"Manifeste du surréalisme" (André Breton): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen
 
(36 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
−
[IN BEARBEITUNG]
+
Das 1924 erschienene erste ''Manifeste du surrĂ©alisme'' des französischen Dichters und Schriftstellers AndrĂ© Breton (1896–1966) zĂ€hlt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ästhetik dar.
−
Das 1924 erschienene, erste ''Manifeste du surrĂ©alisme'' (MS) des französischen Dichters und Schriftstellers AndrĂ© Breton (1896–1966) zĂ€hlt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen wesentlichen Kernpunkt fĂŒr die surrealistische Ästhetik dar.
 
  
 
==Zum Autor==
 
==Zum Autor==
−
In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren z.T. untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame AktivitĂ€ten (z.B. Traumsitzungen) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Regulationen in Form von Ausschlussverfahren, Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f.; 68–70; 220–230).  
+
In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame AktivitĂ€ten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Maßregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68–70, 220–230).  
  
−
Ausgehend vom MS finden sich im Gesamtwerk Bretons einige weitere Schriften, wie ''Nadja'' (1928), ''Les Vases communicants'' (1932) oder ''L’ Amour fou'' (1937), bei denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Anhand seiner Aussagen zu Kunst und Ästhetik treten sowohl sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken als auch deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur hervor (Goumegou 2007, 315–333).
+
Ausgehend vom ''Manifeste du surrĂ©alisme'' finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie ''Nadja'' (1928), ''Les vases communicants'' (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder ''L’amour fou'' (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ästhetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315–333).
  
−
==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surréalisme==
+
==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten ''Manifeste du surréalisme''==
−
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde, und vermittelte u.a. ihre kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/FĂ€hnders 1995/2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurĂŒck (ebd., 328). Einerseits schließt das erste MS partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs surrĂ©alisme) und steht andererseits durch die Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
+
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/FĂ€hnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurĂŒck (ebd., 328). Einerseits schließt das erste ''Manifeste du surrĂ©alisme'' partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surrĂ©alisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
  
−
Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''Ă©criture automatique''<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, -zeichen und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die KĂŒnstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert (in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de LautrĂ©mont (1846–1870) von 1869; in der Psychotherapie durch Pierre Janet (1859–1947) ab 1889), (Hadda 2019, 17 f.; FN1). </ref> (Schneede 2006, 19; 23–27; 42–44). Obwohl sich 1924 schon Bildende KĂŒnstler, wie Max Ernst (1891–1976), im Personenkreis um Breton versammelten und bereits surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/FĂ€hnders 1995/2005, 327). GeprĂ€gt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nĂ€mlich die Surrealisten das BĂŒrgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung fĂŒr das Geschehene (Schneede 2006, 19). Bretons zweites Manifest erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergĂ€nzt und erneut aufgelegt (Breton 2008, 61–65; Breton 1993, 45–49). Der Lexikon-Artikel behandelt jedoch ausschließlich sein erstes Werk.
+
Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''Ă©criture automatique'' (Schneede 2006, 19, 23–27, 42–44).<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die KĂŒnstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de LautrĂ©mont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859–1947) (Hadda 2019, 17 f.).</ref> Obwohl sich 1924 schon bildende KĂŒnstler wie Max Ernst (1891–1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/FĂ€hnders 2005, 327). GeprĂ€gt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nĂ€mlich die Surrealisten das BĂŒrgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung fĂŒr das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergĂ€nzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).  
  
−
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt jedoch zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche EinschĂŒbe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachtrĂ€gliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die zudem nicht immer im ursprĂŒnglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche RĂŒckbezĂŒge hergestellt werden (BĂŒrger, 1994, 63; Breton 2008; Breton 1993). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen AusfĂŒhrungen auch auf Collagen von Pablo Picasso und Georges Braque und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht ĂŒber, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (Breton 2008, 53–56; Breton 1993, 38–40). An dieser Stelle werden durch die geschilderte Technik ebenso die Wechselwirkungen zwischen Bildender Kunst und Literatur deutlich, die fĂŒr die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
+
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche EinschĂŒbe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachtrĂ€gliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprĂŒnglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche RĂŒckbezĂŒge hergestellt werden (BĂŒrger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen AusfĂŒhrungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht ĂŒber, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die fĂŒr die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
  
