"Oneirokritika" (Artemidor von Daldis): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen
 
(6 dazwischenliegende Versionen von 3 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
 
==Autor==
 
==Autor==
−
Artemidor, der Autor des einzigen aus der griechisch-römischen Antike erhaltenen Traumdeutungsbuches (ᜈΜΔÎčÏÎżÎșρÎčτÎčÎșÎŹ, ''Oneirokritika)'', gehört zeitlich vermutlich an das Ende des 2. bzw. an den Beginn des 3. Jahrhundert, d. h. in die Zeit der römischen Kaiser Commodus und Septimius Severus; die frĂŒhere Forschung erachtete noch eine Datierung in die Mitte des 2. Jhs. als plausibel (Chandezon 2014, 12-17; Thonemann 2019, Kap. 2). Der Grund fĂŒr diese Unsicherheit liegt darin, dass ĂŒber Artemidor so gut wie nichts bekannt ist und fast alle Informationen seinem Werk zu entnehmen sind. Nach eigenen Angaben stammt er zwar aus der Metropole Ephesos in Kleinasien, identifizierte sich aber mit dem Geburtsort seiner Mutter, dem kleinen lydischen LandstĂ€dtchen Daldis (Weber 2015a, 11 f.), um dessen Ruhm durch die Prominenz seiner Person und seines Werkes zu mehren (Artem. 3,66,235,13-23, dazu Chandezon 2012, 17-19). Immerhin hatte der Gott Apollon, der in Daldis verehrt wurde, Artemidor nach eigener Aussage zur Abfassung der ''Oneirokritika'' bewogen.
+
Artemidor, der Autor des einzigen aus der griechisch-römischen Antike erhaltenen Traumdeutungsbuches (ᜈΜΔÎčÏÎżÎșρÎčτÎčÎșÎŹ, ''Oneirokritika''), gehört zeitlich vermutlich an das Ende des 2. bzw. an den Beginn des 3. Jahrhundert, d.h. in die Zeit der römischen Kaiser Commodus und Septimius Severus; die frĂŒhere Forschung erachtete noch eine Datierung in die Mitte des 2. Jhs. als plausibel (Chandezon 2014, 12-17; Thonemann 2019, Kap. 2). Der Grund fĂŒr diese Unsicherheit liegt darin, dass ĂŒber Artemidor so gut wie nichts bekannt ist und fast alle Informationen seinem Werk zu entnehmen sind. Nach eigenen Angaben stammt er zwar aus der Metropole Ephesos in Kleinasien, identifizierte sich aber mit dem Geburtsort seiner Mutter, dem kleinen lydischen LandstĂ€dtchen Daldis (Weber 2015a, 11 f.), um dessen Ruhm durch die Prominenz seiner Person und seines Werkes zu mehren (Artem. 3,66,235,13-23, dazu Chandezon 2012, 17-19). Immerhin hatte der Gott Apollon, der in Daldis verehrt wurde, Artemidor nach eigener Aussage zur Abfassung der ''Oneirokritika'' bewogen.
  
−
Artemidor weist darauf hin, dass er jedes verfĂŒgbare Buch ĂŒber Traumdeutung erworben habe, außerdem sei er fĂŒr seine Recherchen, nicht zuletzt auch auf Festen und JahrmĂ€rkten, Griechenland, Kleinasien, Rom und zu den Inseln in der ÄgĂ€is gereist (Artem. 1,prooem.,2,11-20 und 5,prooem.,301,10-15, dazu Harris-McCoy 2012, 413f.). Dies war ihm freilich nur möglich, weil er dafĂŒr Zeit aufzuwenden vermochte und wohlhabend genug war, nicht arbeiten zu mĂŒssen und sich dies alles auch leisten zu können – nicht zuletzt auch die Privatbibliothek, in der sich zweifellos umfangreiche Informationen fĂŒr die Deutungen befanden. Artemidor als Mitglied der lokalen Oberschicht dĂŒrfte seinen Lebensmittelpunkt in der römischen Provinz Asia gehabt haben (Weber 2014), wenngleich sich keine expliziten Hinweise auf eine politische BetĂ€tigung, etwa in Ephesos oder Daldis, finden lassen. Denn eine BronzemĂŒnze aus Daldis aus der Zeit des Caesars Geta (197-209 n. Chr.) mit einem AmtstrĂ€ger namens Artemidor auf der RĂŒckseite muss nicht zwingend auf unseren Autor zu beziehen sein (Weber 2015a, 11-13 mit Abb. 3a.b). In jedem Fall aber gehört Artemidor in eine Zeit, die in der Literaturgeschichte als Zweite Sophistik bezeichnet wird und der neben Galen auch Aelius Aristeides, Lukian und Philostrat angehören, d. h. in eine Zeit, in der ein starkes Interesse an TrĂ€umen und ihrer Deutung zu verzeichnen ist. Ob er selbst freilich hier zuzuordnen ist, wird derzeit intensiv diskutiert, denn es werden in jĂŒngster Zeit gewichtige Argumente angefĂŒhrt (Thonemann 2019, Kap. 2 und 8), denen zufolge sich Artemidor in Stil, Rhetorik und Sprache doch auf einem anderen Niveau als die genannten Autoren bewegt.
+
Artemidor weist darauf hin, dass er jedes verfĂŒgbare Buch ĂŒber Traumdeutung erworben habe; außerdem sei er fĂŒr seine Recherchen nicht zuletzt auch auf Festen und JahrmĂ€rkten gewesen und nach Griechenland, Kleinasien, Rom und zu den Inseln in der ÄgĂ€is gereist (Artem. 1,prooem.,2,11-20 und 5,prooem.,301,10-15; dazu Harris-McCoy 2012, 413 f.). Dies war ihm freilich nur möglich, weil er dafĂŒr Zeit aufzuwenden vermochte und wohlhabend genug war, nicht arbeiten zu mĂŒssen und sich dies alles auch leisten zu können – nicht zuletzt seine Privatbibliothek, in der sich zweifellos umfangreiche Informationen fĂŒr die Deutungen befanden. Artemidor als Mitglied der lokalen Oberschicht dĂŒrfte seinen Lebensmittelpunkt in der römischen Provinz Asia gehabt haben (Weber 2014), wenngleich sich keine expliziten Hinweise auf eine politische BetĂ€tigung, etwa in Ephesos oder Daldis, finden lassen. Denn eine BronzemĂŒnze aus Daldis aus der Zeit des Caesars Geta (197-209 n. Chr.) mit einem AmtstrĂ€ger namens Artemidor auf der RĂŒckseite muss nicht zwingend auf unseren Autor zu beziehen sein (Weber 2015a, 11-13 mit Abb. 3a.b). In jedem Fall aber gehört Artemidor in eine Zeit, die in der Literaturgeschichte als Zweite Sophistik bezeichnet wird und der neben Galen auch Aelius Aristides, Lukian und Philostrat angehören, d.h. in eine Zeit, in der ein starkes Interesse an TrĂ€umen und ihrer Deutung zu verzeichnen ist. Ob er selbst freilich hier zuzuordnen ist, wird intensiv diskutiert, denn es werden in jĂŒngster Zeit gewichtige Argumente angefĂŒhrt (Thonemann 2019, Kap. 2 und 8), denen zufolge sich Artemidor in Stil, Rhetorik und Sprache doch auf einem anderen Niveau als die genannten Autoren bewegt.
  
 +
Neben den ''Oneirokritika'' werden Artemidor im byzantinischen ''Suda-Lexikon'' (α 4025) noch weitere Werke – alle aus dem Bereich der Divination, nĂ€mlich ĂŒber Vogelschau (''Oionoskopika'') und ĂŒber Handlesen (''Cheiroskopika''), beide nicht erhalten – zugeschrieben. In den ''Oneirokritika'' selbst (Artem. 1,1,3,10 und 3,66,235,15 f.) verweist Artemidor auf weitere eigene Werke, ohne sie jedoch konkret zu benennen. Dass er ein kritisches VerhĂ€ltnis zur divinatorischen Konkurrenz pflegt, verwundert nicht (du Bouchet 2016, 33-37).
  
−
Neben den ''Oneirokritika'' werden Artemidor im byzantinischen ''Suda-Lexikon'' (α 4025) noch weitere Werke – alle aus dem Bereich der Divination, nĂ€mlich ĂŒber Vogelschau ''(Oionoskopika)'' und ĂŒber Handlesen ''(Cheiroskopika),'' beide nicht erhalten – zugeschrieben. In den ''Oneirokritika'' selbst (Artem. 1,1,3,10 und 3,66,235,15f.) verweist Artemidor auf weitere eigene Werke, ohne sie jedoch konkret zu benennen; dass er ein kritisches VerhĂ€ltnis zur divinatorischen Konkurrenz pflegt, verwundert nicht (du Bouchet 2016, 33-37).
 
