"Manifeste du surréalisme" (André Breton): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen
 
(35 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
[IN BEARBEITUNG]
+
Das 1924 erschienene erste ''Manifeste du surréalisme'' des französischen Dichters und Schriftstellers André Breton (1896–1966) zählt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ästhetik dar.
Das 1924 erschienene, erste ''Manifeste du surréalisme'' (MS) des französischen Dichters und Schriftstellers André Breton (1896–1966) zählt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen wesentlichen Kernpunkt für die surrealistische Ästhetik dar.
 
  
 
==Zum Autor==
 
==Zum Autor==
In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren z.T. untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame Aktivitäten (z.B. Traumsitzungen) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Regulationen in Form von Ausschlussverfahren, Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f.; 68–70; 220–230).  
+
In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame Aktivitäten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Maßregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68–70, 220–230).  
  
Ausgehend vom MS finden sich im Gesamtwerk Bretons einige weitere Schriften, wie ''Nadja'' (1928), ''Les Vases communicants'' (1932) oder ''L’ Amour fou'' (1937), bei denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Anhand seiner Aussagen zu Kunst und Ästhetik treten sowohl sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken als auch deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur hervor (Goumegou 2007, 315–333).
+
Ausgehend vom ''Manifeste du surréalisme'' finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie ''Nadja'' (1928), ''Les vases communicants'' (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder ''L’amour fou'' (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ästhetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315–333).
  
==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surréalisme==
+
==Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten ''Manifeste du surréalisme''==
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde, und vermittelte u.a. ihre kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/Fähnders 1995/2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurück (ebd., 328). Einerseits schließt das erste MS partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs surréalisme) und steht andererseits durch die Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
+
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/Fähnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurück (ebd., 328). Einerseits schließt das erste ''Manifeste du surréalisme'' partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surréalisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
  
Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen André Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich später einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''écriture automatique''<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, -zeichen und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die Künstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert (in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de Lautrémont (1846–1870) von 1869; in der Psychotherapie durch Pierre Janet (1859–1947) ab 1889), (Hadda 2019, 17 f.; FN1). </ref> (Schneede 2006, 19; 23–27; 42–44). Obwohl sich 1924 schon Bildende Künstler, wie Max Ernst (1891–1976), im Personenkreis um Breton versammelten und bereits surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/Fähnders 1995/2005, 327). Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nämlich die Surrealisten das Bürgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung für das Geschehene (Schneede 2006, 19). Bretons zweites Manifest erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergänzt und erneut aufgelegt (Breton 2008, 61–65; Breton 1993, 45–49). Der Lexikon-Artikel behandelt jedoch ausschließlich sein erstes Werk.
+
Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen André Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich später einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''écriture automatique'' (Schneede 2006, 19, 23–27, 42–44).<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die Künstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de Lautrémont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859–1947) (Hadda 2019, 17 f.).</ref> Obwohl sich 1924 schon bildende Künstler wie Max Ernst (1891–1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/Fähnders 2005, 327). Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nämlich die Surrealisten das Bürgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung für das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergänzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).  
  
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, Realität und traumtheoretische Bezüge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese Verknüpfungen herzustellen, obliegt jedoch zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche Einschübe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachträgliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die zudem nicht immer im ursprünglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche Rückbezüge hergestellt werden (Bürger, 1994, 63; Breton 2008; Breton 1993). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen Ausführungen auch auf Collagen von Pablo Picasso und Georges Braque und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht über, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (Breton 2008, 53–56; Breton 1993, 38–40). An dieser Stelle werden durch die geschilderte Technik ebenso die Wechselwirkungen zwischen Bildender Kunst und Literatur deutlich, die für die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
+
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, Realität und traumtheoretische Bezüge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese Verknüpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche Einschübe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachträgliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprünglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche Rückbezüge hergestellt werden (Bürger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen Ausführungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht über, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die für die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
  
 
==Imagination und Freiheit==
 
==Imagination und Freiheit==
Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und werden den Begriffen Logik, Vernunft und Realität gegenübergestellt (Goumegou 2007, 267). Die Fähigkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukünftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (Breton 2008, 14–16; Breton 1993, 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:
+
Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und Realität gegenübergestellt (Goumegou 2007, 267). Die Fähigkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukünftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14–16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">Sous la bleuâtre lumière hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs étages dressaient vers le ciel uniformément gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. Où commence-t-elle à devenir mauvaise et où s’arrête la sécurité de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilité d’errer n’est-elle pas plutôt la contingence du bien (Breton 2008, 15)?
+
: <span style="color: #7b879e;">Où commence-t-elle [l'imagination] à devenir mauvaise et où s’arrête la sécurité de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilité d’errer n’est-elle pas plutôt la contingence du bien? (MS 15).
  
