"Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah): Unterschied zwischen den Versionen

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''Ministerium der Träume'' (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-Erzählerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flüchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre später unter rätselhaften Umständen stirbt, blickt die Erzählerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurück, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.
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''Ministerium der Träume'' (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-Erzählerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flüchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre später unter rätselhaften Umständen stirbt, blickt die Erzählerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurück, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.
  
  
 
== Überblick ==
 
== Überblick ==
Das Geschehen von ''Ministerium der Träume'' spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.
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Das Geschehen von ''Ministerium der Träume'' spielt auf zwei zeitlichen Ebenen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.
  
Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste Rückblende setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine teils als „sozialen Brennpunkt“ beschriebene Siedlung in Lübeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse der Polizei beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem 10 Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.
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Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnete Siedlung in Lübeck (Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen vergewaltigt, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse von Polizei und Politik beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem zehn Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.
  
Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem das Telefonklingeln, das Nasrin regelmäßig als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.
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Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem ein Telefonklingeln, das Nasrin immer wieder als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.
  
== Subjektivität und Traumerleben ==
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Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten (Grite/Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begründet er sein Vorhaben wie folgt:
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==Die Träume==
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Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffällig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, Träume, Wünsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingeführt wird (MdT 29), weist auf die Verschränkung von Traum und Trauma hin, die für alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass  angstbesetzte Träume und Alpträume häufige Symptome eines Traumas sind (Barrett 1996, 3; Pietrowsky 2014, 99–102). In Nasrins Träumen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die Lückenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spiegelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den Träumen mit Bruchstücken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spätere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur: Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).
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In fast allen Träumen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den geträumten Inhalten zusammenhängen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam näher kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die Telefongespräche, die Nasrin in allen Träumen führt, bleiben rätselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht länger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.
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===Prolog: Feuer===
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Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kündigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der Träumerin bestimmen wird. Das träumende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle Fläche aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmäßig verteilten Schlaglöchern und allen Sprüchen, die mich je verletzt haben“. Zunächst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast – „Mein Puls schlägt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ – rennt die Erzählerin die Straße entlang und stolpert über die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fällt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt
  
 
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: <span style="color: #7b879e;">A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina né quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune […]. O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piú intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la ''s'' maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piú generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei […] trovato interesse sufficiente per […] scrivere un romanzo (RQ 178 f.).
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: <span style="color: #7b879e;">ein schrilles Klingeln ein. Schon wieder dieses Geräusch. Es klingelt nur für mich. Ich versuche, nach vorne zu gelangen, doch man lässt mich nicht. Immer wieder versuche ich, die Dringlichkeit zu erklären. ''Verstehen Sie es denn nicht?'', will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal. Ich renne an den Anfang der Schlange. Verzweiflung macht sich breit, ich darf den Anruf nicht verpassen. Es könnte der letzte sein (MdT 10).</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der Südtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte […]. Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren für mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafür eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich […] nicht genug Interesse aufgebracht, um […] einen Roman darüber zu schreiben (RQd 283 f.)</span>
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Der Protagonistin gelingt es schließlich, in die Telefonzelle zu gelangen, in der sich die unerträgliche Hitze noch intensiviert. Durch die Glasscheibe glaubt sie, in zwei sich aus der Ferne nähernden Figuren ihre Mutter und Schwester zu erkennen. Als Nasrin den Hörer abnimmt, meldet sich ihr Bâbâ. Nasrin registriert, dass die beiden nun näher gekommenen Personen außerhalb der Zelle doch nicht ihre Verwandten sind, sondern „Gestalten […], am gesamten Körper mit Brandnarben übersät, die ihre Haut wie geschmolzenes Plastik wirken lassen. Ihre Augen sind leer, bluten“. Trotzdem hört Nasrin die Stimme ihrer Schwester aus dem Mund der kleineren Gestalt: „Ist Bâbâ am Telefon?“ Nasrin ergreift Panik, plötzlich mahnt nicht nur ihr Vater aus dem Hörer, sondern auch ihre Mutter und Schwester, die Tür nicht zu öffnen, während die verbrannten Gestalten gegen die Telefonzelle hämmern. Der Hörer wird so heiß, dass Nasrin ihn kurz fallen lässt. Als sie sich umblickt, erkennt sie draußen Flammen. Als sie verwirrt und verängstigt fragt, was gerade geschieht, ertönt erneut eine Stimme aus dem Hörer:
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: <span style="color: #7b879e;">‚Nas, hör für einen Moment auf, so naiv zu sein. Was denkst du, was hier gerade passiert?‘ Verwirrt schaue ich mich um. Im glänzenden Metall der Telefonzelle suche ich nach meiner Spiegelung und finde nichts als Leere (MdT 12).</span>
 
