"Resto qui" (Marco Balzano): Unterschied zwischen den Versionen

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[[Datei:Resto qui Marco Balzano.jpg|370px|thumb|right|''Resto qui'', italienische Erstausgabe]]
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Der 2018 veröffentlichter Roman ''Resto qui'' (dt.: ''Ich bleibe hier'') des italienischen Autors Marco Balzano (*1978) gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine wichtige Rolle fĂŒr die BeschĂ€ftigung mit der SĂŒdtiroler Vergangenheit spielt (Grugger 2021; Klettenhammer 2013, 243). ''Resto qui'' erzĂ€hlt die Lebensgeschichte der SĂŒdtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts.
  
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Marco Balzanos Roman ''Resto qui'' (2018, dt.: ''Ich bleibe hier'') gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine entscheidende Rolle fĂŒr die BeschĂ€ftigung mit der SĂŒdtiroler Vergangenheit spielt (vgl. Grugger 2021; Klettenhammer 2013: 243). Der Roman erzĂ€hlt die Lebensgeschichte der SĂŒdtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts.
 
  
 
== Handlung ==
 
== Handlung ==
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Die Handlung des Romans ist in der SĂŒdtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die ĂŒber Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen VerĂ€nderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-ErzĂ€hlerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse wĂ€hrend des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die ErzĂ€hlung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil SĂŒdtirols. Die Situation Ă€ndert sich drastisch als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen UnterdrĂŒckung der deutschen Subkultur in SĂŒdtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bĂŒrokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Vgl. Beyer / Plewnia 2019; Riel 2001: 18-19). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle GedĂ€chtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft und Trina ist gezwungen, ihre SchĂŒler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukĂŒnftiger Ehemann, fĂŒhrt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen UnterdrĂŒcker und deren Plan, das Dorf zu fluten.
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Die Handlung des Romans ist in der SĂŒdtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die ĂŒber Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen VerĂ€nderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-ErzĂ€hlerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse wĂ€hrend des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die ErzĂ€hlung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil SĂŒdtirols. Die Situation Ă€ndert sich drastisch, als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen UnterdrĂŒckung der deutschen Subkultur in SĂŒdtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bĂŒrokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Beyer/Plewnia 2019; Riel 2001, 18 f.). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle GedĂ€chtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft, und Trina ist gezwungen, ihre SchĂŒler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukĂŒnftiger Ehemann, fĂŒhrt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen UnterdrĂŒcker und deren Plan, das Dorf zu fluten.
  
 
Wenige Jahre spĂ€ter wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und SĂŒdtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurĂŒck. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. WĂ€hrend sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der ĂŒberfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den AufhĂ€nger fĂŒr Balzanos Roman bildet.
 
Wenige Jahre spĂ€ter wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und SĂŒdtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurĂŒck. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. WĂ€hrend sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der ĂŒberfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den AufhĂ€nger fĂŒr Balzanos Roman bildet.
  
 
== SubjektivitÀt und Traumerleben ==
 
== SubjektivitÀt und Traumerleben ==
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Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven GedĂ€chtnis SĂŒdtirols und Italiens leisten (Vgl. Grite / Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begrĂŒndet er sein Vorhaben wie folgt:
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Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven GedĂ€chtnis SĂŒdtirols und Italiens leisten (Grite/Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begrĂŒndet er sein Vorhaben wie folgt:
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
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: <span style="color: #7b879e;">A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina nĂ© quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune [
] O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piĂș intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la ''s'' maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piĂș generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei [
] trovato interesse sufficiente per [
] scrivere un romanzo. (RQ 2018, 178-179)<ref>
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: <span style="color: #7b879e;">A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina nĂ© quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune [
]. O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piĂș intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la ''s'' maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piĂș generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei [
] trovato interesse sufficiente per [
] scrivere un romanzo (RQ 178 f.).
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»Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der SĂŒdtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen ĂŒberrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte [
] Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren fĂŒr mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. HĂ€tte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafĂŒr eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen AblĂ€ufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein ĂŒber Verantwortungslosigkeit, ĂŒber Grenzen, ĂŒber Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hĂ€tte ich [
] nicht genug Interesse aufgebracht, um [
] einen Roman darĂŒber zu schreiben.« (IBH 2020, 283–284)</ref></span>
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: <span style="color: #7b879e;">Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der SĂŒdtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen ĂŒberrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte [
]. Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren fĂŒr mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. HĂ€tte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafĂŒr eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen AblĂ€ufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein ĂŒber Verantwortungslosigkeit, ĂŒber Grenzen, ĂŒber Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hĂ€tte ich [
] nicht genug Interesse aufgebracht, um [
] einen Roman darĂŒber zu schreiben (RQd 283 f.)</span>
 
