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Verglichen mit den anderen Träumen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und ließe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und Intertextualität interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet „In dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kannten“ (RB 163) auf ein nächtliches Geschehen hin.  
 
Verglichen mit den anderen Träumen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und ließe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und Intertextualität interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet „In dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kannten“ (RB 163) auf ein nächtliches Geschehen hin.  
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Die Passage referiert auf Italo Calvinos (1953-1985) Roman ''Die unsichtbaren Städte'' (''Le città invisibili'', 1972), in dem eine Stadt den Namen 'Irene' trägt. Bei Calvino ist dies die einzige Stadt, die für Kublai Khan unerreichbar bleibt und die gleichzeitig über keine konstanten Eigenschaften verfügt, sondern sich stetig wandelt: „Irene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich ändert, wenn man ihr näher kommt“ (Calvino 2007, 134). Diese Unschärfe der Stadt äußert sich im „Rosa der Häuser […], das sich verdünnt“ und in den diversen Deutungen der Geräusche, die von der Stadt ausgehen: „Die Hinunterblickenden ergehen sich in Mutmaßungen über das, was in der Stadt vorgehen mag“ (Calvino 2007, 133), „Manchmal trägt der Wind Musik von Pauken und Trompeten“ (ebd.), „manchmal das Rattern von Maschinengewehren“ (ebd.). Auch Herta Müller greift diese flüssige, sich stets wandelnde Form auf: „Kaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenzieht“ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als Projektionsfläche demaskiert, sie bietet eine Leerstelle für männliche Imagination und erscheint austauschbar: „vielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochen“ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns Träumen repräsentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der Städte den weiblichen Körper.  
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Die Passage referiert auf Italo Calvinos (1953-1985) Roman ''Die unsichtbaren Städte'' (''Le città invisibili'', 1972), in dem eine Stadt den Namen 'Irene' trägt. Bei Calvino ist dies der einzige Ort, der für Kublai Khan unerreichbar bleibt und gleichzeitig über keine konstanten Eigenschaften verfügt, sondern sich stetig wandelt: „Irene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich ändert, wenn man ihr näher kommt“ (Calvino 2007, 134). Diese Unschärfe der Stadt äußert sich im „Rosa der Häuser […], das sich verdünnt“ und in den diversen Deutungen der Geräusche, die von der Stadt ausgehen: „Die Hinunterblickenden ergehen sich in Mutmaßungen über das, was in der Stadt vorgehen mag“ (Calvino 2007, 133), „Manchmal trägt der Wind Musik von Pauken und Trompeten“ (ebd.), „manchmal das Rattern von Maschinengewehren“ (ebd.). Auch Herta Müller greift diese flüssige, sich stets wandelnde Form auf: „Kaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenzieht“ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als Projektionsfläche demaskiert, sie bietet eine Leerstelle für männliche Imagination und erscheint austauschbar: „vielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochen“ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns Träumen repräsentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der Städte den weiblichen Körper.  
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Ähnlich wie Calvino verknüpft Herta Müller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text aber als Fiktion entlarvt: „Ich weiß, es ist nur Einbildung, nur Schwindel […]. Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daran“ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden Träume, bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von Männern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend sind die narrativ-reflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des übrigen Textes kontrastiert: „Wer von euch beiden ist denn die Attrappe“ (RB 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: „Zwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene küßte eine bläuliche Farbe“ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Die Farbe ‚bläulich‘ repräsentiert im Gesamtgefüge des Traumes die Treue. Gleichzeitig reagiert Irene auf das männliche Treueverlangen „Du sollst Augen haben nur für mich“ (RB 165) mit Verdruss: „Das macht müde“ (ebd.). Während Calvino die weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik projiziert und damit vergegenständlicht, erlangt das Weibliche bei Herta Müller Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Der Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn sich diese Demaskierung der männlich konstruierten Weiblichkeit nur im imaginierten Raum des Traumes ereignet und daher eine weibliche Wunschprojektion bleibt.
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Ähnlich wie Calvino verknüpft Herta Müller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text aber als Fiktion entlarvt: „Ich weiß, es ist nur Einbildung, nur Schwindel […]. Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daran“ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden Träume bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von Männern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend sind die narrativ-reflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des übrigen Textes kontrastiert: „Wer von euch beiden ist denn die Attrappe“ (RB 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: „Zwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene küßte eine bläuliche Farbe“ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Die Farbe ‚bläulich‘ repräsentiert im Gesamtgefüge des Traumes die Treue. Irene reagiert auf das männliche Treueverlangen „Du sollst Augen haben nur für mich“ (RB 165) mit Verdruss: „Das macht müde“ (ebd.). Während Calvino den weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik projiziert und damit vergegenständlicht, erlangt das Weibliche bei Herta Müller Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Irenes letzter Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn sich diese Demaskierung der männlich konstruierten Weiblichkeit nur im imaginierten Raum des Traumes ereignet und daher eine weibliche Wunschprojektion bleibt.
    
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