 
==Imagination und Freiheit==
 
==Imagination und Freiheit==
−
Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und werden den Begriffen Logik, Vernunft und RealitĂ€t gegenĂŒbergestellt (Goumegou 2007, 267). Die FĂ€higkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukĂŒnftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (Breton 2008, 14–16; Breton 1993, 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:
+
Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und RealitĂ€t gegenĂŒbergestellt (Goumegou 2007, 267). Die FĂ€higkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukĂŒnftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14–16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">Sous la bleuĂątre lumiĂšre hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs Ă©tages dressaient vers le ciel uniformĂ©ment gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. OĂč commence-t-elle Ă  devenir mauvaise et oĂč s’arrĂȘte la sĂ©curitĂ© de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilitĂ© d’errer n’est-elle pas plutĂŽt la contingence du bien (Breton 2008, 15)?
+
: <span style="color: #7b879e;">OĂč commence-t-elle [l'imagination] Ă  devenir mauvaise et oĂč s’arrĂȘte la sĂ©curitĂ© de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilitĂ© d’errer n’est-elle pas plutĂŽt la contingence du bien? (MS 15).
  
−
: <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlĂ€ssig? Ist fĂŒr den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die ZufĂ€lligkeit, richtig zu denken (Breton 1993, 12)?</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie [die Imagination] Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlĂ€ssig? Ist fĂŒr den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die ZufĂ€lligkeit, richtig zu denken? (MSd 12).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Er leitet nachfolgend zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen ĂŒber und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet Breton, dass Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fĂŒrchten (Breton 2008, 15 f.; Breton 1993, 12).
+
Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen ĂŒber und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fĂŒrchten (MS 15 f.; MSd 12).
−
Des Weiteren fordert er dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr fĂŒr eigene Assoziationen lĂ€sst. (Breton 2008, 16–19; Breton 1993, 13–15). In seinen weiteren AusfĂŒhrungen begrĂŒndet Breton seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusĂ€tzlich beitrĂ€gt:  
+
 
 +
Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr fĂŒr eigene Assoziationen lĂ€sst (MS 16–19; MSd 13–15). In seinen weiteren AusfĂŒhrungen begrĂŒndet er seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusĂ€tzlich beitrĂ€gt:  
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">[L’expĂ©rience] tourne dans une cage d’oĂč il est de plus en difficile de la faire sortir [
], et elle est gardĂ©e par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prĂ©texte de progrĂšs, on est parvenu Ă  bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer Ă  tort ou Ă  raison de superstition, de chimĂšre; Ă  proscrire tout mode de recherche de la vĂ©ritĂ© qui n’est pas conforme Ă  l’usage (Breton 2008, 20).
+
: <span style="color: #7b879e;">[L’expĂ©rience] tourne dans une cage d’oĂč il est de plus en difficile de la faire sortir [
], et elle est gardĂ©e par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prĂ©texte de progrĂšs, on est parvenu Ă  bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer Ă  tort ou Ă  raison de superstition, de chimĂšre; Ă  proscrire tout mode de recherche de la vĂ©ritĂ© qui n’est pas conforme Ă  l’usage (MS 20).
  
−
: <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem KÀfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen [
], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebrÀuchlichen entspricht (Breton 1993, 15).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem KÀfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen [
], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebrÀuchlichen entspricht (MSd 15).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimĂšre“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim fruchtbaren literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezĂŒglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (Breton 2008, 24–28; Breton 1993, 18–21).
+
Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimĂšre“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezĂŒglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (MS 24–28; MSd 18–21).
  