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Die Wahl einer homodiegetischen ErzĂ€hlinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstĂ€rkt wird (Vgl. Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzĂ€hlt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfĂ€ltig ausgewĂ€hlte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr hatten. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen TrĂ€ume wiederholt eine Rolle.
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Die Wahl einer homodiegetischen ErzĂ€hlinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstĂ€rkt wird (Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzĂ€hlt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfĂ€ltig ausgewĂ€hlte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr haben. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen TrĂ€ume wiederholt eine Rolle.
  
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Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine RĂŒckkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in ''Resto qui'' zum Bau des Staudamms ins SĂŒdtiroler Dorf Graun geholt werden, ĂŒberlegt die ErzĂ€hlerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa.« (RQ 2018, 150)<ref>
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Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine RĂŒckkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in ''Resto qui'' zum Bau des Staudamms ins SĂŒdtiroler Dorf Graun geholt werden, ĂŒberlegt die ErzĂ€hlerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa« (RQ 150; »Bestimmt trĂ€umten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer RĂŒckkehr schlafen wĂŒrden«, RQd 239). Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale VerstĂ€ndigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine BrĂŒcke des VerstĂ€ndnisses und der VerstĂ€ndigung.
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»Bestimmt trĂ€umten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer RĂŒckkehr schlafen wĂŒrden.« (Ebd. 239)</ref></span>
 
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|} Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale VerstĂ€ndigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine BrĂŒcke des VerstĂ€ndnisses und der VerstĂ€ndigung.
 
  
 
== Grenzerfahrung und VergangenheitsbewÀltigung im Traum ==
 
== Grenzerfahrung und VergangenheitsbewÀltigung im Traum ==
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: <span style="color: #7b879e;">Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perchĂ© il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finchĂ© mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra. (RQ 2018, 73)<ref>
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: <span style="color: #7b879e;">Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perchĂ© il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finchĂ© mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra (RQ 73).
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»Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich ĂŒberhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon trĂ€umte ich nachts, ihn mit dir zu ĂŒberqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fĂŒrchtete mich davor, ihn wieder zu trĂ€umen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme FlĂŒssigkeit umhĂŒllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine fĂŒr die andere wieder die ganze Welt.« (IBH 2020, 122-123)</ref></span>
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: <span style="color: #7b879e;">Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich ĂŒberhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon trĂ€umte ich nachts, ihn mit dir zu ĂŒberqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fĂŒrchtete mich davor, ihn wieder zu trĂ€umen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme FlĂŒssigkeit umhĂŒllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine fĂŒr die andere wieder die ganze Welt (RQd 122 f.).</span>
 
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Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und EindrĂŒcke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen VerknĂŒpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen prĂ€natalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter fĂŒr die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre spĂ€ter das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurĂŒck, ihn zu trĂ€umen. Ganz bewusst versucht sie, den Ă€ußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer RĂŒckkehr abzuschließen.
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Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und EindrĂŒcke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen VerknĂŒpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen prĂ€natalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter fĂŒr die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre spĂ€ter das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurĂŒck, ihn zu trĂ€umen. Ganz bewusst versucht sie, den Ă€ußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: Denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer RĂŒckkehr abzuschließen.
  