  
 
==Werk==
 
==Werk==
−
Die ''Oneirokritika'' bestehen aus fĂŒnf BĂŒchern und sie enthalten neben theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Traumarten und zur Auslegungsmethodik auch einen großen Katalog mit Traumsymbolen und deren Deutung samt BegrĂŒndung, außerdem eine Zusammenstellung von 95 Beispielen, bei denen sich Artemidors Deutung erfĂŒllt haben soll. Die ersten drei BĂŒcher sind einem Cassius Maximus gewidmet, hinter dem man den Rhetor und Philosophen Maximos und Tyros vermutet (PĂ©rez-Jean 2012, 64-66), fĂŒr die man jedoch von einem lĂ€ngeren redaktionellen Prozess in drei Phasen ausgehen kann: ZunĂ€chst wurden die BĂŒcher I und II verfasst, dann kam III als Nachtrag dazu, anschließend IV und V als ErgĂ€nzung und Handreichung, die Artemidors gleichnamigem Sohn gewidmet waren. WĂ€hrend in I und II die Traumsymbole, angefangen bei der Geburt des Menschen, nicht alphabetisch oder mit den Göttern beginnend, sondern thematisch systematisiert abgehandelt werden, erfolgen die NachtrĂ€ge und ErgĂ€nzungen loser Abfolge. Dies erschwert den Gebrauch des Werkes nicht unerheblich, aber offenkundig hat Artemidor diese BĂŒcher als notwendig erachtet, nicht zuletzt, um auf Kritik reagieren zu können. Wie man sich die Verbreitung der ersten BĂŒcher vorzustellen hat – Lesungen durch den Autor selbst, Versendung von Manuskripten an einen ausgewĂ€hlten Leserkreis, oder doch nur ein rhetorisches Stilmittel des Autors? – lĂ€sst sich kaum entscheiden (Weber 2020).
+
Die ''Oneirokritika'' bestehen aus fĂŒnf BĂŒchern und enthalten neben theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Traumarten und zur Auslegungsmethodik auch einen umfangreichen Katalog mit Traumsymbolen und deren Deutung samt BegrĂŒndung, außerdem eine Zusammenstellung von 95 Beispielen, bei denen sich Artemidors Deutung erfĂŒllt haben soll. Die ersten drei BĂŒcher sind einem Cassius Maximus gewidmet, hinter dem man den Rhetor und Philosophen Maximos von Tyros vermutet (PĂ©rez-Jean 2012, 64-66). FĂŒr die Abfassung kann man von einem lĂ€ngeren redaktionellen Prozess in drei Phasen ausgehen: ZunĂ€chst wurden die BĂŒcher I und II verfasst, dann kam III als Nachtrag dazu, anschließend IV und V als ErgĂ€nzung und Handreichung, die Artemidors gleichnamigem Sohn gewidmet waren.  
  
−
==Traumtheorie==
+
WĂ€hrend in I und II die Traumsymbole, angefangen bei der Geburt des Menschen, nicht alphabetisch oder mit den Göttern beginnend, sondern thematisch systematisiert abgehandelt werden, erfolgen die NachtrĂ€ge und ErgĂ€nzungen in loser Abfolge. Dies erschwert den Gebrauch des Werkes erheblich; aber offenkundig hat Artemidor diese BĂŒcher als notwendig erachtet, nicht zuletzt, um auf Kritik reagieren zu können. Wie man sich die Verbreitung der ersten BĂŒcher vorzustellen hat – Lesungen durch den Autoren selbst, Versendung von Manuskripten an einen ausgewĂ€hlten Leserkreis, oder doch nur ein rhetorisches Stilmittel des Autors? – lĂ€sst sich kaum entscheiden (Weber 2020).
−
Artemidor legt an mehreren Stellen seiner ''Oneirokritika,'' nicht nur in den Proömien der BĂŒcher I und IV, Überlegungen zur Traumtheorie vor. Dabei grenzt er sich von VorgĂ€ngern (zu ihnen Vinagre Lobo 2011) und Zeitgenossen ab und macht sein Vorgehen transparent. Seiner Ansicht nach sind fĂŒr die Deutung allein die symbolisch verschlĂŒsselten ''oneiroi'' zu gebrauchen, und ihnen auch nur die allegorisch-verschlĂŒsselten: Ihnen allein wird ein prognostischer Wert zugebilligt bzw. Artemidors Ziel bestand darin, die Bedeutung eines Traums fĂŒr das zukĂŒnftige Leben des TrĂ€umenden zu ergrĂŒnden. Die theorematischen ''oneiroi'' hingegen bedĂŒrfen, weil sie unverschlĂŒsselt sind und sich „Traumbild und RealitĂ€t völlig entsprechen“ (Artem. 1,2) nicht der Deutung; den ''enhypnia,'' die sich als ‚Tagesreste‘ definieren lassen, kĂ€me keine Signifikanz zu, weshalb sie auch nicht gedeutet werden dĂŒrfen. Damit stellt sich Artemidor explizit gegen die Deutbarkeit von TrĂ€umen, die sich von der menschlichen Seele angeregten physiologischen VorgĂ€ngen verdanken und die zu diagnostischen Zwecken in der antiken Medizin verwendet wurden (Walde 2013). Außerdem schloss Artemidor ''chrematismoi,'' gemeint sind direkte Mitteilungen der Götter, ''horamata'' als Abbilder zukĂŒnftigen Geschehens und ''phantasmata,'' Illusionen oder Trugbilder, kategorisch von der Deutung aus.
 
  
  
−
Woher die TrĂ€ume kommen, die Artemidor fĂŒr deutungswĂŒrdig hĂ€lt, bleibt merkwĂŒrdig opak: Zwar wird auf die mit Homer beginnende literarische Tradition verwiesen, dass Zeus der Urheber sei, aber Artemidor hĂ€lt sich bedeckt und vermeidet eine klare Stellungnahme (Artem. 1,6). Er entwickelt vielmehr eine FĂŒlle an Kategorisierungen, die bei der Deutung zu berĂŒcksichtigen sind und zitiert Experten, denen zufolge alles „glĂŒckverheißend“ zu deuten ist, „was im Einklang mit Natur, Gesetz, Sitte, Kunst, Namen und Zeit getrĂ€umt wird“ (1,3); daraus ergibt sich fĂŒr ihn die Notwendigkeit, die individuelle Situation des TrĂ€umenden und die kollektiven Gewohnheiten von dessen Umfeld in den Blick zu nehmen (1,8).
+
==Traumtheorie==
 +
Artemidor legt an mehreren Stellen seiner ''Oneirokritika'', nicht nur in den Proömien der BĂŒcher I und IV, Überlegungen zur Traumtheorie vor. Dabei grenzt er sich von VorgĂ€ngern (zu ihnen: Vinagre Lobo 2011) und Zeitgenossen ab und macht sein Vorgehen transparent. Seiner Ansicht nach sind fĂŒr die Deutung allein die symbolisch verschlĂŒsselten ''oneiroi'' zu gebrauchen, und bei ihnen auch nur die allegorisch-verschlĂŒsselten: Ihnen allein wird ein prognostischer Wert zugebilligt, und Artemidors Ziel bestand ja darin, die Bedeutung eines Traums fĂŒr das zukĂŒnftige Leben des TrĂ€umenden zu ergrĂŒnden. Die theorematischen ''oneiroi'' hingegen bedĂŒrfen, weil sie unverschlĂŒsselt sind und sich „Traumbild und RealitĂ€t völlig entsprechen“ (Artem. 1,2) nicht der Deutung; den ''enhypnia'', die sich als ‚Tagesreste‘ definieren lassen, kommt keine Signifikanz zu, weshalb sie auch nicht gedeutet werden dĂŒrfen. Damit stellt sich Artemidor explizit gegen die Deutbarkeit von TrĂ€umen, die sich von der menschlichen Seele angeregten physiologischen VorgĂ€ngen verdanken und die zu diagnostischen Zwecken in der antiken Medizin verwendet wurden (Walde 2013). Außerdem schließt Artemidor ''chrematismoi'' (gemeint sind direkte Mitteilungen der Götter), ''horamata'' (als Abbilder zukĂŒnftigen Geschehens) und ''phantasmata'' (Illusionen oder Trugbilder) kategorisch von der Deutung aus.
  