 
==Traum und RealitÀt==
 
==Traum und RealitÀt==
−
Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert, durch den Eingriff des GedĂ€chtnisses erfolgen jedoch derartige VerĂ€nderungen, dass sich scheinbar mehrere TrĂ€ume abspielen. Was innerhalb des Traumes als RealitĂ€t eingestuft wird, hĂ€ngt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der TrĂ€umenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des RealitĂ€tsempfindens ohnehin kurzweilig. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollstĂ€ndig aufgelöst werden können. Er wĂŒnscht sich gar u.a. schlafende Philosophen, damit die Logik imstande ist, zurĂŒckzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen WeitererzĂ€hlung von Traum zu Traum aus noch, dass reale Erlebnisse in diesen weitergefĂŒhrt werden (Breton 2008, 21 f.; Breton 1993, 16–18). In diesen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die fĂŒr die Surrealisten Ă€sthetisch von Interesse war. Danach Ă€ußert er nĂ€mlich seine Gedanken zur Funktion des Traumes:
+
Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert; durch den Eingriff des GedĂ€chtnisses erfolgen jedoch VerĂ€nderungen, so dass sich scheinbar mehrere TrĂ€ume abspielen. Was innerhalb des Traumes als RealitĂ€t eingestuft wird, hĂ€ngt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der TrĂ€umenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des RealitĂ€tsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollstĂ€ndig aufgelöst werden können. Er wĂŒnscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wĂ€re zurĂŒckzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen WeitererzĂ€hlung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergefĂŒhrt werden (MS 21 f.; MSd 16–18). In solchen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die fĂŒr die Surrealisten Ă€sthetisch von Interesse war. Danach Ă€ußert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">[
] pourqoui n’accorderais-je pas au rĂȘve ce que je refuse parfois Ă  la rĂ©alitĂ©, soit cette valeur de certitude en elle-mĂȘme, qui, dans son temps, n’est point exposĂ©e Ă  mon dĂ©saveu? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rĂȘve plus que je n’attends d’un degrĂ© de conscience chaque jour plus Ă©levĂ©? Le rĂȘve ne peut-il ĂȘtre appliquĂ©, lui aussi, Ă  la rĂ©solution des questions fondamentales de la vie (Breton 2008, 22)?
+
: <span style="color: #7b879e;">pourqoui n’accorderais-je pas au rĂȘve ce que je refuse parfois Ă  la rĂ©alitĂ©, soit cette valeur de certitude en elle-mĂȘme, qui, dans son temps, n’est point exposĂ©e Ă  mon dĂ©saveu ? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rĂȘve plus que je n’attends d’un degrĂ© de conscience chaque jour plus Ă©levĂ© ? Le rĂȘve ne peut-il ĂȘtre appliquĂ©, lui aussi, Ă  la rĂ©solution des questions fondamentales de la vie ? (MS 22).
  
−
: <span style="color: #7b879e;">[
] warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nĂ€mlich, der fĂŒr die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem tĂ€glich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen (Breton 1993, 17)?</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nĂ€mlich, der fĂŒr die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem tĂ€glich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? (MSd 17).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt er die VerlĂ€sslichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der TrĂ€umenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort, wĂ€hrend die gesellschaftlichen Moralvorstellungen erneut eingreifen (Breton 2008, 23 f.; Breton 1993, 16–18).
+
Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt Breton die VerlĂ€sslichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der TrĂ€umenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16–18). Breton versteht Traum und RealitĂ€t daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:
−
Breton versteht Traum und RealitÀt daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:
 
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">Je crois Ă  la rĂ©solution future de ces deux Ă©tats, en apparence si contradictoires, que sont le rĂȘve et la rĂ©alitĂ©, en une sorte de rĂ©alitĂ© absolue, de surrĂ©alitĂ©, si l’on peut ainsi dire. C’est Ă  sa conquĂȘte que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (Breton 2008, 24).
+
: <span style="color: #7b879e;">Je crois Ă  la rĂ©solution future de ces deux Ă©tats, en apparence si contradictoires, que sont le rĂȘve et la rĂ©alitĂ©, en une sorte de rĂ©alitĂ© absolue, de surrĂ©alitĂ©, si l’on peut ainsi dire. C’est Ă  sa conquĂȘte que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (MS 24).
  
−
: <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die kĂŒnftige Auflösung dieser scheinbar so gegensĂ€tzlichen ZustĂ€nde von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten RealitĂ€t, wenn man so sagen kann: SurrealitĂ€t. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekĂŒmmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwĂ€gen (Breton 1993, 18).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die kĂŒnftige Auflösung dieser scheinbar so gegensĂ€tzlichen ZustĂ€nde von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten RealitĂ€t, wenn man so sagen kann: SurrealitĂ€t. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekĂŒmmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwĂ€gen (MSd 18).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rĂȘve“ und „rĂ©alitĂ©â€œ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes kĂŒnstlerisches Schaffen ausrichtet.
+
Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rĂȘve“ und „rĂ©alitĂ©â€œ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes kĂŒnstlerisches Schaffen ausrichtet.
  