: <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken (Breton 1993, 12)?</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie [die Imagination] Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken? (MSd 12).</span>
 
|}
 
|}
  
Er leitet nachfolgend zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen über und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet Breton, dass Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fürchten (Breton 2008, 15 f.; Breton 1993, 12).
+
Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen über und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fürchten (MS 15 f.; MSd 12).
Des Weiteren fordert er dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr für eigene Assoziationen lässt. (Breton 2008, 16–19; Breton 1993, 13–15). In seinen weiteren Ausführungen begründet Breton seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusätzlich beiträgt:  
+
 
 +
Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr für eigene Assoziationen lässt (MS 16–19; MSd 13–15). In seinen weiteren Ausführungen begründet er seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusätzlich beiträgt:  
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">[L’expérience] tourne dans une cage d’où il est de plus en difficile de la faire sortir […], et elle est gardée par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prétexte de progrès, on est parvenu à bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer à tort ou à raison de superstition, de chimère; à proscrire tout mode de recherche de la vérité qui n’est pas conforme à l’usage (Breton 2008, 20).
+
: <span style="color: #7b879e;">[L’expérience] tourne dans une cage d’où il est de plus en difficile de la faire sortir […], et elle est gardée par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prétexte de progrès, on est parvenu à bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer à tort ou à raison de superstition, de chimère; à proscrire tout mode de recherche de la vérité qui n’est pas conforme à l’usage (MS 20).
  
: <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen […], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht (Breton 1993, 15).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen […], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht (MSd 15).</span>
 
|}
 
|}
  
Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimère“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. Für ihn sind nämlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschätzbarer Relevanz beim fruchtbaren literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezüglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (Breton 2008, 24–28; Breton 1993, 18–21).
+
Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimère“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. Für ihn sind nämlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschätzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezüglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (MS 24–28; MSd 18–21).
  
 
==Traum und Realität==
 
==Traum und Realität==
Nach Breton ist das Traumerleben ursprünglich strukturiert, durch den Eingriff des Gedächtnisses erfolgen jedoch derartige Veränderungen, dass sich scheinbar mehrere Träume abspielen. Was innerhalb des Traumes als Realität eingestuft wird, hängt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der Träumenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des Realitätsempfindens ohnehin kurzweilig. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollständig aufgelöst werden können. Er wünscht sich gar u.a. schlafende Philosophen, damit die Logik imstande ist, zurückzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen Weitererzählung von Traum zu Traum aus noch, dass reale Erlebnisse in diesen weitergeführt werden (Breton 2008, 21 f.; Breton 1993, 16–18). In diesen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die für die Surrealisten ästhetisch von Interesse war. Danach äußert er nämlich seine Gedanken zur Funktion des Traumes:
+
Nach Breton ist das Traumerleben ursprünglich strukturiert; durch den Eingriff des Gedächtnisses erfolgen jedoch Veränderungen, so dass sich scheinbar mehrere Träume abspielen. Was innerhalb des Traumes als Realität eingestuft wird, hängt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der Träumenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des Realitätsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollständig aufgelöst werden können. Er wünscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wäre zurückzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen Weitererzählung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergeführt werden (MS 21 f.; MSd 16–18). In solchen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die für die Surrealisten ästhetisch von Interesse war. Danach äußert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">[…] pourqoui n’accorderais-je pas au rêve ce que je refuse parfois à la réalité, soit cette valeur de certitude en elle-même, qui, dans son temps, n’est point exposée à mon désaveu? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rêve plus que je n’attends d’un degré de conscience chaque jour plus élevé? Le rêve ne peut-il être appliqué, lui aussi, à la résolution des questions fondamentales de la vie (Breton 2008, 22)?
+
: <span style="color: #7b879e;">pourqoui n’accorderais-je pas au rêve ce que je refuse parfois à la réalité, soit cette valeur de certitude en elle-même, qui, dans son temps, n’est point exposée à mon désaveu ? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rêve plus que je n’attends d’un degré de conscience chaque jour plus élevé ? Le rêve ne peut-il être appliqué, lui aussi, à la résolution des questions fondamentales de la vie ? (MS 22).
  