−
==Deutepraxis==
+
Woher die TrĂ€ume kommen, die Artemidor fĂŒr deutungswĂŒrdig hĂ€lt, bleibt merkwĂŒrdig opak: Zwar wird auf die mit Homer beginnende literarische Tradition verwiesen, dass Zeus der Urheber sei, aber Artemidor hĂ€lt sich bedeckt und vermeidet eine klare Stellungnahme (Artem. 1,6). Er entwickelt vielmehr eine FĂŒlle an Kategorisierungen, die bei der Deutung zu berĂŒcksichtigen sind, und zitiert Experten, denen zufolge alles „glĂŒckverheißend“ zu deuten ist, „was im Einklang mit Natur, Gesetz, Sitte, Kunst, Namen und Zeit getrĂ€umt wird“ (1,3); daraus ergibt sich fĂŒr ihn die Notwendigkeit, die individuelle Situation des TrĂ€umenden und die kollektiven Gewohnheiten von dessen Umfeld in den Blick zu nehmen (1,8).
−
Die Erfassung dieser Aspekte hatte in einer Art AnamnesegesprĂ€ch zu erfolgen (Artem. 1,9,18,16 19,4, dazu Walde 2001, 200-222), bei dem sich der Deuter möglichst umfassend ĂŒber den TrĂ€umenden, seine LebensumstĂ€nde und -gewohnheiten sowie kulturellen PrĂ€gungen zu informieren versuchte und ebenso die körperliche Verfassung, in der sich der TrĂ€umende zur Zeit des Traums befand, erhoben wurde. Denn nur so konnte die Interpretation des Traumes erfolgreich sein bzw. war die Anwendung der GrundsĂ€tze zielfĂŒhrend, denn ein Traum fĂŒr die gleiche Person konnte in verschiedenen Situationen jeweils etwas anderes bedeuten, wie auch derselbe Traum fĂŒr verschiedene Personen unterschiedlich zu deuten war.
 
  
  
−
Die Kunst des Deuters, die auf großem Allgemeinwissen (Harris-McCoy 2013), einer ausgeprĂ€gten Beobachtungsgabe und langjĂ€hriger Erfahrung basierte, zielte zunĂ€chst darauf ab, die Traumart zu identifizieren, um dann die Methodik zur Anwendung zu bringen. Artemidor ging dabei von der grundsĂ€tzlichen Übertragbarkeit von GesetzmĂ€ĂŸigkeiten aus der Wachwelt in die Traumwelt aus, er deutete aber mitunter auch nach dem Prinzip des Gegenteils (Artem. 2,25,145,11f. und 4,2,245,2-9). Dann zerlegte der Deuter die ihm berichtete Traumsequenz in ihre Hauptbestandteile, die einzeln zu deuten waren und bei denen ein leitender Aspekt herausgefiltert wurde. Damit sollte es gelingen, die Unsicherheit, die aus der Bedeutungsvielfalt der Bilder herrĂŒhren konnte, durch KohĂ€renz einzudĂ€mmen.
+
==Deutungspraxis==
 +
Die Erfassung dieser Aspekte hatte in einer Art AnamnesegesprĂ€ch zu erfolgen (Artem. 1,9,18,16 19,4; dazu Walde 2001, 200-222), bei dem sich der Deuter möglichst umfassend ĂŒber den TrĂ€umenden, seine LebensumstĂ€nde und -gewohnheiten sowie kulturellen PrĂ€gungen zu informieren versuchte und auch die körperliche Verfassung, in der sich der TrĂ€umende zur Zeit des Traums befand, erhoben wurde. Denn nur so konnte die Interpretation des Traumes erfolgreich sein, denn ein Traum konnte fĂŒr dieselbe Person in verschiedenen Situationen jeweils etwas anderes bedeuten, wie auch derselbe Traum fĂŒr verschiedene Personen unterschiedlich zu deuten war.
  
 +
Die Kunst des Deuters, die auf großem Allgemeinwissen (Harris-McCoy 2013), einer ausgeprĂ€gten Beobachtungsgabe und langjĂ€hriger Erfahrung basierte, zielte zunĂ€chst darauf ab, die Traumart zu identifizieren, um dann die Methodik zur Anwendung zu bringen. Artemidor ging dabei von der grundsĂ€tzlichen Übertragbarkeit von GesetzmĂ€ĂŸigkeiten aus der Wachwelt in die Traumwelt aus; er deutete aber mitunter auch nach dem Prinzip des Gegenteils (Artem. 2,25,145,11f. und 4,2,245,2-9). Dann zerlegte er die ihm berichtete Traumsequenz in ihre Hauptbestandteile, die einzeln zu deuten waren und bei denen ein leitender Aspekt herausgefiltert wurde. Damit sollte es gelingen, die Unsicherheit, die aus der Bedeutungsvielfalt der Bilder herrĂŒhren konnte, durch KohĂ€renz einzudĂ€mmen.
  
−
Die entscheidende Rolle bei der Anwendung der Deutungsregeln spielte der Sozialstatus des TrĂ€umenden: Die BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung, die fest im gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsschatz verankert waren, wurden nach MĂ€nnern und Frauen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Sklaven und Freien etc. differenziert und mussten den Klienten plausibel erscheinen. Ein Beispiel (4,67), aus dem hervorgeht, dass auch Frauen zu Artemidors Klientel gehörten, und das Artemidor als „Übungsbeispiel“ bezeichnet, vermag dies zu verdeutlichen:
+
Die entscheidende Rolle bei der Anwendung der Deutungsregeln spielte der Sozialstatus des TrĂ€umenden: Die BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung, die fest im gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsschatz verankert waren, wurden nach MĂ€nnern und Frauen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Sklaven und Freien etc. differenziert und mussten den Klienten plausibel erscheinen. Ein Beispiel (4,67), das Artemidor als „Übungsbeispiel“ bezeichnet und aus dem hervorgeht, dass auch Frauen zu Artemidors Klientel gehörten, vermag dies zu verdeutlichen:
  
 +
: Eine schwangere Frau trĂ€umte, sie habe eine Schlange [in der Übersetzung: ein Drache, GW] geboren. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde ein sehr guter und berĂŒhmter Redner; denn eine Schlange hat wie ein Redner eine zweischneidige Zunge. Freilich war das eine reiche Frau, und der Reichtum ist ein Hilfsmittel der Bildung. Eine andere hatte dasselbe Traumgesicht, und der von ihr geborene Sohn wurde Oberpriester; denn heilig ist die Schlange und heilig auch der in die Mysterien Eingeweihte. Diesmal war die TrĂ€umende die Gattin eines Priesters. Eine dritte sah ebenfalls dieses Traumgesicht, der von ihr geborene Sohn wurde ein hervorragender Weissager, denn die Schlange ist dem Apollon, dem besten aller Weissager, heilig. Diese Frau war die Tochter eines Weissagers. Ebenso sah eine vierte dieses Traumgesicht. Ihr Sohn wurde ein zĂŒgelloser und frecher Mensch, der viele Frauen in der Stadt verfĂŒhrte; denn eine Schlange schleicht durch die engsten Spalten und versucht, von Beobachtern verborgen zu bleiben. Auch die Mutter war schon ein ziemlich liederliches Weib, das es gerne mit den MĂ€nnern trieb. Der Sohn einer fĂŒnften, die dasselbe Traumgesicht sah, wurde bei einem RaubĂŒberfall ergriffen und geköpft; denn auch die Schlange wird, wenn sie gefangen wird, auf den Kopf geschlagen und stirbt so. Es war aber auch die Mutter nicht gerade vorbildlich. Der Sohn einer sechsten, die dasselbe Traumgesicht hatte, wurde ein flĂŒchtiger Sklave; denn die Schlange geht nicht in gerader Richtung. Die Mutter aber war eine Sklavin. Der Sohn einer siebenten, die dasselbe Traumgesicht schaute, wurde gelĂ€hmt; die Schlange nĂ€mlich benutzt den ganzen Körper zum VorwĂ€rtskommen wie auch gelĂ€hmte Menschen. Als die Mutter dieses Traumgesicht hatte, war sie krank. Folgerichtig konnte ein wĂ€hrend der Krankheit empfangenes und ausgetragenes Kind nicht einen normalen Gang behalten.
  