 
==Traumtheoretische BezĂŒge==
 
==Traumtheoretische BezĂŒge==
−
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' von Sigmund Freud (1856–1939)<ref> Breton traf bereits 1921 auf Freud, doch dieses Treffen hat ihn ernĂŒchtert (JimĂ©nez 2013, 27). Er kontaktierte dennoch bis 1938 immer wieder den Psychoanalytiker in der Absicht, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit zu Stande kommt. Freud distanzierte sich jedoch bestĂ€ndig von diesen BemĂŒhungen. Eine Ursache mag an den unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der BeschĂ€ftigung mit TrĂ€umen ziehen wollten. WĂ€hrend Freud den latenten Traumgedanken in GesprĂ€chen bei seinen Patient*innen suchte, deutete und zu Behandlungszwecken nutzte, diente hauptsĂ€chlich der „unlogisch“ wirkende und erinnerte Traum den Surrealisten als Inspiration fĂŒr ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.).
+
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' (1899) von Sigmund Freud (1856–1939),<ref>Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernĂŒchtert (Sebbag 2004, 21 f.; JimĂ©nez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch bestĂ€ndig von diesen BemĂŒhungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der BeschĂ€ftigung mit TrĂ€umen ziehen wollten. WĂ€hrend Freud in GesprĂ€chen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der „unlogisch“ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration fĂŒr ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des kĂŒnstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschrĂ€nkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und ĂŒberheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).</ref> ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu Ă€ußern und auf dessen Fachbegriffe zurĂŒckzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger Anstoß fĂŒr die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:
−
In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, wie durch die Nutzung des kĂŒnstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die Kunst beschrĂ€nkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede, S. 142 f.). Kamen sie deshalb schon nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud vermutlich Breton aufgrund dessen persönlichen und ĂŒberheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien nicht sonderlich zugetan. Zudem haben Freuds verhaltenen Reaktionen auf die BemĂŒhungen Bretons weitere Gegenaktionen ausgelöst, die sich zwischen Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik als auch Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegen (Gamwell 2000, 38 f.).</ref>, ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu Ă€ußern und auf dessen Fachbegriffe zurĂŒckzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton vielmehr vage angedeutet und als wichtiger Anstoß fĂŒr die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:
 
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de [
] dĂ©couvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, Ă  la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisĂ© qu’il sera Ă  ne plus seulement tenir compte des rĂ©alitĂ©s sommaires. L’imagination est peut-ĂȘtre sur le point de reprendre ses droits (Breton 2008, 20).
+
: <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de [
] dĂ©couvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, Ă  la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisĂ© qu’il sera Ă  ne plus seulement tenir compte des rĂ©alitĂ©s sommaires. L’imagination est peut-ĂȘtre sur le point de reprendre ses droits (MS 20).
−
: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (Breton 1993, 15).</span>
+
 
 +
: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (MSd 15).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die „surface“ treten. Mit abermaligem Verweis auf Freuds Kritik bemĂ€ngelt anschließend Breton eine ungenĂŒgende Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, fĂŒhrt Breton seinen eigenen Gedankengang ĂŒber Traum und RealitĂ€t nachfolgend weiter aus (Breton 2008, 20–23; Breton 1993, 15 f.). An dieser Stelle tritt deutlich hervor, wie Freuds Traumtheorie vielmehr zur Untermauerung eigener Argumentationen Bretons genutzt wird (Goumegou 2007, 269; 279).
+
Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die OberflĂ€che treten. Mit Zuspruch gegenĂŒber Freuds Kritik bemĂ€ngelt anschließend Breton die ungenĂŒgende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, fĂŒhrt Breton seinen eigenen Gedankengang ĂŒber Traum und RealitĂ€t weiter aus (MS 20–23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primĂ€r zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279).
−
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf die Psychoanalyse nach Freud, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß fĂŒr die Entwicklung der ''Ă©criture automatique'' einleitet (Goumegou 2007, 267 f.):
+
 