 
Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:
 
Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:
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: <span style="color: #7b879e;">Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piĂș libera. (RQ 2018, 90)<ref>
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: <span style="color: #7b879e;">Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piĂș libera (RQ 90).
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»Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlĂŒpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefĂŒhlt.« (IBH 2020, 149-150)
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: <span style="color: #7b879e;">Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlĂŒpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefĂŒhlt (RQd 149 f.).</span>
 
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: <span style="color: #7b879e;">La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra Ú finita!« (Ebd., 114)<ref>
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: <span style="color: #7b879e;">La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra Ú finita!« (RQ 114).
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»Am Abend auf dem BlĂ€tterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir trĂ€umen wĂŒrde. Doch fast immer trĂ€umte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: â€șTrina, der Krieg ist aus!â€č« « (Ebd. 185)</ref></span>
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: <span style="color: #7b879e;">Am Abend auf dem BlĂ€tterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir trĂ€umen wĂŒrde. Doch fast immer trĂ€umte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: »Trina, der Krieg ist aus!â€č« (RQd 185).</span>
 
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: <span style="color: #7b879e;">Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finchĂ© senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa. (Ebd. 128)<ref>
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: <span style="color: #7b879e;">Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finchĂ© senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa (RQ 128).
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»Eines Morgens sah ich dich zwischen den BĂ€umen. Du warst noch ein Kind. Ich ĂŒberließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem RĂŒcken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der LĂ€rchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hĂ€mmerte mit den FĂ€usten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem RĂŒckweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen wĂŒrde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, wĂŒrde ich in den Ofen werfen.« (Ebd. 204)</ref></span>
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: <span style="color: #7b879e;">Eines Morgens sah ich dich zwischen den BĂ€umen. Du warst noch ein Kind. Ich ĂŒberließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem RĂŒcken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der LĂ€rchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hĂ€mmerte mit den FĂ€usten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem RĂŒckweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen wĂŒrde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, wĂŒrde ich in den Ofen werfen (RQd 204).</span>
 
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Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und RealitĂ€t vermischen sich in dieser Passage, zum Beispiel, wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines MĂ€dchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schĂŒtzen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica lĂ€uft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unĂŒberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunĂ€chst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter fĂŒr das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. WĂ€hrend unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsĂ€chlich zerstört, weiß der Leser bereits, dass es Trina einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.
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Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und RealitĂ€t vermischen sich in dieser Passage - zum Beispiel wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines MĂ€dchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schĂŒtzen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica lĂ€uft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unĂŒberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunĂ€chst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter fĂŒr das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. WĂ€hrend unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsĂ€chlich zerstört, wissen wir als Rezipienten bereits, dass es ihr einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
 
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== Literatur ==
 
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=== PrimÀrliteratur ===
 
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Balzano, Marco (2018). ''Resto qui'', Turin, Einaudi.
 
  
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Balzano, Marco (2020). ''Ich bleibe hier'', aus dem Italienischen von Maja Pflug, ZĂŒrich, Diogenes.
 
  
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=== SekundÀrliteratur ===
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
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Beyer, R. / Plewnia, A. (Eds.) (2019) ''Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen'', Narr, TĂŒbingen.
 
  
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Forkel, R. (2019) ‘Literarisches ErzĂ€hlen ĂŒber die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende: Bestandaufnahme und Typologie’, in Fulda, D. and Jaegere, S. (Eds.), ''Romanhaftes ErzĂ€hlen von Geschichte'', de Gruyter, Berlin, S. 205–229.
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== Literatur ==
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=== Ausgaben ===
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Grote, G. / Siller, B. (2011) ''SĂŒdtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen'', Wagner, Innsbruck.
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* Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018 (zitiert als RQ).
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* Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. ZĂŒrich: Diogenes 2020 (zitiert als RQd).
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Grugger, H. (2021) ‘Zum Begriff des Generationenromans’, in Grugger, H. and Holzner, J. (Eds.), ''Der'' ''Generationenroman'', de Gruyter, Berlin, S. 3–17.
 