: <span style="color: #7b879e;">[…] warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen (Breton 1993, 17)?</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? (MSd 17).</span>
 
|}
 
|}
  
Im nächsten Abschnitt hinterfragt er die Verlässlichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der Träumenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort, während die gesellschaftlichen Moralvorstellungen erneut eingreifen (Breton 2008, 23 f.; Breton 1993, 16–18).
+
Im nächsten Abschnitt hinterfragt Breton die Verlässlichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der Träumenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16–18). Breton versteht Traum und Realität daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:
Breton versteht Traum und Realität daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:
 
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (Breton 2008, 24).
+
: <span style="color: #7b879e;">Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (MS 24).
  
: <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen (Breton 1993, 18).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen (MSd 18).</span>
 
|}
 
|}
  
Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet.
+
Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet.
  
 
==Traumtheoretische Bezüge==
 
==Traumtheoretische Bezüge==
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' von Sigmund Freud (1856–1939)<ref> Breton traf bereits 1921 auf Freud, doch dieses Treffen hat ihn ernüchtert (Jiménez 2013, 27). Er kontaktierte dennoch bis 1938 immer wieder den Psychoanalytiker in der Absicht, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit zu Stande kommt. Freud distanzierte sich jedoch beständig von diesen Bemühungen. Eine Ursache mag an den unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der Beschäftigung mit Träumen ziehen wollten. Während Freud den latenten Traumgedanken in Gesprächen bei seinen Patient*innen suchte, deutete und zu Behandlungszwecken nutzte, diente hauptsächlich der „unlogisch“ wirkende und erinnerte Traum den Surrealisten als Inspiration für ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.).
+
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf ''Die Traumdeutung'' (1899) von Sigmund Freud (1856–1939),<ref>Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernüchtert (Sebbag 2004, 21 f.; Jiménez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch beständig von diesen Bemühungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der Beschäftigung mit Träumen ziehen wollten. Während Freud in Gesprächen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der „unlogisch“ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration für ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des künstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschränkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und überheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).</ref> ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu äußern und auf dessen Fachbegriffe zurückzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger Anstoß für die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:
In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, wie durch die Nutzung des künstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die Kunst beschränkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede, S. 142 f.). Kamen sie deshalb schon nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud vermutlich Breton aufgrund dessen persönlichen und überheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien nicht sonderlich zugetan. Zudem haben Freuds verhaltenen Reaktionen auf die Bemühungen Bretons weitere Gegenaktionen ausgelöst, die sich zwischen Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik als auch Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegen (Gamwell 2000, 38 f.).</ref>, ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu äußern und auf dessen Fachbegriffe zurückzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton vielmehr vage angedeutet und als wichtiger Anstoß für die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:
 
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de […] découvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, à la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisé qu’il sera à ne plus seulement tenir compte des réalités sommaires. L’imagination est peut-être sur le point de reprendre ses droits (Breton 2008, 20).
+
: <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de […] découvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, à la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisé qu’il sera à ne plus seulement tenir compte des réalités sommaires. L’imagination est peut-être sur le point de reprendre ses droits (MS 20).
: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (Breton 1993, 15).</span>
+
 
 +
: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (MSd 15).</span>
 
|}
 
|}
  
Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die „surface“ treten. Mit abermaligem Verweis auf Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton eine ungenügende Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität nachfolgend weiter aus (Breton 2008, 20–23; Breton 1993, 15 f.). An dieser Stelle tritt deutlich hervor, wie Freuds Traumtheorie vielmehr zur Untermauerung eigener Argumentationen Bretons genutzt wird (Goumegou 2007, 269; 279).
+
Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die Oberfläche treten. Mit Zuspruch gegenüber Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton die ungenügende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität weiter aus (MS 20–23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primär zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279).
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf die Psychoanalyse nach Freud, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß für die Entwicklung der ''écriture automatique'' einleitet (Goumegou 2007, 267 f.):
+
 
