"Perikızı. Ein Traumspiel" (Emine Sevgi Özdamar)

Aus Lexikon Traumkultur
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Perikızı. Ein Traumspiel ist ein Theaterstück von Emine Sevgi Özdamar und beinhaltet eine umfangreiche Traumbinnenhandlung. Es wurde für das im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 stattfindende Theaterfestival „Odyssee Europa“ verfasst und im Februar 2010 im Schlosstheater Moers uraufgeführt.  


Autorin

Die Schriftstellerin, Schauspielerin und Regisseurin Emine Sevgi Özdamar wurde 1946 in der Türkei geboren. Von 1967 bis 1970 besuchte sie in Istanbul die Schauspielschule. Der Militärputsch 1971 machte es ihr unmöglich, in der Türkei weiterhin als Schauspielerin zu arbeiten. Özdamar lebt seither in Deutschland, wo sie zunächst als Regieassistentin und Schauspielerin tätig war und im Jahr 1982 mit Karagöz in Alamania ihr erstes Theaterstück verfasste. Neben Theatertexten schreibt sie auch Prosa.


Der Traum

Beschreibung

Perikızı. Ein Traumspiel ist ein Stationendrama und enthält eine längere, aus mehreren Szenen bestehende szenische Traumdarstellung. Eingebettet ist der Traum als Binnenhandlung in eine in Istanbul situierte Rahmen-Wachhandlung, die von der ersten und der letzten Szene gebildet wird und in einer regnerischen Nacht spielt. Die Träumende ist die Titelfigur Perikızı, ein junges Mädchen, das den Wunsch hat, in Deutschland eine bekannte Schauspielerin zu werden. Laut eigener Aussage schwärmt sie häufiger „nächtens […] zu solchen Taten aus“ (P 285). So auch in dem in Perikızı dargestellten Traum. Perikızıs Traum schließt an ein Streitgespräch mit ihren Eltern und ihrer Großmutter an, die ihre Schauspielpläne nicht befürworten. Ähnlich wie in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1871) wird Perikızıs Traum am Ende der ersten Szene mit dem Gang durch eine Spiegeltür markiert. Ihrem Wunsch in der Wachwelt entsprechend reist Perikızı im Traum nach Deutschland. Glaubt man dem Hinweis der Mutter, dass Perikızı „die Gabe [hat], in [ihren] Träumen zu sehen, was geschehen wird“ (P 284), lässt sich ihr Traum als eine Art Vorausdeutung betrachten: Er zeigt ihr, was sie erleben würde, wenn sie tatsächlich fortginge.

Insgesamt besteht die Traumhandlung aus zwölf Szenen und umfasst eine Zeitspanne von einem Jahr. Dieser Zeitraum hat sein Vorbild in dem einjährigen Aufenthalt des Odysseus bei der Zauberin Kirke in Homers Odyssee, die eine von mehreren intertextuellen Referenzen im Stück darstellt (vgl. Schößler 2010). So lange muss Perikızı, die bereits in der ersten Traumszene den Wunsch äußert, wieder zurückzufahren, in Deutschland leben und arbeiten, bis sie wieder heimkehren darf. Perikızıs Aufenthalt in Deutschland gestaltet sich völlig anders als ‚erträumt‘. Arbeit findet sie in ihrem Traum nicht an einem Theater, sondern als Putzfrau. Sie macht allerlei skurrile Bekanntschaften und Erfahrungen, wird übersehen und ignoriert, beschimpft und bedroht und fühlt sich einsam und unwohl. Ihr im Wachen so starker Wunsch nach einer Theaterkarriere in Deutschland ist im Traum kaum noch existent. Stattdessen sehnt sich Perikızı nach Hause zurück, was sich besonders deutlich in der Szene „Perikızıs Traum“ zeigt. Hierbei handelt es sich um eine in den Traum eingelagerte weitere Traumszene. In diesem Traum im Traum stellt sich Perikızı ihre besorgte, in Istanbul auf ihre Rückkehr wartende Familie vor. Der Traum ermöglicht Perikızı somit nicht nur einen Vorausblick, sondern bietet ihr auf einer zweiten Ebene auch die Möglichkeit zu einem Rückblick auf das, was sie mit ihrem geträumten Fortgang zurückgelassen hat. 