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Klettenhammer, S. (2013) ‘Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen SĂŒdtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende’, in Cescutti, M., Holzner, J. and Vorderegger, R. (Eds.), ''Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse'', Wagner, Innsbruck, S. 241–269.
 
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Orosz, M. (2016) ‘Kriegsgeschichte aus der Retrospektive: Erinnerung in diskursiver Verarbeitung’, in Beßlich, B. and Felder, E. (Eds.), ''Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert'', Peter Lang, Bern, S. 133–153.  
 
  
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Riel, C.M. (2001) ''Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit''. ''Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in SĂŒdtirol und Ostbelgien''. TĂŒbingen. Stauffenberg.
 
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==Anmerkungen==
 
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<references />
 
  
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=== Forschungsliteratur ===
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* Beyer, Rahel/Albrecht Plewnia (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. TĂŒbingen: Narr 2019.
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* Forkel, Robert: Literarisches ErzĂ€hlen ĂŒber die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes ErzĂ€hlen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229.
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* Grote, Georg/Barbara Siller: SĂŒdtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011.
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* Grugger, Helmut: Zum Begriff des Generationenromans. In: Ders./Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin: de Gruyter 2021, 3–17.
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* Klettenhammer, Sieglinde: Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen SĂŒdtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende. In: Cescutti, Marjan/Johann Holzner/Roger Vorderegger (Hg.): Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269.
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* Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.
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* Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in SĂŒdtirol und Ostbelgien. TĂŒbingen: Stauffenberg 2001.
  
  
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Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022;[http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Resto_qui%22_(Marco_Balzano)].
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Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Resto_qui%22_(Marco_Balzano).
  
 
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Aktuelle Version vom 22. Februar 2022, 22:55 Uhr

Resto qui, italienische Erstausgabe

Der 2018 veröffentlichter Roman Resto qui (dt.: Ich bleibe hier) des italienischen Autors Marco Balzano (*1978) gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine wichtige Rolle fĂŒr die BeschĂ€ftigung mit der SĂŒdtiroler Vergangenheit spielt (Grugger 2021; Klettenhammer 2013, 243). Resto qui erzĂ€hlt die Lebensgeschichte der SĂŒdtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts.


Handlung

Die Handlung des Romans ist in der SĂŒdtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die ĂŒber Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen VerĂ€nderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-ErzĂ€hlerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse wĂ€hrend des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die ErzĂ€hlung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil SĂŒdtirols. Die Situation Ă€ndert sich drastisch, als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen UnterdrĂŒckung der deutschen Subkultur in SĂŒdtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bĂŒrokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Beyer/Plewnia 2019; Riel 2001, 18 f.). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle GedĂ€chtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft, und Trina ist gezwungen, ihre SchĂŒler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukĂŒnftiger Ehemann, fĂŒhrt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen UnterdrĂŒcker und deren Plan, das Dorf zu fluten.

Wenige Jahre spĂ€ter wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und SĂŒdtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurĂŒck. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. WĂ€hrend sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der ĂŒberfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den AufhĂ€nger fĂŒr Balzanos Roman bildet.

SubjektivitÀt und Traumerleben

Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven GedĂ€chtnis SĂŒdtirols und Italiens leisten (Grite/Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begrĂŒndet er sein Vorhaben wie folgt:

A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina nĂ© quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune [
]. O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piĂș intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la s maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piĂș generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei [
] trovato interesse sufficiente per [
] scrivere un romanzo (RQ 178 f.).
Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der SĂŒdtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen ĂŒberrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte [
]. Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren fĂŒr mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. HĂ€tte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafĂŒr eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen AblĂ€ufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein ĂŒber Verantwortungslosigkeit, ĂŒber Grenzen, ĂŒber Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hĂ€tte ich [
] nicht genug Interesse aufgebracht, um [
] einen Roman darĂŒber zu schreiben (RQd 283 f.)