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Die Wahl einer homodiegetischen Erzählinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstärkt wird (Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzählt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfältig ausgewählte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr haben. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen Träume wiederholt eine Rolle.
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So endet der Alptraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende Kohärenz des Geschehens und mangelnde kausale Verknüpfungen: Beispielsweise ist die Erzählerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur für sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrängen müsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsächlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die Identität der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkennt“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die Erzählerin bedrohen, ohne dass der Grund dafür deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne Erklärung der Erzählerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die Träumerin selbst. Die extreme Hitze, die die Träumerin zunächst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z.B. als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer Emotionalität und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprägt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „Every now and then I fall apart“ aus Bonnie Tylers ''Total Eclipse of the Hear'' (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless/ When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die Sängerin als Träumerin inszeniert.
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Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der Erzählung und auch in den weiteren Träumen wieder aufgegriffen werden. Dazu zählt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der Erzählerin – „Schon wieder dieses Geräusch“ – ergibt erst durch die weitere Lektüre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die Türklingel, die die Polizisten mit der Nachricht vom Tod der Schwester ankündigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen Geräuschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen Träumen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme Emotionalität und körperliches Empfinden verknüpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der Erzählung von migrantischen Erfahrungen), der in den Träumen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der Erzählerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in Träumen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.
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Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der Erzählung immer wieder im Zusammenhang mit Nasrins (traumatisch verzerrter und unvollständiger) Erinnerung evoziert (insbesondere das Buch scheint hier ein treffendes Bild zu sein). Auch für die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollständiges Bild und eine Desorientierung, die zunächst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzählt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfährt. Es wird, anders als in den folgenden Träumen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die Träumerin zeitlich hineinträumt. Dass die Schwester gegenüber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafür sprechen, dass diese als kindlich geträumt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu überlagern.  
  
Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine Rückkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in ''Resto qui'' zum Bau des Staudamms ins Südtiroler Dorf Graun geholt werden, überlegt die Erzählerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa« (RQ 150; »Bestimmt träumten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer Rückkehr schlafen würden«, RQd 239). Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung.
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Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lässt sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen Anschlägen, die in den 90er Jahren in Deutschland verübt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den Händen der Angreifer*innen, brennende Flüchtlingsunterkünfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemüht war, die Brandanschläge als Einzelfälle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „''Verstehen Sie es denn nicht?'', will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal“.
  
== Grenzerfahrung und Vergangenheitsbewältigung im Traum ==
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===Wohnwagen===
Darüber hinaus bilden Träume und Halluzinationen in ''Resto Qui'' einen liminalen Raum, in dem die Protagonistin mit ihren Traumata und tiefsten Ängsten konfrontiert wird, vor allem mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter Marica. Das subjektive Familienschicksal überlagert in Balzanos Roman die historischen Ereignisse: Nach der Machtübernahme durch die Faschisten entschließt sich die kleine Marica, mit Onkel und Tante heimlich das Heimatdorf Graun zu verlassen. In einem Abschiedsbrief begründet sie ihre Flucht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Obwohl dieser Brief das letzte Lebenszeichen ist, das die Familie jemals erreicht – oder gerade deswegen – bleibt die Tochter im Familienleben allgegenwärtig. Die Erzählung selbst präsentiert sich wie eine Autobiographie der Mutter, die sie als Brief an die Tochter verfasst. So konstruiert der Autor ein komplexes Netz aus ineinander verflochtenen Erinnerungsmedien, bestehend aus dem ›autobiographischen Brief‹ – dem narrativen Rahmen also –, intradiegetischen Briefen, Fotos, Zeichnungen und auch Träumen. Während die Mutter die verschwundene Tochter über Jahre hinweg in ihrem Leben hält, indem sie ihr täglich einen Brief schreibt, füllt der Vater heimlich ein ganzes Heft mit Zeichnungen von der Tochter. Dabei bleibt der Schmerz über den Verlust zwischen den beiden Eheleuten unausgesprochen, wird mit der Zeit unaussprechbar: Gerade das Briefeschreiben bedeutet Verdrängung, denn es suggeriert, dass der Verlust nicht als solcher angenommen wird, dass die Tochter immer noch wirklicher, präsenter Teil der Familie ist. Erst im Traum holen der Schmerz und das Gefühl des Verlusts die Protagonistin ein. So zum Beispiel nach einem Spaziergang zum See, zu dem sie ihre beste Freundin drängt:
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Der zweite Traum (MdT 101 f.) wird geschildert, nachdem Nasrin zu ihrer Nichte Parvin gezogen ist:
  
 
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: <span style="color: #7b879e;">Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perché il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finché mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra (RQ 73).
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: <span style="color: #7b879e;">Ich renne am Kanal entlang und leuchte mit einer Taschenlampe ins Wasser. An der Oberfläche schwimmt Nushs Lieblingskleid, einige Meter weiter ein Schuh, der ihr gehören könnte, dazwischen ein Autoreifen. Aus der Ferne höre ich den Hall ihrer Stimme, die lachend nach mir ruft (MdT 101).</span>
 
 
: <span style="color: #7b879e;">Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich überhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon träumte ich nachts, ihn mit dir zu überqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fürchtete mich davor, ihn wieder zu träumen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme Flüssigkeit umhüllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine für die andere wieder die ganze Welt (RQd 122 f.).</span>
 
 
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Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und Eindrücke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen Verknüpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen pränatalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter für die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre später das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurück, ihn zu träumen. Ganz bewusst versucht sie, den äußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: Denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer Rückkehr abzuschließen.
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Nasrin rennt den im Wasser treibenden Tagesresten hinterher – das Lieblingskleid der Schwester, dessen Geruch sie einen Tag zuvor noch eingeatmet hat, der Reifen, der an ihren Tod erinnert. Als sie es aufgibt, der Stimme der Schwester nachzujagen, ertönt wieder das Klingeln und Nasrin sieht sich nach einer Telefonzelle um. Schließlich gelangt sie in ein Industriegebiet, in dem ein Wohnmobil steht.
 