Perikızıs Traum endet mit einer Party im Hades, deren Anlass die Begegnung mit ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Großvater und zwei beim armenischen Völkermord getöteten Jugendfreundinnen ihrer Großmutter ist. Alle drei sind Perikızı bei ihrem Gang durch die Spiegeltür gefolgt und haben sie somit auf ihrer Traumreise von Anfang an begleitet. Diese Begegnung im Traum – und insbesondere die Feier dieser Begegnung – ist insofern bedeutsam, als Perikızı im Wachen keinerlei Interesse an ihren toten Vorfahren zeigt. Während ihre Familie das Gedenken an die Verstorbenen fest in den Alltag integriert, bringt Perikızı in der Wachwelt sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie „nicht mit den Toten leben“ (P 285), sondern stattdessen von ihnen „wegwandern“ (ebd.) will. Ihr Traum unterläuft diesen Distanzierungsversuch erfolgreich.

Im Fokus der folgenden Analyse stehen zum einen die intertextuelle Verweisstruktur des Stückes sowie zum anderen die Funktion des Traums als Begegnungs- und Erinnerungsraum.


Analyse und Interpretation

Charakteristisch für Perikızı sind die vielzähligen inter- und intratextuellen sowie intermedialen Verweise (Schößler 2010). Dabei lassen sich drei Hauptreferenzen ausmachen:

(1) Homers Odyssee, an der sich die Handlung von Perikızıs geträumter Reise orientiert, wenn Perikızı – wie Odysseus bei Kirke – für ein Jahr in Deutschland leben muss und vor ihrer Rückkehr, d.h. in ihrem Fall vor dem Erwachen, mit den Toten im Hades zusammentrifft;

(2) eigene (vornehmlich erzählerische) Texte Ödzamars, aus denen sowohl Textpassagen als auch Motive und Themen in Perikızı wiederkehren (Jonczyk 2015, 215);

(3) die für den Traum interessanteste Hauptreferenz stellt Shakespeare dar, insbesondere sein A Midsummer Night’s Dream, aus dem Perikızı gleich zu Beginn des Stücks mit ihrer ersten Replik zitiert.

Eine Besonderheit der intertextuellen Verweisstruktur besteht in der Vermischung der verschiedenen Bezüge. Franziska Schößler bezeichnet diese auch als „Hybridisierung“ (Schößler 2010, 88). Dieses Verfahren zeigt sich beispielsweise, wenn zwei „Bilderbuchbergmänner“ (P 320) – ein deutscher und ein türkischer – in einem „starken Ruhrpott-Dialekt (Jürgen von Manger)“ (ebd.) die „Homer-Episode ‚Darf Odysseus nach Hause‘“ (ebd.) vortragen; ebenso wenn die drei Huren, mit denen Perikızı in der ersten Traumszene im Zug nach Deutschland reist, „wie drei Hexen aus Macbeth“ (P 297) sprechen und dabei „in Anlehnung an die Odyssee [zitieren]“ (ebd.). Dieses Ineinandergreifen der intertextuellen Bezüge ist jedoch ausschließlich charakteristisch für die Traumszenen. Auf der Ebene der Wachhandlung findet eine solche Vermischung nicht statt, obwohl sich auch hier viele Zitate und Verweise finden. Somit verfügen auch die Traumszenen an sich über eine hybride Form, die entsteht, indem hier die verschiedenen intertextuellen Verweise in den Traumszenen miteinander in Kontakt treten. Dem Traum, der selbst eine hybride Gestalt hat und Mischgebilde produziert, stellt der Text der Traumszenen so eine geeignete Repräsentationsfläche zur Verfügung.

Einen Begegnungsraum stellt der Traum aber nicht nur auf der Textoberfläche dar. Auch Perikızıs geträumte Reise an sich bietet Raum für Begegnungen. Dabei ist das Zusammentreffen Perikızıs mit den Toten im Hades das entscheidende. Während die mit einer Reise gewöhnlich einhergehenden Begegnungen mit dem kulturell Anderen/Fremden im Traum allesamt scheitern, gelingt die im Wachen unmögliche, im Traum dagegen denkbare Begegnung mit den Toten. Die Grenze, die Perikızı als Lebende von den Toten trennt, überschreitet sie, wenn sie am Ende der ersten Szene durch die Spiegeltür tritt. Diese Übergangfunktion des Spiegels hat die Großmutter in der ersten Szene bereits benannt: „Schau nicht in der Nacht in den Spiegel, die Geister werden dich zu einem anderen Land treiben“ (P 274). Hier wird deutlich, dass die Grenze, die der Spiegel markiert, mehr ist als ‚nur‘ die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt. Die Geister, die Perikızı in ein anderes Land treiben werden, verweisen auf die Grenze zwischen Leben und Tod, die im Traum durchlässig ist und in beide Richtungen überschritten werden kann.