 +
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß für die Entwicklung der ''écriture automatique'' charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.):
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;">Tout occupé que j’étais encore de Freud à cette époque et familiarisé avec ses méthodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je résolus d’obtenir de moi ce qu’on cherche à obtenir d´eux, soit un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avait paru, et il ma paraît encore […] que la vitesse de la pensée n´est pas supérieur à celle de la parole, et qu´elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui court (Breton 2008, 33).
+
: <span style="color: #7b879e;">Tout occupé que j’étais encore de Freud à cette époque et familiarisé avec ses méthodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je résolus d’obtenir de moi ce qu’on cherche à obtenir d´eux, soit un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avait paru, et il ma paraît encore […] que la vitesse de la pensée n´est pas supérieur à celle de la parole, et qu´elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui court (MS 33).
  
: <span style="color: #7b879e;">Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets sowie Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (Breton 1993, 24 f.).</span>
+
: <span style="color: #7b879e;">Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref>Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (MSd 24 f.).</span>
 
|}
 
|}
  
Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der zugleich mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und der ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „[i]l y a un homme coupé en deux par la fenêtre“/„[d]a ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ (Breton 2008, 31; Breton 1993, 23).
+
Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „Il y a un homme coupé en deux par la fenêtre“ (MS 31; „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, MSd 23).
Im Manifest tauchen zudem Bezüge zum Traumdiskurs in Frankreich des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von Träumen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (Jiménez 2013, 24–29.). Diese Auffassung Bretons streift also bisweilen flüchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse mit denen er überwiegend seine Ansicht zum Verhältnis zwischen Traum und Realität zu bekräftigen sucht, weshalb in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft werden (Goumegou 2007, 279).
+
 
 +
Im Manifest tauchen zudem Bezüge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von Träumen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (Jiménez 2013, 24–29). Diese streift also bisweilen flüchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton überwiegend seine Ansicht zum Verhältnis zwischen Traum und Realität zu bekräftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279).
  
 
==Rezeption und Bedeutung des Werks==
 
==Rezeption und Bedeutung des Werks==
Das MS von 1924 lässt Rückschlüsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darüber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergänzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewählten ästhetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunächst ein Papier über einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit über die Fläche zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl künstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum für Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''écriture automatique'' setze. Dennoch muss ebenso die ''Frottage'' in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des Künstlers gesehen werden (Hadda 2019, 110–127).
+
Das ''Manifeste du surréalisme'' von 1924 lässt Rückschlüsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darüber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergänzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewählten ästhetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunächst ein Papier über einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit über die Fläche zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl künstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum für Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''écriture automatique'' setzte. Daneben muss die ''Frottage'' natürlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des Künstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110–127).
 +
 
 +
 
 +
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jacqueline Rhein]]</div>
  
 
==Literatur==
 
==Literatur==
 
===Ausgaben===
 
===Ausgaben===
* Breton, André: MS, Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5).
+
* Breton, André: Manifeste du surréalisme. Paris: Éd. du Sagittaire 1924.
 +
* Ders.: Manifeste du surréalisme; Poisson soluble. Paris: Éd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929.
 +
* Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS.
 +
* Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Übers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts Enzyklopädie 434); zitiert als MSd.
  
* Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, dt. Übersetzung von Ruth Henry, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts Enzyklopädie 434).
+
===Kontexte===
 +
*Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & Rêves surréalistes. Paris: Jean-Michel Place 2004.
  
 
===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
* Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart: Metzler 2005.
+
* Alexandrian, Sarane: Le Surréalisme et le rêve. Paris: Gallimard 1974.
* Bürger, Peter: Der französische Surrealismus, Studien zur avantgardistischen Literatur, um neue Studien erw. Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
+
* Asholt, Wolfgang/Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart: Metzler 2005.
* Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Gamwell, Lynn (Hg.): Träume 1900–2000, Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte, München u.a: Prestel 2000, S. 13–60.
+
* Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
 +
* Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): Träume 1900–2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte. München u.a: Prestel 2000, 13–60.
 
* Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. München: Fink 2007.
 
* Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. München: Fink 2007.
* Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus, Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
+
* Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
* Jiménez, José: Surrealism and the Dream. In: José Jiménez (Hg.), Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
+
* Jiménez, José: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
* Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus, München: Beck 2006.
+
* Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: André Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90.
 +
* Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111.
 +
* Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. München: Beck 2006.
  