 
Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:
 
  
 
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: <span style="color: #7b879e;">Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piú libera (RQ 90).
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: <span style="color: #7b879e;">Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit darin erkennen kann. ''Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark.'' Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich (MdT 102).</span>
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Mit diesem Gefühl der Gelähmtheit erwacht Nasrin im Bett ihrer Schwester aus ihrem Alptraum. Weshalb sie den Wohnwagen im Traum erkannt hat, wird den Leser*innen erst ein paar Seiten später, in einer Rückblende, klar werden (MdT 106–111). In dieser verirrt sich Nasrins zwölfjähriges Ich und wendet sich hilfesuchend an einen fremden Mann, Gerhard Walters, der ihre Situation ausnutzt und sie in seinem Wohnwagen vergewaltigt. Die Protagonistin wird in der Gewalt, die ihr an diesem Tag angetan wurde, einen wesentlichen Grund für die „Löcher“ und „Krater“ sehen, die in ihr Gedächtnis gerissen wurden: „sein Blick war aus Stahl. Er bohrte Löcher in mich hinein, schuf ein Gedächtnis aus Gips“ (MdT 111). Der Traum nimmt so in dem Bild des Wohnmobils vorweg, was auf erzählerischer Ebene erst später aufgedeckt wird. Auch hier wird das (verdrängte) Trauma durch einen Gegenstand repräsentiert, der gleichzeitig real und symbolisch ist. Im Traum entwickelt die Gewalttat eine Sogwirkung – Nasrin wird durch das strömende Wasser, die Stimme der unerreichbaren Schwester und das Klingeln aus der Telefonzelle in die Richtung des Wagens getrieben. Der Traum verbildlicht außerdem, wie die verschiedenen Ebenen einer traumatischen Vergangenheit sich überlagern (die Telefonzelle, die hinter dem Wohnmobil hervorragt).
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Auch in diesem Traum tauchen zwei Songtext-Fragmente auf – besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Evanescences ''Bring Me to Life'' (2003), das den Wunsch zum Ausdruck bringt, aus dem Alptraum zu erwachen und vor dem Wiedererleben des traumatischen Tages gerettet zu werden. Auch dieses Lied weist einen expliziten Traumbezug auf, der im Musikvideo nochmals unterstrichen wird: Hier träumt Sängerin Amy Lee davon, von einem Hochhaus zu fallen. Nasrins Traum hingegen greift ein anderes typisches Alptraum-Motiv auf. Eingeklemmt zwischen schwarzem Loch und Wohnwagen kann sie sich nicht bewegen – es ist der einzige Traum, in dem es ihr nicht gelingt, einen für sie bestimmten Anruf anzunehmen. Gleichzeitig schwingt die Gefahr, in das bodenlose Loch hinter ihr zu stürzen, durch das Lied-Zitat mit.
  
: <span style="color: #7b879e;">Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlüpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefühlt (RQd 149 f.).</span>
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Die Traumgrenzen werden bei dieser Passage verunsichert – Nasrins Erwachen kann als ''false awakening'' gedeutet werden. Mit den Alptraumbildern beschäftigt steht die Erzählerin nachts auf und geht ins Wohnzimmer, wo sie ihre Nichte auf dem Sofa sitzend vorfindet. Parvin antwortet nicht und der Protagonistin kommt die Szene irgendwie irreal vor: „Träume ich immer noch?“ Am nächsten Morgen sagt ihr Parvin, dass es keine nächtliche Begegnung gegeben habe.
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Doch das Gefühl der Befreiung hält nicht lange an. In der Einsamkeit der Hochalpen wird Trina regelmäßig von ihren Erinnerungen eingeholt, während sich ihr Unterbewusstsein gleichzeitig zu weigern scheint, die schmerzhafte Vergangenheit zu verarbeiten:
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===Telefon===
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Etwa hundert Seiten später wird ein weiterer Traum (MdT 202 f.) erzählt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die Erzählerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunächst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als würde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung telefonisch zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ Merkwürdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:  
  
