrĂ©mont (1846â1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859â1947) (Hadda 2019, 17 f.).
- â Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernĂŒchtert (Sebbag 2004, 21 f.; JimĂ©nez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch bestĂ€ndig von diesen BemĂŒhungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der BeschĂ€ftigung mit TrĂ€umen ziehen wollten. WĂ€hrend Freud in GesprĂ€chen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der âunlogischâ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration fĂŒr ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des kĂŒnstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschrĂ€nkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und ĂŒberheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).
- â WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds ĂŒber das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42â44).
- â Bei der Frottage wird zunĂ€chst ein Papier ĂŒber einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit ĂŒber die FlĂ€che zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl kĂŒnstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum fĂŒr Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99â101).
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: Rhein, Jacqueline: "Manifeste du surrĂ©alisme". In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Manifeste_du_surr%C3%A9alisme,_1924_(Andr%C3%A9_Breton). |