 
==Anmerkungen==
 
==Anmerkungen==
Zeile 125: Zeile 136:
 
[[Kategorie:Surrealismus]]
 
[[Kategorie:Surrealismus]]
  
[[Kategorie:Literatur]]
+
[[Kategorie:Moderne]]
 +
 
 +
[[Kategorie:Traumtheorie]]
  
 
[[Kategorie:Frankreich]]
 
[[Kategorie:Frankreich]]

Aktuelle Version vom 29. August 2022, 21:19 Uhr

Das 1924 erschienene erste Manifeste du surréalisme des französischen Dichters und Schriftstellers André Breton (1896–1966) zählt zu den zentralen theoretischen Schriften der surrealistischen Bewegung in Paris. Das Werk wurde 1929 mit einem Vorwort des Autors erneut publiziert. Die Traumaspekte innerhalb des Manifests stellen einen Kernpunkt der surrealistischen Ästhetik dar.

Zum Autor

In der Forschungsliteratur wird Breton oftmals als „Kopf“ der Gruppe der Surrealisten in Paris bezeichnet. Deren Mitglieder waren teilweise untereinander eng befreundet, wobei die innere Bindung der gesamten Gruppe mitunter durch gemeinsame Aktivitäten (z.B. Traumsitzungen; Sebbag 2004) sowie zentrale Treffpunkte weitestgehend aufrechterhalten wurde. Jedoch hatten Bretons Maßregelungen in Form von Ausschlussverfahren und Ächtungen der Ausgestoßenen sowie politische Meinungsverschiedenheiten auch immer wieder interne Konflikte ausgelöst (Schneede 2006, 14 f., 68–70, 220–230).

Ausgehend vom Manifeste du surréalisme finden sich im Gesamtwerk Bretons weitere Schriften - wie Nadja (1928), Les vases communicants (1932 - die wichtigste traumtheoretische Schrift des Autors) oder L’amour fou (1937) -, in denen diverse Aspekte des Traumes eine wichtige Position einnehmen. Seine Aussagen zu Kunst und Ästhetik belegen sein erweitertes Interesse an der Schaffung von traumhaften Werken und deren Wirkungsmechanismen in Kunst und Literatur (Goumegou 2007, 315–333).

Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhang des ersten Manifeste du surréalisme

Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/Fähnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurück (ebd., 328). Einerseits schließt das erste Manifeste du surréalisme partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surréalisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).

Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen André Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich später einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der écriture automatique (Schneede 2006, 19, 23–27, 42–44).[1] Obwohl sich 1924 schon bildende Künstler wie Max Ernst (1891–1976) im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/Fähnders 2005, 327). Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nämlich die Surrealisten das Bürgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung für das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergänzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).

In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, Realität und traumtheoretische Bezüge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese Verknüpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche Einschübe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachträgliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprünglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche Rückbezüge hergestellt werden (Bürger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen Ausführungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht über, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). Dies verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur, die für die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.

Imagination und Freiheit

Traum und Imagination sind im Manifest auf derselben argumentativen Ebene angesiedelt und den Begriffen Logik, Vernunft und Realität gegenübergestellt (Goumegou 2007, 267). Die Fähigkeit des Imaginierens ermöglicht aus der Sicht Bretons geistige Freiheit. Des Weiteren kann Imagination zukünftige Möglichkeiten aufzeigen, sich aber auch zu einem Trugbild wandeln (MS 14–16; MSd 12 f.). Allerdings hat Breton keine Angst vor letzterem und hinterfragt das Wertesystem richtiger und falscher Gedanken:

Où commence-t-elle [l'imagination] à devenir mauvaise et où s’arrête la sécurité de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilité d’errer n’est-elle pas plutôt la contingence du bien? (MS 15).
Wo beginnt sie [die Imagination] Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken? (MSd 12).

Breton leitet dann zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen über und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet er, dass die Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fürchten (MS 15 f.; MSd 12).

Des Weiteren fordert Breton dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr für eigene Assoziationen lässt (MS 16–19; MSd 13–15). In seinen weiteren Ausführungen begründet er seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusätzlich beiträgt:

[L’expérience] tourne dans une cage d’où il est de plus en difficile de la faire sortir […], et elle est gardée par le bon sens. Sous couleur de civilisation, sous prétexte de progrès, on est parvenu à bannir de l’esprit tout ce qui se peut taxer à tort ou à raison de superstition, de chimère; à proscrire tout mode de recherche de la vérité qui n’est pas conforme à l’usage (MS 20).
[Die logische Erfahrung] windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen […], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht (MSd 15).

Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimère“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. Für ihn sind nämlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschätzbarer Relevanz beim literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezüglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (MS 24–28; MSd 18–21).

Traum und Realität

Nach Breton ist das Traumerleben ursprünglich strukturiert; durch den Eingriff des Gedächtnisses erfolgen jedoch Veränderungen, so dass sich scheinbar mehrere Träume abspielen. Was innerhalb des Traumes als Realität eingestuft wird, hängt seiner Meinung nach mit der Willenskraft der Träumenden zusammen. Zudem ist dieser Moment des Realitätsempfindens ohnehin von kurzer Dauer. Dabei bedauert er in einer Anmerkung, dass er gerade die Inhalte nicht erinnert, die ihn besonders interessieren und die nicht mit dem Tageserleben in Verbindung stehen. Daher glaubt er, dass die Trauminhalte nicht vollständig aufgelöst werden können. Er wünscht sich gar schlafende Philosophen, damit die Logik imstande wäre zurückzutreten. Breton schließt auch weder die Möglichkeit einer narrativen Weitererzählung von Traum zu Traum aus, noch dass reale Erlebnisse in diesen weitergeführt werden (MS 21 f.; MSd 16–18). In solchen Überlegungen deutet sich bereits eine erste Vermischung von Wach- und Traumerleben an, die für die Surrealisten ästhetisch von Interesse war. Danach äußert Breton seine Gedanken zur Funktion des Traumes:

pourqoui n’accorderais-je pas au rêve ce que je refuse parfois à la réalité, soit cette valeur de certitude en elle-même, qui, dans son temps, n’est point exposée à mon désaveu ? Pourqoui n’attenderais-je pas de l’indice du rêve plus que je n’attends d’un degré de conscience chaque jour plus élevé ? Le rêve ne peut-il être appliqué, lui aussi, à la résolution des questions fondamentales de la vie ? (MS 22).
warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? (MSd 17).

Im nächsten Abschnitt hinterfragt Breton die Verlässlichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der Träumenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen greifen erneut (MS 23 f.; MSd 16–18). Breton versteht Traum und Realität daher nicht als einen unwiderruflichen Gegensatz, sondern sieht sie als zusammengehörig an. Im gleichzeitigen Zusammenspiel von Wach- und Traumzustand wird sogar eine neue Wahrnehmungserfahrung ermöglicht. Dieser Wahrnehmungszustand ist in seinen Augen erstrebenswert, aber nur bedingt erreichbar:

Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession (MS 24).
Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen (MSd 18).

Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich auch Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet.

Traumtheoretische Bezüge

An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf Die Traumdeutung (1899) von Sigmund Freud (1856–1939),[2] ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu äußern und auf dessen Fachbegriffe zurückzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton nur vage angedeutet und als wichtiger Anstoß für die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt:

Sur la foi de […] découvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, à la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisé qu’il sera à ne plus seulement tenir compte des réalités sommaires. L’imagination est peut-être sur le point de reprendre ses droits (MS 20).
Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (MSd 15).

Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die Oberfläche treten. Mit Zuspruch gegenüber Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton die ungenügende allgemeine Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität weiter aus (MS 20–23; MSd 15 f.). An dieser Stelle wird deutlich, wie Breton Freuds Traumtheorie primär zur Untermauerung eigener Argumentationen nutzt (Goumegou 2007, 269, 279).

Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf Freuds Psychoanalyse, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß für die Entwicklung der écriture automatique charakterisiert (Goumegou 2007, 267 f.):

Tout occupé que j’étais encore de Freud à cette époque et familiarisé avec ses méthodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je résolus d’obtenir de moi ce qu’on cherche à obtenir d´eux, soit un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avait paru, et il ma paraît encore […] que la vitesse de la pensée n´est pas supérieur à celle de la parole, et qu´elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui court (MS 33).
Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,[3] und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (MSd 24 f.).

Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden war und ihm einst kurz vor dem Einschlafen einfiel. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „Il y a un homme coupé en deux par la fenêtre“ (MS 31; „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, MSd 23).