 +
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß fĂŒr die Entwicklung der ''Ă©criture automatique'' charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.):
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
−
: <span style="color: #7b879e;">Tout occupĂ© que j’étais encore de Freud Ă  cette Ă©poque et familiarisĂ© avec ses mĂ©thodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je rĂ©solus d’obtenir de moi ce qu’on cherche Ă  obtenir dÂŽeux, soit un monologue de dĂ©bit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune rĂ©ticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensĂ©e parlĂ©e. Il m’avait paru, et il ma paraĂźt encore [
] que la vitesse de la pensĂ©e nÂŽest pas supĂ©rieur Ă  celle de la parole, et quÂŽelle ne dĂ©fie pas forcĂ©ment la langue, ni mĂȘme la plume qui court (Breton 2008, 33).
+
: <span style="color: #7b879e;">Tout occupĂ© que j’étais encore de Freud Ă  cette Ă©poque et familiarisĂ© avec ses mĂ©thodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je rĂ©solus d’obtenir de moi ce qu’on cherche Ă  obtenir dÂŽeux, soit un monologue de dĂ©bit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune rĂ©ticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensĂ©e parlĂ©e. Il m’avait paru, et il ma paraĂźt encore [
] que la vitesse de la pensĂ©e nÂŽest pas supĂ©rieur Ă  celle de la parole, et quÂŽelle ne dĂ©fie pas forcĂ©ment la langue, ni mĂȘme la plume qui court (MS 33).
  
−
: <span style="color: #7b879e;">Ich beschĂ€ftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets sowie Sigmund Freuds ĂŒber das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nĂ€mlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei ZurĂŒckhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wĂ€re. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch [
], daß das Tempo des Denkstroms nicht grĂ¶ĂŸer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (Breton 1993, 24 f.).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Ich beschĂ€ftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref>WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds ĂŒber das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nĂ€mlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei ZurĂŒckhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wĂ€re. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch [
], daß das Tempo des Denkstroms nicht grĂ¶ĂŸer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (MSd 24 f.).</span>
 
|}
 
|}
  
−
Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der zugleich mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und der ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollstĂ€ndig erinnern, ihn beschĂ€ftigte aber zugleich die Satzstruktur von „[i]l y a un homme coupĂ© en deux par la fenĂȘtre“/„[d]a ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ (Breton 2008, 31; Breton 1993, 23).
+
Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollstĂ€ndig erinnern, ihn beschĂ€ftigte aber zugleich die Satzstruktur von „Il y a un homme coupĂ© en deux par la fenĂȘtre“ (MS 31; „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, MSd 23).
−
Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum Traumdiskurs in Frankreich des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von TrĂ€umen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (JimĂ©nez 2013, 24–29.). Diese Auffassung Bretons streift also bisweilen flĂŒchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse mit denen er ĂŒberwiegend seine Ansicht zum VerhĂ€ltnis zwischen Traum und RealitĂ€t zu bekrĂ€ftigen sucht, weshalb in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft werden (Goumegou 2007, 279).
+
 
 +
Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von TrĂ€umen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (JimĂ©nez 2013, 24–29). Diese streift also bisweilen flĂŒchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton ĂŒberwiegend seine Ansicht zum VerhĂ€ltnis zwischen Traum und RealitĂ€t zu bekrĂ€ftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279).
  
 
==Rezeption und Bedeutung des Werks==
 
==Rezeption und Bedeutung des Werks==
−
Das MS von 1924 lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darĂŒber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergĂ€nzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewĂ€hlten Ă€sthetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunĂ€chst ein Papier ĂŒber einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit ĂŒber die FlĂ€che zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl kĂŒnstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum fĂŒr Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''Ă©criture automatique'' setze. Dennoch muss ebenso die ''Frottage'' in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des KĂŒnstlers gesehen werden (Hadda 2019, 110–127).
+
Das ''Manifeste du surrĂ©alisme'' von 1924 lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darĂŒber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergĂ€nzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewĂ€hlten Ă€sthetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunĂ€chst ein Papier ĂŒber einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit ĂŒber die FlĂ€che zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl kĂŒnstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum fĂŒr Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''Ă©criture automatique'' setzte. Daneben muss die ''Frottage'' natĂŒrlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des KĂŒnstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110–127).
 +
 
 +
 
 +
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jacqueline Rhein]]</div>
  
 
==Literatur==
 
==Literatur==
 
===Ausgaben===
 
===Ausgaben===
−
* Breton, André: MS, Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5).
+
* Breton, AndrĂ©: Manifeste du surrĂ©alisme. Paris: Éd. du Sagittaire 1924.
 +
* Ders.: Manifeste du surrĂ©alisme; Poisson soluble. Paris: Éd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929.
 +
* Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS.
 +
* Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Übers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts EnzyklopĂ€die 434); zitiert als MSd.
  