−
„Eine schwangere Frau trĂ€umte, sie habe eine Schlange [in der Übersetzung: ein Drache, GW] geboren. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde ein sehr guter und berĂŒhmter Redner; denn eine Schlange hat wie ein Redner eine zweischneidige Zunge. Freilich war das eine reiche Frau, und der Reichtum ist ein Hilfsmittel der Bildung. Eine andere hatte dasselbe Traumgesicht, und der von ihr geborene Sohn wurde Oberpriester; denn heilig ist die Schlange und heilig auch der in die Mysterien Eingeweihte. Diesmal war die TrĂ€umende die Gattin eines Priesters. Eine dritte sah ebenfalls dieses Traumgesicht, der von ihr geborene Sohn wurde ein hervorragender Weissager, denn die Schlange ist dem Apollon, dem besten aller Weissager, heilig. Diese Frau war die Tochter eines Weissagers. Ebenso sah eine vierte dieses Traumgesicht. Ihr Sohn wurde ein zĂŒgelloser und frecher Mensch, der viele Frauen in der Stadt verfĂŒhrte; denn eine Schlange schleicht durch die engsten Spalten und versucht, von Beobachtern verborgen zu bleiben. Auch die Mutter war schon ein ziemlich liederliches Weib, das es gerne mit den MĂ€nnern trieb. Der Sohn einer fĂŒnften, die dasselbe Traumgesicht sah, wurde bei einem RaubĂŒberfall ergriffen und geköpft; denn auch die Schlange wird, wenn sie gefangen wird, auf den Kopf geschlagen und stirbt so. Es war aber auch die Mutter nicht gerade vorbildlich. Der Sohn einer sechsten, die dasselbe Traumgesicht hatte, wurde ein flĂŒchtiger Sklave; denn die Schlange geht nicht in gerader Richtung. Die Mutter aber war eine Sklavin. Der Sohn einer siebenten, die dasselbe Traumgesicht schaute, wurde gelĂ€hmt; die Schlange nĂ€mlich benutzt den ganzen Körper zum VorwĂ€rtskommen wie auch gelĂ€hmte Menschen. Als die Mutter dieses Traumgesicht hatte, war sie krank. Folgerichtig konnte ein wĂ€hrend der Krankheit empfangenes und ausgetragenes Kind nicht einen normalen Gang behalten.“
+
Artemidors AusfĂŒhrungen zeigen, wie Verhaltensweisen und Eigenschaften von Schlangen den Ausgangspunkt fĂŒr bestimmte Deutungen abgaben, wenngleich schon allein aus UmfanggrĂŒnden Artemidor nicht fĂŒr jedes Traumsymbol bezĂŒglich der möglichen TrĂ€umenden VollstĂ€ndigkeit erreichen konnte. Sonst hĂ€tte nĂ€mlich die EnzyklopĂ€die von 1.400 Traumsymbolen mit fast 3.000 Deutungen jedes handhabbare Maß gesprengt. Nach welchen Kriterien die Auswahl im Einzelnen erfolgte – bereits in den Quellen vorgefundenes Material, systematische Zusammenstellung, exemplarische Erfindung? –, entzieht sich letztlich unserer Kenntnis.
  
−
 
−
Artemidors AusfĂŒhrungen zeigen, wie Verhaltensweisen und Eigenschaften von Schlangen den Ausgangspunkt fĂŒr bestimmte Deutungen abgaben, wenngleich schon allein aus UmfanggrĂŒnden Artemidor nicht fĂŒr jedes Traumsymbol bezĂŒglich der möglichen TrĂ€umenden VollstĂ€ndigkeit erreichen konnte. Sonst hĂ€tte nĂ€mlich die EnzyklopĂ€die von 1.400 Traumsymbolen mit fast 3.000 Deutungen jedes handhabbare Maß gesprengt. Nach welchen Kriterien die Auswahl im Einzelnen erfolgte – bereits in den Quellen vorgefundenes Material, systematische Zusammenstellung, exemplarische Erfindung? –, entzieht sich letztlich unserer Kenntnis.
 
  
 
==Forschung==
 
==Forschung==
−
Gerade die BegrĂŒndungen, die mitunter banal oder weit hergeholt erscheinen, sind fĂŒr (sozial-)historische Fragestellungen ungemein wertvoll: Sie bieten nĂ€mlich reichhaltiges Material fĂŒr Einsichten in antike MentalitĂ€ten und in zentrale Bereiche des Alltagslebens, etwa in Ängste und Hoffnungen gesellschaftlicher Gruppen, zumal solcher, die in anderen Quellen nicht dergestalt fassbar sind (Laukamm 1930; Hahn 1992). Dies gilt insbesondere fĂŒr die Passagen ĂŒber verschiedene Formen der SexualitĂ€t (Artem. 1,78-80, dazu Foucault 41995, 7-51; Meyer-Zwiffelhoffer 1995, 166-177), die in frĂŒheren Artemidor-Übersetzungen ĂŒbergangen wurden, und ĂŒber die Gladiatur (2,32, dazu Harris-McCoy 2012, 485f.). Gerade in diesen Kontexten ist die moderne Forschung in den letzten Jahren erheblich weitergekommen (Perspektiven bei Weber 2017). So wurden etliche Themenbereiche neu erschlossen, etwa die Rechtstraditionen (MĂ©nard 2015), die Tierwelt (Monbrun 2015), die ErnĂ€hrung (Dalby 2014), Gottheiten und Mythen (Maffre 2012; Bilbija/Flinterman 2015, Auger 2015) und Gender-Fragen (MacAlister 1992; Walde 2014), aber auch Emotionen (Weber 2015b), Jenseitsvorstellungen (Weber 2012) sowie Gesundheit und Krankheit (Walde 2013; Weber 2019) Es ist nicht ĂŒberraschend, dass das Material von Artemidor mit methodischen Zugriffsweisen aus Psychologie und Psychoanalyse zusammengebracht wurden (Price 1986/2004).
+
Gerade die BegrĂŒndungen, die mitunter banal oder weit hergeholt erscheinen, sind fĂŒr (sozial-)historische Fragestellungen ungemein wertvoll: Sie bieten nĂ€mlich reichhaltiges Material fĂŒr Einsichten in antike MentalitĂ€ten und in zentrale Bereiche des Alltagslebens, etwa in Ängste und Hoffnungen gesellschaftlicher Gruppen, zumal solcher, die in anderen Quellen nicht dergestalt fassbar sind (Laukamm 1930; Hahn 1992). Dies gilt insbesondere fĂŒr die Passagen ĂŒber verschiedene Formen der SexualitĂ€t (Artem. 1,78-80; dazu Foucault 1989, 7-51; Meyer-Zwiffelhoffer 1995, 166-177), die in frĂŒheren Artemidor-Übersetzungen ĂŒbergangen wurden, und ĂŒber die Gladiatur (2,32; dazu Harris-McCoy 2012, 485 f.). Gerade bei diesen Kontexten ist die moderne Forschung in den letzten Jahren erheblich weitergekommen (Perspektiven bei Weber 2017). So wurden etliche Themenbereiche neu erschlossen, etwa die Rechtstraditionen (MĂ©nard 2015), die Tierwelt (Monbrun 2015), die ErnĂ€hrung (Dalby 2014), Gottheiten und Mythen (Maffre 2012; Bilbija/Flinterman 2015; Auger 2015) und Gender-Fragen (MacAlister 1992; Walde 2014), aber auch Emotionen (Weber 2015b), Jenseitsvorstellungen (Weber 2012) sowie Gesundheit und Krankheit (Walde 2013; Weber 2019) Es ist nicht ĂŒberraschend, dass das Material von Artemidor mit methodischen Zugriffsweisen aus Psychologie und Psychoanalyse zusammengebracht wurden (Price 1986/2004).
−
 
 
  
 
Allerdings ermöglichen die ''Oneirokritika'' keinen direkten Zugang zum realen Leben der antiken Zeitgenossen, da viele Deutungen ohne jeglichen Kontext gegeben werden bzw. assoziativ erscheinen. Dies gilt auch fĂŒr Versuche, TrĂ€ume, die etwa in historiographischen oder biographischen Quellen ĂŒberliefert sind, mit Hilfe der ''Oneirokritika'' zu deuten (Weber 2000). Auch wenn ein solches Unterfangen in EinzelfĂ€llen gelingen mag und sich zumindest eine Vorstellung von möglichen Symbolfeldern erreichen lĂ€sst, kann eine Anamnese im beschriebenen und erforderlichen Sinne nicht gelingen, weil in aller Regel die fĂŒr die Deutung notwendigen Informationen fehlen, ein anderer Sozialstatus vorliegt oder bestimmte Symbolkonstellationen bei Artemidor nicht vorhanden sind (NĂ€f 2010).
 
Allerdings ermöglichen die ''Oneirokritika'' keinen direkten Zugang zum realen Leben der antiken Zeitgenossen, da viele Deutungen ohne jeglichen Kontext gegeben werden bzw. assoziativ erscheinen. Dies gilt auch fĂŒr Versuche, TrĂ€ume, die etwa in historiographischen oder biographischen Quellen ĂŒberliefert sind, mit Hilfe der ''Oneirokritika'' zu deuten (Weber 2000). Auch wenn ein solches Unterfangen in EinzelfĂ€llen gelingen mag und sich zumindest eine Vorstellung von möglichen Symbolfeldern erreichen lĂ€sst, kann eine Anamnese im beschriebenen und erforderlichen Sinne nicht gelingen, weil in aller Regel die fĂŒr die Deutung notwendigen Informationen fehlen, ein anderer Sozialstatus vorliegt oder bestimmte Symbolkonstellationen bei Artemidor nicht vorhanden sind (NĂ€f 2010).
  
 +
Steter Materialzuwachs lĂ€sst sich bei TraumdeutungsbĂŒchern in hieroglyphischer Schrift und vor allem demotischer Sprache feststellen. Auch wenn Artemidor derartige Texte und die verwendeten Deutungsmethoden nicht kannte (Prada 2015) und bei ihm Ägypten weder topographisch noch im Bereich der Religion (mit Ausnahme der Gottheiten Isis, Sarapis und Anubis) vertreten ist, ergibt ein Vergleich durchaus Sinn, um einerseits die jeweiligen Spezifika der Deutung, andererseits die Orts- und Zeitgebundenheit der Symbolwelt stĂ€rker zu profilieren. Dies gilt auch fĂŒr die verschiedenen TraumdeutungsbĂŒcher aus byzantinischer Zeit, die weitgehend auf BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung verzichten, gegenĂŒber Artemidor geradezu ‚unterkomplex‘ erscheinen und ihn nur bedingt rezipiert haben (Weber 2020).
  