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
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: <span style="color: #7b879e;">La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra è finita!« (RQ 114).
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: <span style="color: #7b879e;">Gerhards Lachen ist so laut, dass es in den Ohren wehtut. ‚Ich muss sie nicht gehen lassen. Sie ist zu mir gekommen. Sie bleibt, so lange ''sie'' will.‘</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Ich will fragen, wo die beiden sind, doch mit einem Knallen haben sie aufgelegt. Ich versuche zurückzurufen, doch das Gerät ist zu alt, um sich den Anrufer zu merken. Ich werfe trotzdem Geld rein. Das beschissene Teil schluckt meine letzte Münze.</span>
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: <span style="color: #7b879e;">‚Scheiße‘, brülle ich und werfe den Hörer auf die Gabel. In der engen Zelle bekomme ich kaum Luft. Ich versuche, die Tür aufzustoßen, doch sie ist versperrt. Irgendwer muss sie von der Gegenseite zudrücken. Als ich durch das Glas schiele, stelle ich fest, dass dort niemand ist (MdT 203).</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Am Abend auf dem Blätterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir träumen würde. Doch fast immer träumte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: »Trina, der Krieg ist aus!‹« (RQd 185).</span>
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Die unsichtbare Kraft am Ende des Traums knüpft an Nasrins fehlendes Spiegelbild aus dem ersten Traum an. Dieser dritte Traum spielt mit der Erwartungshaltung des*der Leser*in. Da die Erzählerin sich bei dem Streit, der dem Traum vorangegangen war, in der Wohnung befand und der Traum zunächst nicht als solcher zu erkennen ist und nahtlos an dieses Geschehen anzuknüpfen scheint, deutet zu Beginn nichts darauf, dass Nasrin als Träumerin in einer Telefonzelle steht. Tatsächlich spricht der Umstand, dass die Nummer als „unbekannt“ angezeigt wird, anfangs eher für ein Mobiltelefon oder ein neueres Festnetztelefon. Dieses Bild verschiebt sich das erste Mal, als Nasrin mit dem Kabel des Telefons hantiert – „Olles, altes Teil.“ Eine erste Irritation: Vielleicht ist das Festnetztelefon der Schwester also ein älteres Modell? Dieses Bild wiederum löst sich auf, als die Träumerin versucht, Münzen in das Gerät einzuwerfen, wodurch endgültig das Telefonzellen-Setting wiederkehrt. Dieses Anpassen des Traumbildes würde einem zeitlichen Verlauf entsprechen – von neuer zu alter Technik, von Gegenwart zu Vergangenheit. Dazu kommt noch, dass die Beschreibungen des Telefons, die zu den Veränderungen der Szene führen, jeweils von starken Emotionen des träumenden Ichs begleitet werden (Nervosität, Panik). Die schrittweise Veränderung der Traumszene würde so analog zu einem langsamen Herantasten an die traumatische Vergangenheit verlaufen.
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Obwohl Trina während ihrer Zeit im Exil wiederkehrende Träume hat, träumt sie offenbar kaum von ihrer Tochter. Auch wenn die obige Passage darauf hindeutet, dass ihre Tochter manchmal in den Träumen der Protagonistin auftaucht, so wird doch keiner dieser Träume im Text erzählt. Während der Episode im Hochgebirge, die nur vage durch einen festen Tagesablauf strukturiert ist, scheint Trina wie paralysiert im Zustand der Trauer. Statt einer Konfrontation mit der Vergangenheit nehmen ihre Träume vielmehr die Form einer Flucht in noch dunklere Tiefen an: Das wiederholte Traumbild des kleinen Jungen, eines unbekannten Kindes, das während der Kriegszeit in Trinas Armen Trost sucht und findet, unterstreicht das Gefühl der totalen mütterlichen Hilflosigkeit. Die Traumpräsenz dieses anderen Kindes verweist auf die unerträgliche Abwesenheit ihres eigenen Kindes in der primären Welt.
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Der Traum nimmt einerseits einen Gedanken auf, den Nasrin am Tag zuvor hatte – nämlich die Angst, Parvin könne Walters begegnet sein oder ihr könne etwas ähnliches passieren wie in ihrer eigenen Kindheit. Andererseits scheint es im Traum auch Verschiebungen zu geben. Dazu gehört beispielsweise Parvins irritierender Befehl, sie nicht mehr bei ihrem eigenen Namen zu nennen, der vielleicht auf Nasrins Wunsch verweist, einen anderen Namen, den von Gerhard Walters, nie wieder hören zu müssen, schon gar nicht aus dem Mund ihrer Nichte. Gerhards Aussage, dass er Parvin nicht gehen lassen müsse, da sie sozusagen freiwillig zu ihm gekommen ist, verweist auf Nasrins eigene Erfahrung, die hier von dem Täter im Sinne eines ''victim blaming'' umgedeutet wird.
  
Erst nach Kriegsende, nachdem Trina und Erich endlich in ihr Haus zurückgekehrt sind, hat die Protagonistin am helllichten Tag erneut eine traumhafte Begegnung mit ihrer Tochter:
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===Traum(a)fabrik===
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Der letzte Traum wird wenig später beschrieben (MdT 225–229). Nasrin hat eine Mailbox-Nachricht ihrer verstorbenen Schwester abgehört. Beim Versuch, darin Hinweise zu finden, schläft sie ein. Im Traum geht sie durch ein altes, verlassenes Industriegebäude – sie durchschreitet zunächst einen engen Gang und dann mehrere Räume, einen Maschinenraum, eine Halle:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
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: <span style="color: #7b879e;">Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finché senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa (RQ 128).
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: <span style="color: #7b879e;">In einer Ecke liegt ein Schrottberg […]. Hier und da liegen ein paar Glasscherben auf dem Boden, teilweise sind sie viel größer als ich. Bei genauerer Betrachtung fallen mir auch zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen für alte Modelle, wie das Nokia 3210, mein erstes Mobilgerät, im Schrottberg auf (MdT 226).</span>
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Die Träumerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im Gebäude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fällt ihr Blick auf ein übergroßes Portrait des Popkünstlers Andy Warhol (1928-1987), darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf den diesen verübt wurde („Doch was wäre ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik überlebt?“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? […] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen […]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“
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Dem Traum geht eine Rückblende voraus: Nasrin und ihre Jugendclique werden 1995 bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nächsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach Lübeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.
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Aufschluss über das im Traum erkundete Industriegebäude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – ''Ministerium der Träume'' – als eine Metapher für den Kopf zu verstehen sei, als Ort der Wünsche, Ängste, Erinnerungen und Träume. Diese Metapher scheint in dem geträumten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenständlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle Gegenstände, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen“). Die Glasscherben – viel größer als die Träumerin – verweisen auf zwei der anderen Träume, in denen das Glas einer Telefonzelle zu zerbrechen drohte; gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher für die schwer zu bewältigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „Ihr lückenhaftes Gedächtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht größer als Sie“; MdT 206). Die Träumerin fühlt sich, anders als in den anderen Träumen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen Räume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfügen: der Maschinenraum, in denen Geräte auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lästig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise zu einem neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die Veränderung der Farbe auch auf die reale Entwicklung der Telefonzellen verweisen, die in Deutschland zumindest zeitweise ein pinkfarbenes Dach hatten).
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Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lässt sich auf Nasrins Freund*innen von früher beziehen, die, wie sich später auf der Wachebene herausstellen wird, tatsächlich mehr darüber wissen, wer für den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen für ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.
  