−
* Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, dt. Übersetzung von Ruth Henry, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts EnzyklopĂ€die 434).
+
===Kontexte===
 +
*Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & RĂȘves surrĂ©alistes. Paris: Jean-Michel Place 2004.
  
 
===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
−
* Asholt, Wolfgang/FĂ€hnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europĂ€ischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart: Metzler 2005.
+
* Alexandrian, Sarane: Le SurrĂ©alisme et le rĂȘve. Paris: Gallimard 1974.
−
* BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus, Studien zur avantgardistischen Literatur, um neue Studien erw. Ausgabe, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
+
* Asholt, Wolfgang/Walter FĂ€hnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europĂ€ischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart: Metzler 2005.
−
* Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Gamwell, Lynn (Hg.): TrĂ€ume 1900–2000, Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte, MĂŒnchen u.a: Prestel 2000, S. 13–60.
+
* BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
 +
* Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): TrĂ€ume 1900–2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte. MĂŒnchen u.a: Prestel 2000, 13–60.
 
* Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007.
 
* Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007.
−
* Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus, Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí, Bielefeld: transcript 2019 (= Image, Bd. 149).
+
* Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
−
* JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: JosĂ© JimĂ©nez (Hg.), Surrealism and the Dream [exhib. cat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
+
* JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
−
* Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus, MĂŒnchen: Beck 2006.
+
* Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: AndrĂ© Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frĂŒhen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90.
 +
* Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111.
 +
* Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. MĂŒnchen: Beck 2006.
  
 
==Anmerkungen==
 
==Anmerkungen==
Zeile 125: Zeile 136:
 
[[Kategorie:Surrealismus]]
 
[[Kategorie:Surrealismus]]
  
−
[[Kategorie:Literatur]]
+
[[Kategorie:Moderne]]
 +
 
 +
[[Kategorie:Traumtheorie]]
  
 
[[Kategorie:Frankreich]]
 
[[Kategorie:Frankreich]]

Aktuelle Version vom 29. August 2022, 22:19 Uhr

Das 1924 erschienene erste Manifeste du surrĂ©alisme des französischen Dichters und Schriftstellers AndrĂ© Breton (1896–1966) zĂ€hlt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ästhetik dar.

Zum Autor

In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame AktivitĂ€ten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Maßregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68–70, 220–230).

Ausgehend vom Manifeste du surrĂ©alisme finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie Nadja (1928), Les vases communicants (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder L’amour fou (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ästhetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315–333).

Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surréalisme

Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/FĂ€hnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurĂŒck (ebd., 328). Einerseits schließt das erste Manifeste du surrĂ©alisme partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surrĂ©alisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).

Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen AndrĂ© Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich spĂ€ter einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der Ă©criture automatique (Schneede 2006, 19, 23–27, 42–44).[1] Obwohl sich 1924 schon bildende KĂŒnstler wie Max Ernst (1891–1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/FĂ€hnders 2005, 327). GeprĂ€gt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nĂ€mlich die Surrealisten das BĂŒrgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung fĂŒr das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergĂ€nzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).

In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, RealitĂ€t und traumtheoretische BezĂŒge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese VerknĂŒpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche EinschĂŒbe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachtrĂ€gliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprĂŒnglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche RĂŒckbezĂŒge hergestellt werden (BĂŒrger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen AusfĂŒhrungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht ĂŒber, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die fĂŒr die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.

Imagination und Freiheit

Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und RealitĂ€t gegenĂŒbergestellt (Goumegou 2007, 267). Die FĂ€higkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukĂŒnftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14–16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:

OĂč commence-t-elle [l'imagination] Ă  devenir mauvaise et oĂč s’arrĂȘte la sĂ©curitĂ© de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilitĂ© d’errer n’est-elle pas plutĂŽt la contingence du bien? (MS 15).
Wo beginnt sie [die Imagination] Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlĂ€ssig? Ist fĂŒr den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die ZufĂ€lligkeit, richtig zu denken? (MSd 12).

Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen ĂŒber und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fĂŒrchten (MS 15 f.; MSd 12).

Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr fĂŒr eigene Assoziationen lĂ€sst (MS 16–19; MSd 13–15). In seinen weiteren AusfĂŒhrungen begrĂŒndet er seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusĂ€tzlich beitrĂ€gt:

[L’expĂ©rience] tourne dans une cage d’oĂč il est de plus en difficile de la faire sortir [
], et elle est gardĂ©e par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prĂ©texte de progrĂšs, on est parvenu Ă  bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer Ă  tort ou Ă  raison de superstition, de chimĂšre; Ă  proscrire tout mode de recherche de la vĂ©ritĂ© qui n’est pas conforme Ă  l’usage (MS 20).
[Die logische Erfahrung] windet sich in einem KÀfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen [
], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebrÀuchlichen entspricht (MSd 15).

Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimĂšre“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. FĂŒr ihn sind nĂ€mlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschĂ€tzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezĂŒglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (MS 24–28; MSd 18–21).

Traum und RealitÀt

Nach Breton ist das Traumerleben ursprĂŒnglich strukturiert; durch den Eingriff des GedĂ€chtnisses erfolgen jedoch VerĂ€nderungen, so dass sich scheinbar mehrere TrĂ€ume abspielen. Was innerhalb des Traumes als RealitĂ€t eingestuft wird, hĂ€ngt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der TrĂ€umenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des RealitĂ€tsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollstĂ€ndig aufgelöst werden können. Er wĂŒnscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wĂ€re zurĂŒckzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen WeitererzĂ€hlung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergefĂŒhrt werden (MS 21 f.; MSd 16–18). In solchen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die fĂŒr die Surrealisten Ă€sthetisch von Interesse war. Danach Ă€ußert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes:

pourqoui n’accorderais-je pas au rĂȘve ce que je refuse parfois Ă  la rĂ©alitĂ©, soit cette valeur de certitude en elle-mĂȘme, qui, dans son temps, n’est point exposĂ©e Ă  mon dĂ©saveu ? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rĂȘve plus que je n’attends d’un degrĂ© de conscience chaque jour plus Ă©levĂ© ? Le rĂȘve ne peut-il ĂȘtre appliquĂ©, lui aussi, Ă  la rĂ©solution des questions fondamentales de la vie ? (MS 22).
warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nĂ€mlich, der fĂŒr die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem tĂ€glich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? (MSd 17).

Im nĂ€chsten Abschnitt hinterfragt Breton die VerlĂ€sslichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der TrĂ€umenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16–18). Breton versteht Traum und RealitĂ€t daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:

Je crois Ă  la rĂ©solution future de ces deux Ă©tats, en apparence si contradictoires, que sont le rĂȘve et la rĂ©alitĂ©, en une sorte de rĂ©alitĂ© absolue, de surrĂ©alitĂ©, si l’on peut ainsi dire. C’est Ă  sa conquĂȘte que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (MS 24).
Ich glaube an die kĂŒnftige Auflösung dieser scheinbar so gegensĂ€tzlichen ZustĂ€nde von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten RealitĂ€t, wenn man so sagen kann: SurrealitĂ€t. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekĂŒmmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwĂ€gen (MSd 18).

Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rĂȘve“ und „rĂ©alitĂ©â€œ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes kĂŒnstlerisches Schaffen ausrichtet.

Traumtheoretische BezĂŒge

An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf Die Traumdeutung (1899) von Sigmund Freud (1856–1939),[2] ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu Ă€ußern und auf dessen Fachbegriffe zurĂŒckzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger Anstoß fĂŒr die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:

Sur la foi de [
] dĂ©couvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, Ă  la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisĂ© qu’il sera Ă  ne plus seulement tenir compte des rĂ©alitĂ©s sommaires. L’imagination est peut-ĂȘtre sur le point de reprendre ses droits (MS 20).
Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (MSd 15).

Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die OberflĂ€che treten. Mit Zuspruch gegenĂŒber Freuds Kritik bemĂ€ngelt anschließend Breton die ungenĂŒgende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, fĂŒhrt Breton seinen eigenen Gedankengang ĂŒber Traum und RealitĂ€t weiter aus (MS 20–23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primĂ€r zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279).

Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß fĂŒr die Entwicklung der Ă©criture automatique charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.):

Tout occupĂ© que j’étais encore de Freud Ă  cette Ă©poque et familiarisĂ© avec ses mĂ©thodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je rĂ©solus d’obtenir de moi ce qu’on cherche Ă  obtenir dÂŽeux, soit un monologue de dĂ©bit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune rĂ©ticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensĂ©e parlĂ©e. Il m’avait paru, et il ma paraĂźt encore [
] que la vitesse de la pensĂ©e nÂŽest pas supĂ©rieur Ă  celle de la parole, et quÂŽelle ne dĂ©fie pas forcĂ©ment la langue, ni mĂȘme la plume qui court (MS 33).
Ich beschĂ€ftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,[3] und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nĂ€mlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei ZurĂŒckhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wĂ€re. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch [
], daß das Tempo des Denkstroms nicht grĂ¶ĂŸer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (MSd 24 f.).

Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollstĂ€ndig erinnern, ihn beschĂ€ftigte aber zugleich die Satzstruktur von „Il y a un homme coupĂ© en deux par la fenĂȘtre“ (MS 31; „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, MSd 23).

Im Manifest tauchen zudem BezĂŒge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von TrĂ€umen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (JimĂ©nez 2013, 24–29). Diese streift also bisweilen flĂŒchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton ĂŒberwiegend seine Ansicht zum VerhĂ€ltnis zwischen Traum und RealitĂ€t zu bekrĂ€ftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279).

Rezeption und Bedeutung des Werks

Das Manifeste du surrĂ©alisme von 1924 lĂ€sst RĂŒckschlĂŒsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darĂŒber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergĂ€nzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewĂ€hlten Ă€sthetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der Frottage[4] verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur Ă©criture automatique setzte. Daneben muss die Frottage natĂŒrlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des KĂŒnstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110–127).


Jacqueline Rhein

Literatur

Ausgaben

  • Breton, AndrĂ©: Manifeste du surrĂ©alisme. Paris: Éd. du Sagittaire 1924.
  • Ders.: Manifeste du surrĂ©alisme; Poisson soluble. Paris: Éd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929.
  • Ders.: Manifestes du surrĂ©alisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS.
  • Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Übers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts EnzyklopĂ€die 434); zitiert als MSd.

Kontexte

  • Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & RĂȘves surrĂ©alistes. Paris: Jean-Michel Place 2004.

Forschungsliteratur

  • Alexandrian, Sarane: Le SurrĂ©alisme et le rĂȘve. Paris: Gallimard 1974.
  • Asholt, Wolfgang/Walter FĂ€hnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europĂ€ischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart: Metzler 2005.
  • BĂŒrger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
  • Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): TrĂ€ume 1900–2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte. MĂŒnchen u.a: Prestel 2000, 13–60.
  • Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. MĂŒnchen: Fink 2007.
  • Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador DalĂ­, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
  • JimĂ©nez, JosĂ©: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
  • Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: AndrĂ© Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frĂŒhen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90.
  • Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111.
  • Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. MĂŒnchen: Beck 2006.

Anmerkungen

  1. ↑ Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten psychischen Automatismus. Die KĂŒnstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in Les Chants de Maldoror des Comte de LautrĂ©mont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859–1947) (Hadda 2019, 17 f.).
  2. ↑ Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernĂŒchtert (Sebbag 2004, 21 f.; JimĂ©nez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch bestĂ€ndig von diesen BemĂŒhungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der BeschĂ€ftigung mit TrĂ€umen ziehen wollten. WĂ€hrend Freud in GesprĂ€chen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der „unlogisch“ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration fĂŒr ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des kĂŒnstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschrĂ€nkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und ĂŒberheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).
  3. ↑ WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die EindrĂŒcke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds ĂŒber das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44).
  4. ↑ Bei der Frottage wird zunĂ€chst ein Papier ĂŒber einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit ĂŒber die FlĂ€che zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl kĂŒnstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum fĂŒr Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101).


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Rhein, Jacqueline: "Manifeste du surréalisme". In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Manifeste_du_surr%C3%A9alisme,_1924_(Andr%C3%A9_Breton).