"Resto qui" (Marco Balzano): Unterschied zwischen den Versionen

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: <span style="color: #7b879e;">A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina né quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune […] O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piú intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la ''s'' maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piú generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei […] trovato interesse sufficiente per […] scrivere un romanzo. (RQ 2018, 178-179)<ref>
: <span style="color: #7b879e;">A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina né quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune […]. O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piú intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la ''s'' maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piú generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei […] trovato interesse sufficiente per […] scrivere un romanzo (RQ 178 f.).
»Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der Südtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte […] Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren für mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafür eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich […] nicht genug Interesse aufgebracht, um […] einen Roman darüber zu schreiben.« (IBH 2020, 283–284)</ref></span>
 
: <span style="color: #7b879e;">Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der Südtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte […]. Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren für mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafür eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich […] nicht genug Interesse aufgebracht, um […] einen Roman darüber zu schreiben (RQd 283 f.)</span>
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Die Wahl einer homodiegetischen Erzählinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstärkt wird (Vgl. Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzählt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfältig ausgewählte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr hatten. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen Träume wiederholt eine Rolle.
Die Wahl einer homodiegetischen Erzählinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstärkt wird (Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzählt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfältig ausgewählte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr haben. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen Träume wiederholt eine Rolle.
 
Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine Rückkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in ''Resto qui'' zum Bau des Staudamms ins Südtiroler Dorf Graun geholt werden, überlegt die Erzählerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa.« (RQ 2018, 150)<ref>
»Bestimmt träumten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer Rückkehr schlafen würden.« (Ebd. 239)</ref></span>
|} Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung.


Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine Rückkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in ''Resto qui'' zum Bau des Staudamms ins Südtiroler Dorf Graun geholt werden, überlegt die Erzählerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa« (RQ 150; »Bestimmt träumten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer Rückkehr schlafen würden«, RQd 239). Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung.


== Grenzerfahrung und Vergangenheitsbewältigung im Traum ==
== Grenzerfahrung und Vergangenheitsbewältigung im Traum ==
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: <span style="color: #7b879e;">Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perché il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finché mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra. (RQ 2018, 73)<ref>
: <span style="color: #7b879e;">Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perché il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finché mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra (RQ 73).
»Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich überhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon träumte ich nachts, ihn mit dir zu überqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fürchtete mich davor, ihn wieder zu träumen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme Flüssigkeit umhüllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine für die andere wieder die ganze Welt(IBH 2020, 122-123)</ref></span>
 
: <span style="color: #7b879e;">Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich überhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon träumte ich nachts, ihn mit dir zu überqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fürchtete mich davor, ihn wieder zu träumen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme Flüssigkeit umhüllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine für die andere wieder die ganze Welt (RQd 122 f.).</span>
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Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und Eindrücke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen Verknüpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen pränatalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter für die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre später das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurück, ihn zu träumen. Ganz bewusst versucht sie, den äußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer Rückkehr abzuschließen.
Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und Eindrücke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen Verknüpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen pränatalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter für die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre später das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurück, ihn zu träumen. Ganz bewusst versucht sie, den äußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: Denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer Rückkehr abzuschließen.


Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:
Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:
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: <span style="color: #7b879e;">Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piú libera. (RQ 2018, 90)<ref>
: <span style="color: #7b879e;">Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piú libera (RQ 90).
»Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlüpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefühlt(IBH 2020, 149-150)
 
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: <span style="color: #7b879e;">Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlüpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefühlt (RQd 149 f.).</span>
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: <span style="color: #7b879e;">La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra è finita!« (Ebd., 114)<ref>
: <span style="color: #7b879e;">La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra è finita!« (RQ 114).
»Am Abend auf dem Blätterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir träumen würde. Doch fast immer träumte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: ›Trina, der Krieg ist aus!‹« « (Ebd. 185)</ref></span>
 
: <span style="color: #7b879e;">Am Abend auf dem Blätterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir träumen würde. Doch fast immer träumte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: »Trina, der Krieg ist aus!‹« (RQd 185).</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finché senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa. (Ebd. 128)<ref>
: <span style="color: #7b879e;">Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finché senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa (RQ 128).
»Eines Morgens sah ich dich zwischen den Bäumen. Du warst noch ein Kind. Ich überließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem Rücken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der Lärchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem Rückweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen würde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, würde ich in den Ofen werfen(Ebd. 204)</ref></span>
 
: <span style="color: #7b879e;">Eines Morgens sah ich dich zwischen den Bäumen. Du warst noch ein Kind. Ich überließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem Rücken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der Lärchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem Rückweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen würde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, würde ich in den Ofen werfen (RQd 204).</span>
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Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage, zum Beispiel, wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, weiß der Leser bereits, dass es Trina einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.
Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage - zum Beispiel wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, wissen wir als Rezipienten bereits, dass es ihr einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.




<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>


== Literatur ==
== Literatur ==
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* Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.  
* Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.  
* Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenberg 2001.
* Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenberg 2001.
==Anmerkungen==
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[[Kategorie:Balzano, Marco|Marco Balzano]]
[[Kategorie:Balzano,_Marco|Marco Balzano]]
[[Kategorie:21._Jahrhundert]]
[[Kategorie:21._Jahrhundert]]
[[Kategorie:Gegenwart]]
[[Kategorie:Gegenwart]]