: <span style="color: #7b879e;">Eines Morgens sah ich dich zwischen den Bäumen. Du warst noch ein Kind. Ich überließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem Rücken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der Lärchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem Rückweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen würde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, würde ich in den Ofen werfen (RQd 204).</span>
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Der Verweis auf Andy Warhol und das Ende des Traums greifen das Wortspiel Traum(a)fabrik wieder auf, das tatsächlich auf eine Häuserwand gemalt ist, die von Nushins Wohnung aus sichtbar ist. Worauf sich dieses Wortspiel bezieht – z.B. auf den deutschen Rassismus, der das Land zu einer Traumafabrik für Migrant*innen macht oder auf Nasrins Kopf, in dem die traumatische Vergangenheit immer wieder reproduziert wird – bleibt vieldeutig.
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Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage - zum Beispiel wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, wissen wir als Rezipienten bereits, dass es ihr einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jasna Pape]]</div>
  
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==Literatur==
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===Primärliteratur===
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* Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume. Berlin: Aufbau [Blumenbar ] 2021; zitiert als MdT.
  
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
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===Forschungsliteratur===
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* Barrett, Deidre (Hg.): Trauma and Dreams. Cambridge (Mass.): Harvard UP 1996.
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* Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
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* Pietrowsky, Reinhard: Was uns den Schlaf raubt. Albträume in Psychologie, Kunst und Kultur. Darmstadt: wbg 2014.
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* Sliwinski, Sharon: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought. Minneapolis: Minnesota UP 2017.
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* Solte-Gresser, Christiane: Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren. Paderborn: Fink 2021.
  
== Literatur ==
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===Rezensionen===
=== Ausgaben ===
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* Liebert, Juliane: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt ''Ministerium der Träume''. Pöbeln auf Leben und Tod. In: Süddeutsche Zeitung, 11 Februar 2021; [https://www.sueddeutsche.de/kultur/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume-debuetroman-rezension-1.5202769 online].
* Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018 (zitiert als RQ).
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* Mawad, Tarek Mohamed: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt-Roman. Extrem laut und unglaublich nah. In: monopol, 1. März 2021; [https://www.monopol-magazin.de/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume online].
* Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. Zürich: Diogenes 2020 (zitiert als RQd).
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* Wurmitzer, Michael: Hengameh Yaghoobifarah: Queer, persisch und Ziel von rechtem Hass. In: Der Standard, 11. März 2021; [https://www.derstandard.de/story/2000124849896/hengameh-yaghoobifarah-queer-persisch-und-ziel-von-rechtem-hass online].
  
  
=== Forschungsliteratur ===
+
==Weblinks==
* Beyer, Rahel/Albrecht Plewnia (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr 2019.  
+
* [https://www.youtube.com/watch?v=XiMgK6h-FL4 Interview und Lesung mit Hengameh Yaghoobifarah und Margarete Stokowski].
* Forkel, Robert: Literarisches Erzählen über die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229.
+
* Lenz, Pia-Luise: Kameraüberwachung im sozialen Brennpunkt. ‚Ich passe auf alle auf!‘ In: Spiegel Online, 18. Juli 2013; [https://www.spiegel.de/karriere/hudekamp-kameraueberwacher-im-sozialen-brennpunkt-a-911479.html online].
* Grote, Georg/Barbara Siller: Südtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011.
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* [https://www.mdr.de/tv/programm/sendung-695954.html MDR-Dokumentation zum rassistischen Anschlag in Hoyerswerda].  
* Grugger, Helmut: Zum Begriff des Generationenromans. In: Ders./Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin: de Gruyter 2021, 3–17.
+
* [https://www.youtube.com/watch?v=lcOxhH8N3Bo Musikvideo zu Bonnie Tyler: ''Total Eclipse of the Heart'' (1982)].  
* Klettenhammer, Sieglinde: Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen Südtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende. In: Cescutti, Marjan/Johann Holzner/Roger Vorderegger (Hg.): Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269.
+
* [https://www.youtube.com/watch?v=3YxaaGgTQYM Musikvideo zu Evanescence: ''Bring Me to Life'' (2003)].  
* Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.  
+
* [https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/Die-Brandnacht,sendung477120.html NDR-Dokumentation zum Brandanschlag in Lübeck].
* Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenberg 2001.
+
* [https://open.spotify.com/playlist/2J7g2AMKwXL9r2I7UZzKMb?si=HdSHFrtwS0eqXgWAO8QKHg&nd=1 Spotify-Playlist zum Roman (erstellt von Yaghoobifarah)].  
  
  
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Zitiervorschlag für diesen Artikel:
 
Zitiervorschlag für diesen Artikel:
  
Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Resto_qui%22_(Marco_Balzano).
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Pape, Jasna: "Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Ministerium_der_Träume%22_(Hengameh_Yaghoobifarah).
  
 
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[[Kategorie:Balzano,_Marco|Marco Balzano]]
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[[Kategorie:Yaghoobifarah,_Hengameh|Hengameh Yaghoobifarah]]
 
[[Kategorie:21._Jahrhundert]]
 
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Aktuelle Version vom 8. September 2022, 04:50 Uhr

Ministerium der Träume (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-Erzählerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flüchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre später unter rätselhaften Umständen stirbt, blickt die Erzählerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurück, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.


Überblick

Das Geschehen von Ministerium der Träume spielt auf zwei zeitlichen Ebenen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.

Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnete Siedlung in Lübeck (Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen vergewaltigt, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse von Polizei und Politik beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem zehn Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.

Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem ein Telefonklingeln, das Nasrin immer wieder als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.