Mit ihrem Großvater und den beiden armenischen Jugendfreundinnen ihrer Großmutter trifft Perikızı im Traum gerade auf die Toten, von denen sie sich in ihrem Wachleben vehement zu distanzieren versucht. Neben verstorbenen Angehörigen und Freundinnen lassen sich diese Toten auf einer allgemeineren Ebene auch als StellvertreterInnen aller Kriegs- und Völkermordopfer sehen (vgl. Kugler/Totzke 2013, 113). Perikızıs Begegnung mit diesen Toten schließt daher auch die Konfrontation mit zwei großen kollektiven Traumata des 20. Jahrhunderts mit ein. Als Mitglied der Enkelgeneration ist es ihre Aufgabe, die Erinnerung an die Verfolgten und Ermordeten auch über den Tod der ZeitzeugInnen hinaus zu bewahren. Für diese tritt im Stück Perikızıs Großmutter auf, die in regelmäßigen Abständen in ihren Alpträumen von „Bildern von früher besucht“ wird (P 276). Das äußert sich in starkem Nasenbluten und monologischen Erzählungen, in denen sich die Großmutter an die gewaltsamen Todesumstände ihres Mannes und ihrer armenischen Freundinnen erinnert. Sie wünscht sich, dass auch Perikızı den Toten gedenkt. Dies vermittelt besonders ein von der Großmutter in der ersten Szene erzählter Traum, in dem Perikızı mit der Stimme und aus der Perspektive der Großmutter spricht. Auf die Traumerzählung ihrer Großmutter und überhaupt auf die Toten reagiert Perikızı in der Wachwelt mit radikaler Ablehnung: „Ich spucke auf die Toten. Ich scheiße auf die Toten“ (P 291). In ihrem Traum dagegen wandelt sich diese Ablehnung zu einer Art Akzeptanz und Aneignung der Erinnerung.

Wenn in der letzten Traumszene das Zusammentreffen mit den Toten im Hades mit einer Party gefeiert wird, stellt dies einen Gegensatz zu Perikızıs Abwehr der Erinnerung an die Toten in der Wachwelt dar. Zugleich wird die Möglichkeit eines anderen erinnernden Umgangs mit der traumatischen Vergangenheit formuliert, was wiederum im Kontrast zu den Alpträumen der Großmutter steht. Vor dem Hintergrund, dass der Völkermord an den Armeniern in der Türkei bis heute nicht Teil eines öffentlichen Gedenkdiskures ist, erweist sich der Traum in Perikızı zudem als ein geeignetes Mittel, um diese Verdrängung und verfehlte Aufarbeitung zum Thema zu machen und einen Erinnerungsraum für die Opfer zu schaffen.


Kristina Höfer


Literatur

Ausgabe

  • Özdamar, Emine Sevgi: Perikızı. Ein Traumspiel. In: RUHR.2010/Uwe B. Carstensen/Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Odyssee Europa. Aktuelle Stücke 20 (2010), 271–333 (zitiert als P mit Seitenzahl).


Forschungsliteratur

  • Calero Valera, Ana R.: Glokalisierungsprozesse auf der Bühne: Emine Sevgi Özdamars Karagöz, Keloglan und Perikızı. In: lendemains 160 (2015), Themenheft: Transkulturalität sur scène. Zum Theater in Frankreich und Deutschland um die Jahrtausendwende . Hg. von Natascha Ueckmann und Romana Weiershausen, 54–63.
  • Höfer, Kristina: Emine Sevgi Özdamar: Perikızı – Ein Traumspiel (2010). In: Dies.: Gespielte Träume und Traumspiele. Traumdarstellungen in der Dramatik des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn: Fink 2019, 129-174.
  • Jonczyk, Anita: Die Identitätssuche in Emine Sevgi Özdamars Roman Die Brücke vom Goldenen Horn und im Theaterstück Perikızı. Ein Traumspiel. In: Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting (Hg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2015, 117–131.
  • Kugler, Stefani und Ariane Totzke: Nationalismus und Völkermord in Emine Sevgi Özdamars Theaterstück Perikızı – Ein Traumspiel. In: Elke Sturm-Trigonakis/Simela Delianidou (Hg.): Sprachen und Kulturen in (Inter)Aktion. Teil 1. Literatur- und Kulturwissenschaft. Frankfurt/M.: Lang 2013, 107–120.
  • Schößler, Franziska: Das Theaterevent Odyssee Europa der Kulturhauptstadt Essen. Prekäre Männlichkeit und Emine Sevgi Özdamars Traumspiel Perikizi. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2010), 79–97.



Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Höfer, Kristina: „Perikızı. Ein Traumspiel“ (Emine Sevgi Özdamar). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2019; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%E2%80%9EPerik%C4%B1z%C4%B1._Ein_Traumspiel%E2%80%9C_(Emine_Sevgi_%C3%96zdamar) .

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