−
Steten Materialzuwachs lĂ€sst sich freilich bei TraumdeutungsbĂŒchern in hieroglyphischer Schrift und vor allem demotischer Sprache feststellen. Auch wenn Artemidor derartige Texte und die verwendeten Deutemethoden nicht kannte (Prada 2015) und bei ihm Ägypten weder topographisch noch im Bereich der Religion (mit Ausnahme der Gottheiten Isis, Sarapis und Anubis) vertreten ist, macht ein Vergleich durchaus Sinn, um einerseits die jeweiligen Spezifika der Deutung und andererseits die Orts- und Zeitgebundenheit der Symbolwelt stĂ€rker zu profilieren. Dies gilt auch fĂŒr die verschiedenen TraumdeutungsbĂŒcher aus byzantinischer Zeit, die weitgehend auf BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung verzichten, gegenĂŒber Artemidor geradezu ‚unterkomplex‘ erscheinen und ihn nur bedingt rezipiert haben (Weber 2020).
 
  
 
==Leserschaft==
 
==Leserschaft==
−
Ob man sich fĂŒr die ''Oneirokritika'' eine externe Leserschaft vorstellen kann und wie diese beschaffen gewesen sein könnte, wird immer wieder diskutiert, haben doch Autor und Werk in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Hierzu lassen sich einige Indizien zusammentragen: Aus dem Duktus der ''Oneirokritika'' wird deutlich, dass Artemidor durchaus ĂŒber rhetorische Strategien bei der PrĂ€sentation seines Werkes verfĂŒgte, somit auch eine entsprechende Ausbildung erhalten haben musste (Harris-McCoy 2015). Dies setzt freilich eine (gebildete) Leserschaft voraus (Bowersock 1994, 77-98), wofĂŒr die komplexe Syntax und das reiche Vokabular in Anspruch genommen werden (Bowersock 2004). Man kann aber auch von einem zweifachen ‚Publikum‘ ausgehen (Weber 1999, 222-227): Einerseits die Klienten aller Schichten, deren TrĂ€ume Artemidor und sein Sohn, in dessen Ermessen die dosierte Weitergabe des Buches gestellt wurde (Artem. 4,prooem.,237,26-238,6; 5,prooem.,301,14f.), mit Hilfe des Buches konkret deuteten und die somit in mĂŒndlicher Form ausgewĂ€hlte Inhalte vermittelt bekamen; andererseits Leser, die sich wiederum aus Fachleuten, ebenso interessierten, gebildeten Laien zusammensetzten. Letztere konnten sich selbst an einer Deutung versuchen und aus dem Besitz des Werkes auch Prestige beziehen. Der Sprachgebrauch und die Raumvorstellungen innerhalb des Werkes verweisen jedenfalls auf eine starke lokale Verwurzelung im westlichen Kleinasien (Bowersock 2004, 60-62; Weber 2014).
+
Ob man sich fĂŒr die ''Oneirokritika'' eine externe Leserschaft vorstellen kann und wie diese beschaffen gewesen sein könnte, wird immer wieder diskutiert - haben doch Autor und Werk in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Hierzu lassen sich einige Indizien zusammentragen: Aus dem Duktus der ''Oneirokritika'' wird deutlich, dass Artemidor durchaus ĂŒber rhetorische Strategien bei der PrĂ€sentation seines Werkes verfĂŒgte, somit auch eine entsprechende Ausbildung erhalten haben musste (Harris-McCoy 2015). Dies setzt freilich eine (gebildete) Leserschaft voraus (Bowersock 1994, 77-98), wofĂŒr die komplexe Syntax und das reiche Vokabular in Anspruch genommen werden (Bowersock 2004).  
 +
 
 +
Man kann aber auch von einem zweifachen ‚Publikum‘ ausgehen (Weber 1999, 222-227): einerseits die Klienten aller Schichten, deren TrĂ€ume Artemidor und sein Sohn, in dessen Ermessen die dosierte Weitergabe des Buches gestellt wurde (Artem. 4,prooem.,237,26-238,6; 5,prooem.,301,14f.), mit Hilfe des Buches konkret deuteten und die somit in mĂŒndlicher Form ausgewĂ€hlte Inhalte vermittelt bekamen; andererseits Leser, die sich wiederum aus Fachleuten und interessierten, gebildeten Laien zusammensetzten. Letztere konnten sich selbst an einer Deutung versuchen und aus dem Besitz des Werkes auch Prestige beziehen. Der Sprachgebrauch und die Raumvorstellungen innerhalb des Werkes verweisen jedenfalls auf eine starke lokale Verwurzelung im westlichen Kleinasien (Bowersock 2004, 60-62; Weber 2014).
  
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Gregor Weber]]</div>
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Gregor Weber]]</div>
Zeile 54: Zeile 55:
 
* Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Hg. und ĂŒbers. von Karl Brackertz. ZĂŒrich, MĂŒnchen: dtv 1979.
 
* Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Hg. und ĂŒbers. von Karl Brackertz. ZĂŒrich, MĂŒnchen: dtv 1979.
 
* Artemidor, Traumkunst. Hg. und ĂŒbers. von Friedrich S. Krauss, neubearb. u. mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von Gerhard Löwe. Leipzig: Reclam 1991.
 
* Artemidor, Traumkunst. Hg. und ĂŒbers. von Friedrich S. Krauss, neubearb. u. mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von Gerhard Löwe. Leipzig: Reclam 1991.
−
* Artemidorus, The Interpretation of Dreams. Hg. und ĂŒbers. von Martin Hammond und Peter Thonemann:Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck).
+
* Artemidorus, The Interpretation of Dreams. Hg. und ĂŒbers. von Martin Hammond und Peter Thonemann:Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck).  
−
*
 
  
 
===Kommentar===
 
===Kommentar===
Zeile 115: Zeile 115:
  
 
==Kategorien==
 
==Kategorien==
−
<categorytree mode=parents>Traumbuch</categorytree>
 
−
 
−
 
−
 
  
 
[[Kategorie:Artemidor von Daldis]]
 
[[Kategorie:Artemidor von Daldis]]
−
[[Kategorie:Artemidorus Daldianus]]
 
 
[[Kategorie:Traumbuch]]
 
[[Kategorie:Traumbuch]]
 
[[Kategorie:2. Jahrhundert]]
 
[[Kategorie:2. Jahrhundert]]

Aktuelle Version vom 4. MĂ€rz 2022, 16:24 Uhr

Autor

Artemidor, der Autor des einzigen aus der griechisch-römischen Antike erhaltenen Traumdeutungsbuches (ᜈΜΔÎčÏÎżÎșρÎčτÎčÎșÎŹ, Oneirokritika), gehört zeitlich vermutlich an das Ende des 2. bzw. an den Beginn des 3. Jahrhundert, d.h. in die Zeit der römischen Kaiser Commodus und Septimius Severus; die frĂŒhere Forschung erachtete noch eine Datierung in die Mitte des 2. Jhs. als plausibel (Chandezon 2014, 12-17; Thonemann 2019, Kap. 2). Der Grund fĂŒr diese Unsicherheit liegt darin, dass ĂŒber Artemidor so gut wie nichts bekannt ist und fast alle Informationen seinem Werk zu entnehmen sind. Nach eigenen Angaben stammt er zwar aus der Metropole Ephesos in Kleinasien, identifizierte sich aber mit dem Geburtsort seiner Mutter, dem kleinen lydischen LandstĂ€dtchen Daldis (Weber 2015a, 11 f.), um dessen Ruhm durch die Prominenz seiner Person und seines Werkes zu mehren (Artem. 3,66,235,13-23, dazu Chandezon 2012, 17-19). Immerhin hatte der Gott Apollon, der in Daldis verehrt wurde, Artemidor nach eigener Aussage zur Abfassung der Oneirokritika bewogen.