Die Träume

Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffällig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, Träume, Wünsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingeführt wird (MdT 29), weist auf die Verschränkung von Traum und Trauma hin, die für alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass angstbesetzte Träume und Alpträume häufige Symptome eines Traumas sind (Barrett 1996, 3; Pietrowsky 2014, 99–102). In Nasrins Träumen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die Lückenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spiegelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den Träumen mit Bruchstücken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spätere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur: Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).

In fast allen Träumen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den geträumten Inhalten zusammenhängen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam näher kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die Telefongespräche, die Nasrin in allen Träumen führt, bleiben rätselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht länger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.

Prolog: Feuer

Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kündigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der Träumerin bestimmen wird. Das träumende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle Fläche aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmäßig verteilten Schlaglöchern und allen Sprüchen, die mich je verletzt haben“. Zunächst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast – „Mein Puls schlägt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ – rennt die Erzählerin die Straße entlang und stolpert über die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fällt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt

ein schrilles Klingeln ein. Schon wieder dieses Geräusch. Es klingelt nur für mich. Ich versuche, nach vorne zu gelangen, doch man lässt mich nicht. Immer wieder versuche ich, die Dringlichkeit zu erklären. Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal. Ich renne an den Anfang der Schlange. Verzweiflung macht sich breit, ich darf den Anruf nicht verpassen. Es könnte der letzte sein (MdT 10).

Der Protagonistin gelingt es schließlich, in die Telefonzelle zu gelangen, in der sich die unerträgliche Hitze noch intensiviert. Durch die Glasscheibe glaubt sie, in zwei sich aus der Ferne nähernden Figuren ihre Mutter und Schwester zu erkennen. Als Nasrin den Hörer abnimmt, meldet sich ihr Bâbâ. Nasrin registriert, dass die beiden nun näher gekommenen Personen außerhalb der Zelle doch nicht ihre Verwandten sind, sondern „Gestalten […], am gesamten Körper mit Brandnarben übersät, die ihre Haut wie geschmolzenes Plastik wirken lassen. Ihre Augen sind leer, bluten“. Trotzdem hört Nasrin die Stimme ihrer Schwester aus dem Mund der kleineren Gestalt: „Ist Bâbâ am Telefon?“ Nasrin ergreift Panik, plötzlich mahnt nicht nur ihr Vater aus dem Hörer, sondern auch ihre Mutter und Schwester, die Tür nicht zu öffnen, während die verbrannten Gestalten gegen die Telefonzelle hämmern. Der Hörer wird so heiß, dass Nasrin ihn kurz fallen lässt. Als sie sich umblickt, erkennt sie draußen Flammen. Als sie verwirrt und verängstigt fragt, was gerade geschieht, ertönt erneut eine Stimme aus dem Hörer:

‚Nas, hör für einen Moment auf, so naiv zu sein. Was denkst du, was hier gerade passiert?‘ Verwirrt schaue ich mich um. Im glänzenden Metall der Telefonzelle suche ich nach meiner Spiegelung und finde nichts als Leere (MdT 12).

So endet der Alptraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende Kohärenz des Geschehens und mangelnde kausale Verknüpfungen: Beispielsweise ist die Erzählerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur für sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrängen müsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsächlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die Identität der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkennt“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die Erzählerin bedrohen, ohne dass der Grund dafür deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne Erklärung der Erzählerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die Träumerin selbst. Die extreme Hitze, die die Träumerin zunächst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z.B. als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer Emotionalität und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprägt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „Every now and then I fall apart“ aus Bonnie Tylers Total Eclipse of the Hear (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless/ When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die Sängerin als Träumerin inszeniert.

Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der Erzählung und auch in den weiteren Träumen wieder aufgegriffen werden. Dazu zählt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der Erzählerin – „Schon wieder dieses Geräusch“ – ergibt erst durch die weitere Lektüre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die Türklingel, die die Polizisten mit der Nachricht vom Tod der Schwester ankündigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen Geräuschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen Träumen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme Emotionalität und körperliches Empfinden verknüpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der Erzählung von migrantischen Erfahrungen), der in den Träumen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der Erzählerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in Träumen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.

Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der Erzählung immer wieder im Zusammenhang mit Nasrins (traumatisch verzerrter und unvollständiger) Erinnerung evoziert (insbesondere das Buch scheint hier ein treffendes Bild zu sein). Auch für die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollständiges Bild und eine Desorientierung, die zunächst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzählt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfährt. Es wird, anders als in den folgenden Träumen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die Träumerin zeitlich hineinträumt. Dass die Schwester gegenüber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafür sprechen, dass diese als kindlich geträumt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu überlagern.

Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lässt sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen Anschlägen, die in den 90er Jahren in Deutschland verübt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den Händen der Angreifer*innen, brennende Flüchtlingsunterkünfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemüht war, die Brandanschläge als Einzelfälle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal“.

Wohnwagen

Der zweite Traum (MdT 101 f.) wird geschildert, nachdem Nasrin zu ihrer Nichte Parvin gezogen ist:

Ich renne am Kanal entlang und leuchte mit einer Taschenlampe ins Wasser. An der Oberfläche schwimmt Nushs Lieblingskleid, einige Meter weiter ein Schuh, der ihr gehören könnte, dazwischen ein Autoreifen. Aus der Ferne höre ich den Hall ihrer Stimme, die lachend nach mir ruft (MdT 101).

Nasrin rennt den im Wasser treibenden Tagesresten hinterher – das Lieblingskleid der Schwester, dessen Geruch sie einen Tag zuvor noch eingeatmet hat, der Reifen, der an ihren Tod erinnert. Als sie es aufgibt, der Stimme der Schwester nachzujagen, ertönt wieder das Klingeln und Nasrin sieht sich nach einer Telefonzelle um. Schließlich gelangt sie in ein Industriegebiet, in dem ein Wohnmobil steht.

Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit darin erkennen kann. Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark. Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich (MdT 102).

Mit diesem Gefühl der Gelähmtheit erwacht Nasrin im Bett ihrer Schwester aus ihrem Alptraum. Weshalb sie den Wohnwagen im Traum erkannt hat, wird den Leser*innen erst ein paar Seiten später, in einer Rückblende, klar werden (MdT 106–111). In dieser verirrt sich Nasrins zwölfjähriges Ich und wendet sich hilfesuchend an einen fremden Mann, Gerhard Walters, der ihre Situation ausnutzt und sie in seinem Wohnwagen vergewaltigt. Die Protagonistin wird in der Gewalt, die ihr an diesem Tag angetan wurde, einen wesentlichen Grund für die „Löcher“ und „Krater“ sehen, die in ihr Gedächtnis gerissen wurden: „sein Blick war aus Stahl. Er bohrte Löcher in mich hinein, schuf ein Gedächtnis aus Gips“ (MdT 111). Der Traum nimmt so in dem Bild des Wohnmobils vorweg, was auf erzählerischer Ebene erst später aufgedeckt wird. Auch hier wird das (verdrängte) Trauma durch einen Gegenstand repräsentiert, der gleichzeitig real und symbolisch ist. Im Traum entwickelt die Gewalttat eine Sogwirkung – Nasrin wird durch das strömende Wasser, die Stimme der unerreichbaren Schwester und das Klingeln aus der Telefonzelle in die Richtung des Wagens getrieben. Der Traum verbildlicht außerdem, wie die verschiedenen Ebenen einer traumatischen Vergangenheit sich überlagern (die Telefonzelle, die hinter dem Wohnmobil hervorragt).

Auch in diesem Traum tauchen zwei Songtext-Fragmente auf – besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Evanescences Bring Me to Life (2003), das den Wunsch zum Ausdruck bringt, aus dem Alptraum zu erwachen und vor dem Wiedererleben des traumatischen Tages gerettet zu werden. Auch dieses Lied weist einen expliziten Traumbezug auf, der im Musikvideo nochmals unterstrichen wird: Hier träumt Sängerin Amy Lee davon, von einem Hochhaus zu fallen. Nasrins Traum hingegen greift ein anderes typisches Alptraum-Motiv auf. Eingeklemmt zwischen schwarzem Loch und Wohnwagen kann sie sich nicht bewegen – es ist der einzige Traum, in dem es ihr nicht gelingt, einen für sie bestimmten Anruf anzunehmen. Gleichzeitig schwingt die Gefahr, in das bodenlose Loch hinter ihr zu stürzen, durch das Lied-Zitat mit.

Die Traumgrenzen werden bei dieser Passage verunsichert – Nasrins Erwachen kann als false awakening gedeutet werden. Mit den Alptraumbildern beschäftigt steht die Erzählerin nachts auf und geht ins Wohnzimmer, wo sie ihre Nichte auf dem Sofa sitzend vorfindet. Parvin antwortet nicht und der Protagonistin kommt die Szene irgendwie irreal vor: „Träume ich immer noch?“ Am nächsten Morgen sagt ihr Parvin, dass es keine nächtliche Begegnung gegeben habe.

Telefon

Etwa hundert Seiten später wird ein weiterer Traum (MdT 202 f.) erzählt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die Erzählerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunächst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als würde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung telefonisch zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ Merkwürdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:

Gerhards Lachen ist so laut, dass es in den Ohren wehtut. ‚Ich muss sie nicht gehen lassen. Sie ist zu mir gekommen. Sie bleibt, so lange sie will.‘
Ich will fragen, wo die beiden sind, doch mit einem Knallen haben sie aufgelegt. Ich versuche zurückzurufen, doch das Gerät ist zu alt, um sich den Anrufer zu merken. Ich werfe trotzdem Geld rein. Das beschissene Teil schluckt meine letzte Münze.
‚Scheiße‘, brülle ich und werfe den Hörer auf die Gabel. In der engen Zelle bekomme ich kaum Luft. Ich versuche, die Tür aufzustoßen, doch sie ist versperrt. Irgendwer muss sie von der Gegenseite zudrücken. Als ich durch das Glas schiele, stelle ich fest, dass dort niemand ist (MdT 203).

Die unsichtbare Kraft am Ende des Traums knüpft an Nasrins fehlendes Spiegelbild aus dem ersten Traum an. Dieser dritte Traum spielt mit der Erwartungshaltung des*der Leser*in. Da die Erzählerin sich bei dem Streit, der dem Traum vorangegangen war, in der Wohnung befand und der Traum zunächst nicht als solcher zu erkennen ist und nahtlos an dieses Geschehen anzuknüpfen scheint, deutet zu Beginn nichts darauf, dass Nasrin als Träumerin in einer Telefonzelle steht. Tatsächlich spricht der Umstand, dass die Nummer als „unbekannt“ angezeigt wird, anfangs eher für ein Mobiltelefon oder ein neueres Festnetztelefon. Dieses Bild verschiebt sich das erste Mal, als Nasrin mit dem Kabel des Telefons hantiert – „Olles, altes Teil.“ Eine erste Irritation: Vielleicht ist das Festnetztelefon der Schwester also ein älteres Modell? Dieses Bild wiederum löst sich auf, als die Träumerin versucht, Münzen in das Gerät einzuwerfen, wodurch endgültig das Telefonzellen-Setting wiederkehrt. Dieses Anpassen des Traumbildes würde einem zeitlichen Verlauf entsprechen – von neuer zu alter Technik, von Gegenwart zu Vergangenheit. Dazu kommt noch, dass die Beschreibungen des Telefons, die zu den Veränderungen der Szene führen, jeweils von starken Emotionen des träumenden Ichs begleitet werden (Nervosität, Panik). Die schrittweise Veränderung der Traumszene würde so analog zu einem langsamen Herantasten an die traumatische Vergangenheit verlaufen.