Im Manifest tauchen zudem Bezüge zum französischen Traumdiskurs des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von Träumen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (Jiménez 2013, 24–29). Diese streift also bisweilen flüchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse, mit denen Breton überwiegend seine Ansicht zum Verhältnis zwischen Traum und Realität zu bekräftigen sucht; deshalb werden in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft (Goumegou 2007, 279).

Rezeption und Bedeutung des Werks

Das Manifeste du surréalisme von 1924 lässt Rückschlüsse auf Bretons Positionierung innerhalb der Kulturgeschichte des Traumdiskurses zu und gibt darüber hinaus wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergänzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewählten ästhetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der Frottage[4] verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur écriture automatique setzte. Daneben muss die Frottage natürlich ebenso in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des Künstlers betrachtet werden (Hadda 2019, 110–127).


Jacqueline Rhein

Literatur

Ausgaben

  • Breton, André: Manifeste du surréalisme. Paris: Éd. du Sagittaire 1924.
  • Ders.: Manifeste du surréalisme; Poisson soluble. Paris: Éd. Kra 2. Aufl. mit neuem Vorwort 1929.
  • Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 2008 (Collection Folio / Essais, 5); zitiert als MS.
  • Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Übers. von Ruth Henry. Reinbek, Hamburg: Rowohlt 1993 (Rowohlts Enzyklopädie 434); zitiert als MSd.

Kontexte

  • Sebbag, Georges (Hg.), Sommeils & Rêves surréalistes. Paris: Jean-Michel Place 2004.

Forschungsliteratur

  • Alexandrian, Sarane: Le Surréalisme et le rêve. Paris: Gallimard 1974.
  • Asholt, Wolfgang/Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart: Metzler 2005.
  • Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Frankfurt/M.: erw. Ausgabe Suhrkamp 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1222).
  • Gamwell, Lynn: Die innere Muse. Die Psyche im Jahrhundert der Wissenschaft, In: Dies. (Hg.): Träume 1900–2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte. München u.a: Prestel 2000, 13–60.
  • Goumegou, Susanne: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris. München: Fink 2007.
  • Hadda, Sarah: Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus. Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí, Bielefeld: transcript 2019 (Image, Bd. 149).
  • Jiménez, José: Surrealism and the Dream. In: Ders. (Hg.): Surrealism and the Dream [Ausst. Kat.]. Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza 2013, 17–54.
  • Kaltwasser, Nadja: Surrealismus und Traum: André Breton. In: Dies.: Zwischen Traum und Alptraum. Studien zur französischen und deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verlag 2000, 57-90.
  • Lusty, Natalya: Surrealism and Dreams. In: Dies. (Hg.), Surrealism. Cambridge: Cambridge UP 2021, 94-111.
  • Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. München: Beck 2006.

Anmerkungen

  1. Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, Interpunktion und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten psychischen Automatismus. Die Künstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in Les Chants de Maldoror des Comte de Lautrémont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie ab 1889 bei Pierre Janet (1859–1947) (Hadda 2019, 17 f.).
  2. Breton traf Freud bereits 1921, doch dieses Treffen hat ihn ernüchtert (Sebbag 2004, 21 f.; Jiménez 2013, 27). Dennoch kontaktierte er den Psychoanalytiker bis 1938 immer wieder in der Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Freud distanzierte sich jedoch beständig von diesen Bemühungen. Eine Ursache mag in dem unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der Beschäftigung mit Träumen ziehen wollten. Während Freud in Gesprächen mit seinen Patient*innen den 'latenten' Traumgedanken suchte und zu Behandlungszwecken verwendete, diente der „unlogisch“ wirkende erinnerte 'manifeste' Traum den Surrealisten als Inspiration für ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, etwa durch die Nutzung des künstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die bildende Kunst beschränkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede 2006, 142 f.). Kamen sie schon deshalb nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud zudem Breton aufgrund dessen persönlichen und überheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien vermutlich nicht sonderlich zugetan. Umgekehrt haben Freuds verhaltene Reaktionen Gegenaktionen Bretons ausgelöst, die sich zwischen dem Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik und Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegten (Gamwell 2000, 38 f.).
  3. Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets und Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44).
  4. Bei der Frottage wird zunächst ein Papier über einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit über die Fläche zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl künstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum für Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101).


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Rhein, Jacqueline: "Manifeste du surréalisme". In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Manifeste_du_surr%C3%A9alisme,_1924_(Andr%C3%A9_Breton).