Artemidor weist darauf hin, dass er jedes verfĂŒgbare Buch ĂŒber Traumdeutung erworben habe; außerdem sei er fĂŒr seine Recherchen nicht zuletzt auch auf Festen und JahrmĂ€rkten gewesen und nach Griechenland, Kleinasien, Rom und zu den Inseln in der ÄgĂ€is gereist (Artem. 1,prooem.,2,11-20 und 5,prooem.,301,10-15; dazu Harris-McCoy 2012, 413 f.). Dies war ihm freilich nur möglich, weil er dafĂŒr Zeit aufzuwenden vermochte und wohlhabend genug war, nicht arbeiten zu mĂŒssen und sich dies alles auch leisten zu können – nicht zuletzt seine Privatbibliothek, in der sich zweifellos umfangreiche Informationen fĂŒr die Deutungen befanden. Artemidor als Mitglied der lokalen Oberschicht dĂŒrfte seinen Lebensmittelpunkt in der römischen Provinz Asia gehabt haben (Weber 2014), wenngleich sich keine expliziten Hinweise auf eine politische BetĂ€tigung, etwa in Ephesos oder Daldis, finden lassen. Denn eine BronzemĂŒnze aus Daldis aus der Zeit des Caesars Geta (197-209 n. Chr.) mit einem AmtstrĂ€ger namens Artemidor auf der RĂŒckseite muss nicht zwingend auf unseren Autor zu beziehen sein (Weber 2015a, 11-13 mit Abb. 3a.b). In jedem Fall aber gehört Artemidor in eine Zeit, die in der Literaturgeschichte als Zweite Sophistik bezeichnet wird und der neben Galen auch Aelius Aristides, Lukian und Philostrat angehören, d.h. in eine Zeit, in der ein starkes Interesse an TrĂ€umen und ihrer Deutung zu verzeichnen ist. Ob er selbst freilich hier zuzuordnen ist, wird intensiv diskutiert, denn es werden in jĂŒngster Zeit gewichtige Argumente angefĂŒhrt (Thonemann 2019, Kap. 2 und 8), denen zufolge sich Artemidor in Stil, Rhetorik und Sprache doch auf einem anderen Niveau als die genannten Autoren bewegt.

Neben den Oneirokritika werden Artemidor im byzantinischen Suda-Lexikon (α 4025) noch weitere Werke – alle aus dem Bereich der Divination, nĂ€mlich ĂŒber Vogelschau (Oionoskopika) und ĂŒber Handlesen (Cheiroskopika), beide nicht erhalten – zugeschrieben. In den Oneirokritika selbst (Artem. 1,1,3,10 und 3,66,235,15 f.) verweist Artemidor auf weitere eigene Werke, ohne sie jedoch konkret zu benennen. Dass er ein kritisches VerhĂ€ltnis zur divinatorischen Konkurrenz pflegt, verwundert nicht (du Bouchet 2016, 33-37).


Werk

Die Oneirokritika bestehen aus fĂŒnf BĂŒchern und enthalten neben theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Traumarten und zur Auslegungsmethodik auch einen umfangreichen Katalog mit Traumsymbolen und deren Deutung samt BegrĂŒndung, außerdem eine Zusammenstellung von 95 Beispielen, bei denen sich Artemidors Deutung erfĂŒllt haben soll. Die ersten drei BĂŒcher sind einem Cassius Maximus gewidmet, hinter dem man den Rhetor und Philosophen Maximos von Tyros vermutet (PĂ©rez-Jean 2012, 64-66). FĂŒr die Abfassung kann man von einem lĂ€ngeren redaktionellen Prozess in drei Phasen ausgehen: ZunĂ€chst wurden die BĂŒcher I und II verfasst, dann kam III als Nachtrag dazu, anschließend IV und V als ErgĂ€nzung und Handreichung, die Artemidors gleichnamigem Sohn gewidmet waren.

WĂ€hrend in I und II die Traumsymbole, angefangen bei der Geburt des Menschen, nicht alphabetisch oder mit den Göttern beginnend, sondern thematisch systematisiert abgehandelt werden, erfolgen die NachtrĂ€ge und ErgĂ€nzungen in loser Abfolge. Dies erschwert den Gebrauch des Werkes erheblich; aber offenkundig hat Artemidor diese BĂŒcher als notwendig erachtet, nicht zuletzt, um auf Kritik reagieren zu können. Wie man sich die Verbreitung der ersten BĂŒcher vorzustellen hat – Lesungen durch den Autoren selbst, Versendung von Manuskripten an einen ausgewĂ€hlten Leserkreis, oder doch nur ein rhetorisches Stilmittel des Autors? – lĂ€sst sich kaum entscheiden (Weber 2020).


Traumtheorie

Artemidor legt an mehreren Stellen seiner Oneirokritika, nicht nur in den Proömien der BĂŒcher I und IV, Überlegungen zur Traumtheorie vor. Dabei grenzt er sich von VorgĂ€ngern (zu ihnen: Vinagre Lobo 2011) und Zeitgenossen ab und macht sein Vorgehen transparent. Seiner Ansicht nach sind fĂŒr die Deutung allein die symbolisch verschlĂŒsselten oneiroi zu gebrauchen, und bei ihnen auch nur die allegorisch-verschlĂŒsselten: Ihnen allein wird ein prognostischer Wert zugebilligt, und Artemidors Ziel bestand ja darin, die Bedeutung eines Traums fĂŒr das zukĂŒnftige Leben des TrĂ€umenden zu ergrĂŒnden. Die theorematischen oneiroi hingegen bedĂŒrfen, weil sie unverschlĂŒsselt sind und sich „Traumbild und RealitĂ€t völlig entsprechen“ (Artem. 1,2) nicht der Deutung; den enhypnia, die sich als ‚Tagesreste‘ definieren lassen, kommt keine Signifikanz zu, weshalb sie auch nicht gedeutet werden dĂŒrfen. Damit stellt sich Artemidor explizit gegen die Deutbarkeit von TrĂ€umen, die sich von der menschlichen Seele angeregten physiologischen VorgĂ€ngen verdanken und die zu diagnostischen Zwecken in der antiken Medizin verwendet wurden (Walde 2013). Außerdem schließt Artemidor chrematismoi (gemeint sind direkte Mitteilungen der Götter), horamata (als Abbilder zukĂŒnftigen Geschehens) und phantasmata (Illusionen oder Trugbilder) kategorisch von der Deutung aus.

Woher die TrĂ€ume kommen, die Artemidor fĂŒr deutungswĂŒrdig hĂ€lt, bleibt merkwĂŒrdig opak: Zwar wird auf die mit Homer beginnende literarische Tradition verwiesen, dass Zeus der Urheber sei, aber Artemidor hĂ€lt sich bedeckt und vermeidet eine klare Stellungnahme (Artem. 1,6). Er entwickelt vielmehr eine FĂŒlle an Kategorisierungen, die bei der Deutung zu berĂŒcksichtigen sind, und zitiert Experten, denen zufolge alles „glĂŒckverheißend“ zu deuten ist, „was im Einklang mit Natur, Gesetz, Sitte, Kunst, Namen und Zeit getrĂ€umt wird“ (1,3); daraus ergibt sich fĂŒr ihn die Notwendigkeit, die individuelle Situation des TrĂ€umenden und die kollektiven Gewohnheiten von dessen Umfeld in den Blick zu nehmen (1,8).


Deutungspraxis

Die Erfassung dieser Aspekte hatte in einer Art AnamnesegesprĂ€ch zu erfolgen (Artem. 1,9,18,16 19,4; dazu Walde 2001, 200-222), bei dem sich der Deuter möglichst umfassend ĂŒber den TrĂ€umenden, seine LebensumstĂ€nde und -gewohnheiten sowie kulturellen PrĂ€gungen zu informieren versuchte und auch die körperliche Verfassung, in der sich der TrĂ€umende zur Zeit des Traums befand, erhoben wurde. Denn nur so konnte die Interpretation des Traumes erfolgreich sein, denn ein Traum konnte fĂŒr dieselbe Person in verschiedenen Situationen jeweils etwas anderes bedeuten, wie auch derselbe Traum fĂŒr verschiedene Personen unterschiedlich zu deuten war.

Die Kunst des Deuters, die auf großem Allgemeinwissen (Harris-McCoy 2013), einer ausgeprĂ€gten Beobachtungsgabe und langjĂ€hriger Erfahrung basierte, zielte zunĂ€chst darauf ab, die Traumart zu identifizieren, um dann die Methodik zur Anwendung zu bringen. Artemidor ging dabei von der grundsĂ€tzlichen Übertragbarkeit von GesetzmĂ€ĂŸigkeiten aus der Wachwelt in die Traumwelt aus; er deutete aber mitunter auch nach dem Prinzip des Gegenteils (Artem. 2,25,145,11f. und 4,2,245,2-9). Dann zerlegte er die ihm berichtete Traumsequenz in ihre Hauptbestandteile, die einzeln zu deuten waren und bei denen ein leitender Aspekt herausgefiltert wurde. Damit sollte es gelingen, die Unsicherheit, die aus der Bedeutungsvielfalt der Bilder herrĂŒhren konnte, durch KohĂ€renz einzudĂ€mmen.