Der Traum nimmt einerseits einen Gedanken auf, den Nasrin am Tag zuvor hatte – nämlich die Angst, Parvin könne Walters begegnet sein oder ihr könne etwas ähnliches passieren wie in ihrer eigenen Kindheit. Andererseits scheint es im Traum auch Verschiebungen zu geben. Dazu gehört beispielsweise Parvins irritierender Befehl, sie nicht mehr bei ihrem eigenen Namen zu nennen, der vielleicht auf Nasrins Wunsch verweist, einen anderen Namen, den von Gerhard Walters, nie wieder hören zu müssen, schon gar nicht aus dem Mund ihrer Nichte. Gerhards Aussage, dass er Parvin nicht gehen lassen müsse, da sie sozusagen freiwillig zu ihm gekommen ist, verweist auf Nasrins eigene Erfahrung, die hier von dem Täter im Sinne eines victim blaming umgedeutet wird.

Traum(a)fabrik

Der letzte Traum wird wenig später beschrieben (MdT 225–229). Nasrin hat eine Mailbox-Nachricht ihrer verstorbenen Schwester abgehört. Beim Versuch, darin Hinweise zu finden, schläft sie ein. Im Traum geht sie durch ein altes, verlassenes Industriegebäude – sie durchschreitet zunächst einen engen Gang und dann mehrere Räume, einen Maschinenraum, eine Halle:

In einer Ecke liegt ein Schrottberg […]. Hier und da liegen ein paar Glasscherben auf dem Boden, teilweise sind sie viel größer als ich. Bei genauerer Betrachtung fallen mir auch zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen für alte Modelle, wie das Nokia 3210, mein erstes Mobilgerät, im Schrottberg auf (MdT 226).

Die Träumerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im Gebäude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fällt ihr Blick auf ein übergroßes Portrait des Popkünstlers Andy Warhol (1928-1987), darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf den diesen verübt wurde („Doch was wäre ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik überlebt?“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? […] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen […]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“

Dem Traum geht eine Rückblende voraus: Nasrin und ihre Jugendclique werden 1995 bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nächsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach Lübeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.

Aufschluss über das im Traum erkundete Industriegebäude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – Ministerium der Träume – als eine Metapher für den Kopf zu verstehen sei, als Ort der Wünsche, Ängste, Erinnerungen und Träume. Diese Metapher scheint in dem geträumten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenständlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle Gegenstände, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen“). Die Glasscherben – viel größer als die Träumerin – verweisen auf zwei der anderen Träume, in denen das Glas einer Telefonzelle zu zerbrechen drohte; gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher für die schwer zu bewältigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „Ihr lückenhaftes Gedächtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht größer als Sie“; MdT 206). Die Träumerin fühlt sich, anders als in den anderen Träumen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen Räume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfügen: der Maschinenraum, in denen Geräte auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lästig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise zu einem neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die Veränderung der Farbe auch auf die reale Entwicklung der Telefonzellen verweisen, die in Deutschland zumindest zeitweise ein pinkfarbenes Dach hatten).

Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lässt sich auf Nasrins Freund*innen von früher beziehen, die, wie sich später auf der Wachebene herausstellen wird, tatsächlich mehr darüber wissen, wer für den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen für ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.

Der Verweis auf Andy Warhol und das Ende des Traums greifen das Wortspiel Traum(a)fabrik wieder auf, das tatsächlich auf eine Häuserwand gemalt ist, die von Nushins Wohnung aus sichtbar ist. Worauf sich dieses Wortspiel bezieht – z.B. auf den deutschen Rassismus, der das Land zu einer Traumafabrik für Migrant*innen macht oder auf Nasrins Kopf, in dem die traumatische Vergangenheit immer wieder reproduziert wird – bleibt vieldeutig.

Jasna Pape

Literatur

Primärliteratur

  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume. Berlin: Aufbau [Blumenbar ] 2021; zitiert als MdT.

Forschungsliteratur

  • Barrett, Deidre (Hg.): Trauma and Dreams. Cambridge (Mass.): Harvard UP 1996.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Pietrowsky, Reinhard: Was uns den Schlaf raubt. Albträume in Psychologie, Kunst und Kultur. Darmstadt: wbg 2014.
  • Sliwinski, Sharon: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought. Minneapolis: Minnesota UP 2017.
  • Solte-Gresser, Christiane: Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren. Paderborn: Fink 2021.

Rezensionen

  • Liebert, Juliane: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt Ministerium der Träume. Pöbeln auf Leben und Tod. In: Süddeutsche Zeitung, 11 Februar 2021; online.
  • Mawad, Tarek Mohamed: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt-Roman. Extrem laut und unglaublich nah. In: monopol, 1. März 2021; online.
  • Wurmitzer, Michael: Hengameh Yaghoobifarah: Queer, persisch und Ziel von rechtem Hass. In: Der Standard, 11. März 2021; online.


Weblinks


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Pape, Jasna: "Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Ministerium_der_Träume%22_(Hengameh_Yaghoobifarah).