Die Wahl einer homodiegetischen ErzĂ€hlinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstĂ€rkt wird (Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzĂ€hlt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfĂ€ltig ausgewĂ€hlte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr haben. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen TrĂ€ume wiederholt eine Rolle.

Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine RĂŒckkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in Resto qui zum Bau des Staudamms ins SĂŒdtiroler Dorf Graun geholt werden, ĂŒberlegt die ErzĂ€hlerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa« (RQ 150; »Bestimmt trĂ€umten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer RĂŒckkehr schlafen wĂŒrden«, RQd 239). Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale VerstĂ€ndigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine BrĂŒcke des VerstĂ€ndnisses und der VerstĂ€ndigung.

Grenzerfahrung und VergangenheitsbewÀltigung im Traum

DarĂŒber hinaus bilden TrĂ€ume und Halluzinationen in Resto Qui einen liminalen Raum, in dem die Protagonistin mit ihren Traumata und tiefsten Ängsten konfrontiert wird, vor allem mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter Marica. Das subjektive Familienschicksal ĂŒberlagert in Balzanos Roman die historischen Ereignisse: Nach der MachtĂŒbernahme durch die Faschisten entschließt sich die kleine Marica, mit Onkel und Tante heimlich das Heimatdorf Graun zu verlassen. In einem Abschiedsbrief begrĂŒndet sie ihre Flucht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Obwohl dieser Brief das letzte Lebenszeichen ist, das die Familie jemals erreicht – oder gerade deswegen – bleibt die Tochter im Familienleben allgegenwĂ€rtig. Die ErzĂ€hlung selbst prĂ€sentiert sich wie eine Autobiographie der Mutter, die sie als Brief an die Tochter verfasst. So konstruiert der Autor ein komplexes Netz aus ineinander verflochtenen Erinnerungsmedien, bestehend aus dem â€șautobiographischen Briefâ€č â€“ dem narrativen Rahmen also –, intradiegetischen Briefen, Fotos, Zeichnungen und auch TrĂ€umen. WĂ€hrend die Mutter die verschwundene Tochter ĂŒber Jahre hinweg in ihrem Leben hĂ€lt, indem sie ihr tĂ€glich einen Brief schreibt, fĂŒllt der Vater heimlich ein ganzes Heft mit Zeichnungen von der Tochter. Dabei bleibt der Schmerz ĂŒber den Verlust zwischen den beiden Eheleuten unausgesprochen, wird mit der Zeit unaussprechbar: Gerade das Briefeschreiben bedeutet VerdrĂ€ngung, denn es suggeriert, dass der Verlust nicht als solcher angenommen wird, dass die Tochter immer noch wirklicher, prĂ€senter Teil der Familie ist. Erst im Traum holen der Schmerz und das GefĂŒhl des Verlusts die Protagonistin ein. So zum Beispiel nach einem Spaziergang zum See, zu dem sie ihre beste Freundin drĂ€ngt:

Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perchĂ© il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finchĂ© mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra (RQ 73).
Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich ĂŒberhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon trĂ€umte ich nachts, ihn mit dir zu ĂŒberqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fĂŒrchtete mich davor, ihn wieder zu trĂ€umen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme FlĂŒssigkeit umhĂŒllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine fĂŒr die andere wieder die ganze Welt (RQd 122 f.).

Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und EindrĂŒcke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen VerknĂŒpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen prĂ€natalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter fĂŒr die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre spĂ€ter das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurĂŒck, ihn zu trĂ€umen. Ganz bewusst versucht sie, den Ă€ußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: Denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer RĂŒckkehr abzuschließen.

Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:

Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piĂș libera (RQ 90).
Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlĂŒpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefĂŒhlt (RQd 149 f.).

Doch das GefĂŒhl der Befreiung hĂ€lt nicht lange an. In der Einsamkeit der Hochalpen wird Trina regelmĂ€ĂŸig von ihren Erinnerungen eingeholt, wĂ€hrend sich ihr Unterbewusstsein gleichzeitig zu weigern scheint, die schmerzhafte Vergangenheit zu verarbeiten:

La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perchĂ© sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra Ăš finita!« (RQ 114).
Am Abend auf dem BlĂ€tterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir trĂ€umen wĂŒrde. Doch fast immer trĂ€umte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: »Trina, der Krieg ist aus!â€č« (RQd 185).

Obwohl Trina wĂ€hrend ihrer Zeit im Exil wiederkehrende TrĂ€ume hat, trĂ€umt sie offenbar kaum von ihrer Tochter. Auch wenn die obige Passage darauf hindeutet, dass ihre Tochter manchmal in den TrĂ€umen der Protagonistin auftaucht, so wird doch keiner dieser TrĂ€ume im Text erzĂ€hlt. WĂ€hrend der Episode im Hochgebirge, die nur vage durch einen festen Tagesablauf strukturiert ist, scheint Trina wie paralysiert im Zustand der Trauer. Statt einer Konfrontation mit der Vergangenheit nehmen ihre TrĂ€ume vielmehr die Form einer Flucht in noch dunklere Tiefen an: Das wiederholte Traumbild des kleinen Jungen, eines unbekannten Kindes, das wĂ€hrend der Kriegszeit in Trinas Armen Trost sucht und findet, unterstreicht das GefĂŒhl der totalen mĂŒtterlichen Hilflosigkeit. Die TraumprĂ€senz dieses anderen Kindes verweist auf die unertrĂ€gliche Abwesenheit ihres eigenen Kindes in der primĂ€ren Welt.

Erst nach Kriegsende, nachdem Trina und Erich endlich in ihr Haus zurĂŒckgekehrt sind, hat die Protagonistin am helllichten Tag erneut eine traumhafte Begegnung mit ihrer Tochter:

Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finchĂ© senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa (RQ 128).
Eines Morgens sah ich dich zwischen den BĂ€umen. Du warst noch ein Kind. Ich ĂŒberließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem RĂŒcken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der LĂ€rchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hĂ€mmerte mit den FĂ€usten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem RĂŒckweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen wĂŒrde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, wĂŒrde ich in den Ofen werfen (RQd 204).

Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und RealitĂ€t vermischen sich in dieser Passage - zum Beispiel wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines MĂ€dchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schĂŒtzen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica lĂ€uft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unĂŒberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunĂ€chst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter fĂŒr das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. WĂ€hrend unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsĂ€chlich zerstört, wissen wir als Rezipienten bereits, dass es ihr einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.


Sophia Mehrbrey

Literatur

Ausgaben

  • Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018 (zitiert als RQ).
  • Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. ZĂŒrich: Diogenes 2020 (zitiert als RQd).


Forschungsliteratur

  • Beyer, Rahel/Albrecht Plewnia (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. TĂŒbingen: Narr 2019.
  • Forkel, Robert: Literarisches ErzĂ€hlen ĂŒber die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes ErzĂ€hlen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229.
  • Grote, Georg/Barbara Siller: SĂŒdtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011.
  • Grugger, Helmut: Zum Begriff des Generationenromans. In: Ders./Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin: de Gruyter 2021, 3–17.
  • Klettenhammer, Sieglinde: Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen SĂŒdtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende. In: Cescutti, Marjan/Johann Holzner/Roger Vorderegger (Hg.): Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269.
  • Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.
  • Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in SĂŒdtirol und Ostbelgien. TĂŒbingen: Stauffenberg 2001.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Resto_qui%22_(Marco_Balzano).