Die entscheidende Rolle bei der Anwendung der Deutungsregeln spielte der Sozialstatus des TrĂ€umenden: Die BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung, die fest im gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsschatz verankert waren, wurden nach MĂ€nnern und Frauen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Sklaven und Freien etc. differenziert und mussten den Klienten plausibel erscheinen. Ein Beispiel (4,67), das Artemidor als „Übungsbeispiel“ bezeichnet und aus dem hervorgeht, dass auch Frauen zu Artemidors Klientel gehörten, vermag dies zu verdeutlichen:

Eine schwangere Frau trĂ€umte, sie habe eine Schlange [in der Übersetzung: ein Drache, GW] geboren. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde ein sehr guter und berĂŒhmter Redner; denn eine Schlange hat wie ein Redner eine zweischneidige Zunge. Freilich war das eine reiche Frau, und der Reichtum ist ein Hilfsmittel der Bildung. Eine andere hatte dasselbe Traumgesicht, und der von ihr geborene Sohn wurde Oberpriester; denn heilig ist die Schlange und heilig auch der in die Mysterien Eingeweihte. Diesmal war die TrĂ€umende die Gattin eines Priesters. Eine dritte sah ebenfalls dieses Traumgesicht, der von ihr geborene Sohn wurde ein hervorragender Weissager, denn die Schlange ist dem Apollon, dem besten aller Weissager, heilig. Diese Frau war die Tochter eines Weissagers. Ebenso sah eine vierte dieses Traumgesicht. Ihr Sohn wurde ein zĂŒgelloser und frecher Mensch, der viele Frauen in der Stadt verfĂŒhrte; denn eine Schlange schleicht durch die engsten Spalten und versucht, von Beobachtern verborgen zu bleiben. Auch die Mutter war schon ein ziemlich liederliches Weib, das es gerne mit den MĂ€nnern trieb. Der Sohn einer fĂŒnften, die dasselbe Traumgesicht sah, wurde bei einem RaubĂŒberfall ergriffen und geköpft; denn auch die Schlange wird, wenn sie gefangen wird, auf den Kopf geschlagen und stirbt so. Es war aber auch die Mutter nicht gerade vorbildlich. Der Sohn einer sechsten, die dasselbe Traumgesicht hatte, wurde ein flĂŒchtiger Sklave; denn die Schlange geht nicht in gerader Richtung. Die Mutter aber war eine Sklavin. Der Sohn einer siebenten, die dasselbe Traumgesicht schaute, wurde gelĂ€hmt; die Schlange nĂ€mlich benutzt den ganzen Körper zum VorwĂ€rtskommen wie auch gelĂ€hmte Menschen. Als die Mutter dieses Traumgesicht hatte, war sie krank. Folgerichtig konnte ein wĂ€hrend der Krankheit empfangenes und ausgetragenes Kind nicht einen normalen Gang behalten.

Artemidors AusfĂŒhrungen zeigen, wie Verhaltensweisen und Eigenschaften von Schlangen den Ausgangspunkt fĂŒr bestimmte Deutungen abgaben, wenngleich schon allein aus UmfanggrĂŒnden Artemidor nicht fĂŒr jedes Traumsymbol bezĂŒglich der möglichen TrĂ€umenden VollstĂ€ndigkeit erreichen konnte. Sonst hĂ€tte nĂ€mlich die EnzyklopĂ€die von 1.400 Traumsymbolen mit fast 3.000 Deutungen jedes handhabbare Maß gesprengt. Nach welchen Kriterien die Auswahl im Einzelnen erfolgte – bereits in den Quellen vorgefundenes Material, systematische Zusammenstellung, exemplarische Erfindung? –, entzieht sich letztlich unserer Kenntnis.


Forschung

Gerade die BegrĂŒndungen, die mitunter banal oder weit hergeholt erscheinen, sind fĂŒr (sozial-)historische Fragestellungen ungemein wertvoll: Sie bieten nĂ€mlich reichhaltiges Material fĂŒr Einsichten in antike MentalitĂ€ten und in zentrale Bereiche des Alltagslebens, etwa in Ängste und Hoffnungen gesellschaftlicher Gruppen, zumal solcher, die in anderen Quellen nicht dergestalt fassbar sind (Laukamm 1930; Hahn 1992). Dies gilt insbesondere fĂŒr die Passagen ĂŒber verschiedene Formen der SexualitĂ€t (Artem. 1,78-80; dazu Foucault 1989, 7-51; Meyer-Zwiffelhoffer 1995, 166-177), die in frĂŒheren Artemidor-Übersetzungen ĂŒbergangen wurden, und ĂŒber die Gladiatur (2,32; dazu Harris-McCoy 2012, 485 f.). Gerade bei diesen Kontexten ist die moderne Forschung in den letzten Jahren erheblich weitergekommen (Perspektiven bei Weber 2017). So wurden etliche Themenbereiche neu erschlossen, etwa die Rechtstraditionen (MĂ©nard 2015), die Tierwelt (Monbrun 2015), die ErnĂ€hrung (Dalby 2014), Gottheiten und Mythen (Maffre 2012; Bilbija/Flinterman 2015; Auger 2015) und Gender-Fragen (MacAlister 1992; Walde 2014), aber auch Emotionen (Weber 2015b), Jenseitsvorstellungen (Weber 2012) sowie Gesundheit und Krankheit (Walde 2013; Weber 2019) Es ist nicht ĂŒberraschend, dass das Material von Artemidor mit methodischen Zugriffsweisen aus Psychologie und Psychoanalyse zusammengebracht wurden (Price 1986/2004).

Allerdings ermöglichen die Oneirokritika keinen direkten Zugang zum realen Leben der antiken Zeitgenossen, da viele Deutungen ohne jeglichen Kontext gegeben werden bzw. assoziativ erscheinen. Dies gilt auch fĂŒr Versuche, TrĂ€ume, die etwa in historiographischen oder biographischen Quellen ĂŒberliefert sind, mit Hilfe der Oneirokritika zu deuten (Weber 2000). Auch wenn ein solches Unterfangen in EinzelfĂ€llen gelingen mag und sich zumindest eine Vorstellung von möglichen Symbolfeldern erreichen lĂ€sst, kann eine Anamnese im beschriebenen und erforderlichen Sinne nicht gelingen, weil in aller Regel die fĂŒr die Deutung notwendigen Informationen fehlen, ein anderer Sozialstatus vorliegt oder bestimmte Symbolkonstellationen bei Artemidor nicht vorhanden sind (NĂ€f 2010).

Steter Materialzuwachs lĂ€sst sich bei TraumdeutungsbĂŒchern in hieroglyphischer Schrift und vor allem demotischer Sprache feststellen. Auch wenn Artemidor derartige Texte und die verwendeten Deutungsmethoden nicht kannte (Prada 2015) und bei ihm Ägypten weder topographisch noch im Bereich der Religion (mit Ausnahme der Gottheiten Isis, Sarapis und Anubis) vertreten ist, ergibt ein Vergleich durchaus Sinn, um einerseits die jeweiligen Spezifika der Deutung, andererseits die Orts- und Zeitgebundenheit der Symbolwelt stĂ€rker zu profilieren. Dies gilt auch fĂŒr die verschiedenen TraumdeutungsbĂŒcher aus byzantinischer Zeit, die weitgehend auf BegrĂŒndungen fĂŒr die Deutung verzichten, gegenĂŒber Artemidor geradezu ‚unterkomplex‘ erscheinen und ihn nur bedingt rezipiert haben (Weber 2020).


Leserschaft

Ob man sich fĂŒr die Oneirokritika eine externe Leserschaft vorstellen kann und wie diese beschaffen gewesen sein könnte, wird immer wieder diskutiert - haben doch Autor und Werk in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Hierzu lassen sich einige Indizien zusammentragen: Aus dem Duktus der Oneirokritika wird deutlich, dass Artemidor durchaus ĂŒber rhetorische Strategien bei der PrĂ€sentation seines Werkes verfĂŒgte, somit auch eine entsprechende Ausbildung erhalten haben musste (Harris-McCoy 2015). Dies setzt freilich eine (gebildete) Leserschaft voraus (Bowersock 1994, 77-98), wofĂŒr die komplexe Syntax und das reiche Vokabular in Anspruch genommen werden (Bowersock 2004).

Man kann aber auch von einem zweifachen ‚Publikum‘ ausgehen (Weber 1999, 222-227): einerseits die Klienten aller Schichten, deren TrĂ€ume Artemidor und sein Sohn, in dessen Ermessen die dosierte Weitergabe des Buches gestellt wurde (Artem. 4,prooem.,237,26-238,6; 5,prooem.,301,14f.), mit Hilfe des Buches konkret deuteten und die somit in mĂŒndlicher Form ausgewĂ€hlte Inhalte vermittelt bekamen; andererseits Leser, die sich wiederum aus Fachleuten und interessierten, gebildeten Laien zusammensetzten. Letztere konnten sich selbst an einer Deutung versuchen und aus dem Besitz des Werkes auch Prestige beziehen. Der Sprachgebrauch und die Raumvorstellungen innerhalb des Werkes verweisen jedenfalls auf eine starke lokale Verwurzelung im westlichen Kleinasien (Bowersock 2004, 60-62; Weber 2014).

Gregor Weber


Literatur

Ausgabe

  • Artemidori Daldiani Onirocriticon Libri V. Hg. von Roger A. Pack. Leipzig: Teubner 1963 (= zitierte Ausgabe; Nachweise erfolgen mit: Nummer des Buchs, des Kapitels, der Seite und der Zeile).

Übersetzungen

  • Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Hg. und ĂŒbers. von Karl Brackertz. ZĂŒrich, MĂŒnchen: dtv 1979.
  • Artemidor, Traumkunst. Hg. und ĂŒbers. von Friedrich S. Krauss, neubearb. u. mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von Gerhard Löwe. Leipzig: Reclam 1991.
  • Artemidorus, The Interpretation of Dreams. Hg. und ĂŒbers. von Martin Hammond und Peter Thonemann:Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck).

Kommentar

  • Harris-McCoy, Daniel E.: Artemidorus’ Oneirocritica. Text, Translation, and Commentary. Oxford: OUP 2012.


Forschungsliteratur

  • Auger, DaniĂšle: La place des mythes dans l’interprĂ©tation des songes d’ArtĂ©midore. In: Weber 2015, 189-218.
  • Bilbija, Jovan/Jaap-Jan Flinterman: Dreaming of Deities. Athena and Dionysus in the Oneirocritica. In: Weber 2015, 161-187.
  • Bouchet, Julien du: ArtĂ©midore, homme de science. In: Jacqueline Carroy/Juliette Lancel (Hg.): ClĂ©s des songes et sciences des rĂȘves de l’antiquitĂ© Ă  Freud. Paris: Les Belles Lettres 2016, 33-45.
  • Bouchet, Julien du/Christophe Chandezon (Hg.): Études sur ArtĂ©midore et l’interprĂ©tation des rĂȘves. Nanterre: Presses Universitaires de Paris Ouest 2012.
  • Bowersock, Glen W.: Fiction as History. Nero to Julian. Berkeley u.a.: University of California Press 1994.
  • Bowersock, Glen W.: Artemidorus and the Second Sophistic. In: Barbara E. Borg (Hg.): Paideia. The World of the Second Sophistic. Berlin, New York: de Gruyter 2004, 53-63.
  • Chandezon, Christophe: ArtĂ©midore. Le cadre historique, gĂ©ographique et social d’une vie. In: du Bouchet/Chandezon 2012, 10-26.
  • Chandezon, Christophe: En guise d’introduction. ArtĂ©midore et la civilisation de son temps. La rĂ©ception des Oneirokritika. In: Chandezon/du Bouchet 2014, 11-29.
  • Chandezon, Christophe/du Bouchet, Julien (Hg.): ArtĂ©midore de Daldis et l’interprĂ©tation des rĂȘves. Quatorze Ă©tudes. Paris: Les Belles Lettres 2014.
  • Dalby, Andrew K.: La nourriture des rĂȘves. In: Chandezon/du Bouchet 2014, 191-205.
  • Foucault, Michel: SexualitĂ€t und Wahrheit. Bd. 3: Die Sorge um sich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, bes. 7-51 (frz. Histoire de la sexualitĂ©. Vol. 3: Le Souci de soi. Paris: Gallimard 1984).
  • Hahn, IstvĂĄn: Traumdeutung und gesellschaftliche Wirklichkeit. Artemidorus Daldianus als sozialgeschichtliche Quelle. Konstanz: UniversitĂ€tsverlag 1992.
  • Harris-McCoy, Daniel: Artemidorus’ Oneirocritica as Fragmentary Encyclopaedia. In: Jason König/Greg Woolf (Hg.): Encyclopedism from Antiquity to the Renaissance. Cambridge: Cambridge UP 2013, 156-177.
  • Harris-McCoy, Daniel: Writing and Reading Books IV and V of Artemidorus Oneirocritica. In: Weber 2015, 17-37.
  • Laukamm, Siegfried: Das Sittenbild des Artemidor von Ephesus. In: Angelos 3 (1930), 32-71.
  • MacAlister, Suzanne: Gender as Sign and Symbolism in Artemidoros’ Oneirokritika. Social Aspirations and Anxieties. In: Helios 19 (1992), 140-160.
  • Maffre, FrĂ©dĂ©rick: ArtĂ©midore, Daldis et les divinitĂ©s locales sur les Ă©missions provinciales romaines. In: du Bouchet/Chandezon 2012, 27-52.
  • MĂ©nard, HĂ©lĂšne: Pratiques et reprĂ©sentations de la justice dans l’Ɠuvre d’ArtĂ©midore de Daldis. In: Weber 2015, 101-125.
  • Meyer-Zwiffelhoffer, Eckhard: Im Zeichen des Phallus. Die Ordnung des Geschlechtslebens im antiken Rom. Frankfurt/M., New York: Campus 1995.
  • Monbrun, Philippe: Quand on rĂȘve d’animaux. Place de l’animal et bestiaire du rĂȘve dans les Oneirokritika d’ArtĂ©midore. In: Weber 2015, 127-160.
  • NĂ€f, Beat: Artemidor – ein SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis antiker Traumberichte? In: Emma Scioli/Christine Walde (Hg.): Sub imagine somni. Nighttime Phenomena in Greco-Roman Culture. Pisa: ETS 2010, 185-209.
  • PĂ©rez-Jean, Brigitte: ArtĂ©midore et la philosophie de son temps. In: du Bouchet/Chandezon 2012, 53-77.
  • Prada, Luigi: Oneirocritica Aegyptiaca. Artemidorus of Daldis, Egypt, and the Contemporary Oneirocritic Literature in Egyptian. In: Weber 2015, 263-310.
  • Price, Simon R.F.: The Future of Dreams. From Freud to Artemidorus. In: Past & Present 113 (1986), 3-37; erweiterte Fassung in: Robin Osborne (Hg.): Studies in Ancient Greek and Roman Society. Cambridge: Cambridge UP 2004, 226-259.
  • Thonemann, Peter: An Ancient Dream Manual. Artemidorus on the Interpretation of Dreams. Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck).
  • Vinagre Lobo, Miguel Á.: Los libros griegos de interpretaciĂłn de sueños. Saragossa: Libros PĂłrtico 2011.
  • Walde, Christine: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung. DĂŒsseldorf, ZĂŒrich: Artemis & Winkler 2001.
  • Walde, Christine: Illness and its Metaphors in Artemidorus’ Oneirocritica. A Negative List. In: Steven M. Oberhelman (Hg.): Dreams, Healing, and Medicine in Greece. From Antiquity to the Present. Farnham: Ashgate 2013, 129-159.
  • Walde, Christine: Explorationen. Schlaf – Traum – Traumdeutung und Gender in der griechisch-römischen Antike. In: Christine Walde/Georg Wöhrle (Hg.): Genderstudies in den Altertumswissenschaften. Schlaf und Traum. Trier: WVT 2014, 1-43.
  • Weber, Gregor: Artemidor von Daldis und sein ‚Publikum‘. In: Gymnasium 106 (1999), 209‑229.
  • Weber, Gregor: Kaiser, TrĂ€ume und Visionen in Prinzipat und SpĂ€tantike. Stuttgart: Steiner 2000.
  • Weber, Gregor: Le rĂȘve et la mort dans les Oneirokritika d’ArtĂ©midore, in: du Bouchet/Chandezon 2012, 79-97.
  • Weber, Gregor: Le rĂȘve et l’espace chez ArtĂ©midore. In: Chandezon/du Bouchet 2014, 313-341.
  • Weber, Gregor (Hg.): Artemidor von Daldis und die antike Traumdeutung. Texte – Kontexte – LektĂŒren. Berlin, Boston: de Gruyter 2015.
  • Weber, Gregor: Zur EinfĂŒhrung. In: Weber 2015, 7-16 (Weber 2015a).
  • Weber, Gregor: Emotionen in Artemidors Oneirokritika. In: Weber 2015, 39-65 (Weber 2015b).
  • Weber, Gregor: Neue Forschungen zu Traum und Traumdeutung in der Antike. Bilanz und Perspektiven. In: Gymnasium 124 (2017), 1-19.
  • Weber, Gregor: ‚Gesundheit‘, ‚Krankheit‘ und medizinisches Wissen in den Oneirokritika des Artemidor von Daldis. In: Mitteilungen des Instituts fĂŒr EuropĂ€ische Kulturgeschichte 25 (2019), 11-35.
  • Weber, Gregor: Between Arcane Knowledge and Dissemination. Books on Dream Interpretation from Antiquity to the Early Modern Period in Comparison. In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Mediating the Dream / Les genres et mĂ©dias du rĂȘve. WĂŒrzburg: Könighausen & Neumann 2020.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Weber, Gregor: "Oneirokritika" (Artemidor von Daldis) In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2019; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Oneirokritika%22_(Artemidor_von_Daldis)


Kategorien