"Se questo Ăš un uomo" (Primo Levi): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
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==Autor und Gesamtwerk==
 
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Der jĂŒdische Autor Primo Levi studierte trotz der seit 1938 in Italien geltenden faschistischen Rassengesetze Chemie und war die meiste Zeit seines Lebens als Chemiker tĂ€tig. Im Herbst 1943 schloss er sich der antifaschistischen Widerstandsbewegung „Giustizia e libertà“ an, wurde kurz darauf verhaftet und musste sich entscheiden, entweder als Partisan erschossen oder als Jude deportiert zu werden. Von Februar 1944 bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 war Levi als Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Auschwitz III (Auschwitz-Monowitz) interniert, wo er als Chemiker in den Buna-Werken eingesetzt wurde. Durch eine schwere Krankheit entging er den TodesmĂ€rschen im Winter 1944/45 und ĂŒberlebte das Konzentrationslager. Nach einer knapp zehnmonatigen RĂŒckreise quer durch Osteuropa begann er, seine Erfahrungen als Shoah-Überlebender literarisch zu verarbeiten. Neben zahlreichen ErzĂ€hlungen verfasste er eine durch die Elemente des chemischen Periodensystems strukturierte Autobiographie ''Il sistema periodico'' (1975) [Das periodische System]. Vor allem der Bericht ''Se questo Ăš un uomo'' (1947) [Ist das ein Mensch?], aber auch ''La Tregua'' (1963) [Die Atempause] und sein letztes Buch ''I sommersi e i salvati'' (1986) [Die Untergegangenen und die Geretteten] zĂ€hlen zu den weltweit bedeutendsten Zeugnissen der Shoah-Literatur.
 
Der jĂŒdische Autor Primo Levi studierte trotz der seit 1938 in Italien geltenden faschistischen Rassengesetze Chemie und war die meiste Zeit seines Lebens als Chemiker tĂ€tig. Im Herbst 1943 schloss er sich der antifaschistischen Widerstandsbewegung „Giustizia e libertà“ an, wurde kurz darauf verhaftet und musste sich entscheiden, entweder als Partisan erschossen oder als Jude deportiert zu werden. Von Februar 1944 bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 war Levi als Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Auschwitz III (Auschwitz-Monowitz) interniert, wo er als Chemiker in den Buna-Werken eingesetzt wurde. Durch eine schwere Krankheit entging er den TodesmĂ€rschen im Winter 1944/45 und ĂŒberlebte das Konzentrationslager. Nach einer knapp zehnmonatigen RĂŒckreise quer durch Osteuropa begann er, seine Erfahrungen als Shoah-Überlebender literarisch zu verarbeiten. Neben zahlreichen ErzĂ€hlungen verfasste er eine durch die Elemente des chemischen Periodensystems strukturierte Autobiographie ''Il sistema periodico'' (1975) [Das periodische System]. Vor allem der Bericht ''Se questo Ăš un uomo'' (1947) [Ist das ein Mensch?], aber auch ''La Tregua'' (1963) [Die Atempause] und sein letztes Buch ''I sommersi e i salvati'' (1986) [Die Untergegangenen und die Geretteten] zĂ€hlen zu den weltweit bedeutendsten Zeugnissen der Shoah-Literatur.
  
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==Werk==
 
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===Überblick===
 
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Die 17 Kapitel des Textes geben in chronologischer Reihenfolge folgende Ereignisse wieder: die Verhaftung des autobiographischen ErzĂ€hlers am 13. Dezember 1943, die Deportation in das Durchgangslager Fossoli, der Weitertransport im Viehwaggon nach Auschwitz, der Einsatz als Zwangsarbeiter im Chemielabor der Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, die Erkrankung des ErzĂ€hlers an Scharlach, seine Verlegung in den Krankenbau von Auschwitz und die Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Über die Vermittlung der persönlichen Erfahrungen hinaus ist der Bericht eine scharfsichtige Analyse des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates: Es geht um die einzelnen Stationen Entmenschlichung, die Logik des Lageralltags und der Zwangsarbeit, die Prinzipien der Selektion und die begrenzten individuellen Möglichkeiten, die Überlebenschancen zu erhöhen. Festgehalten werden zudem eindrĂŒckliche Gesten der SolidaritĂ€t und der Mitmenschlichkeit in der Erinnerung an einzelne HĂ€ftlinge.
 
Die 17 Kapitel des Textes geben in chronologischer Reihenfolge folgende Ereignisse wieder: die Verhaftung des autobiographischen ErzĂ€hlers am 13. Dezember 1943, die Deportation in das Durchgangslager Fossoli, der Weitertransport im Viehwaggon nach Auschwitz, der Einsatz als Zwangsarbeiter im Chemielabor der Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, die Erkrankung des ErzĂ€hlers an Scharlach, seine Verlegung in den Krankenbau von Auschwitz und die Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Über die Vermittlung der persönlichen Erfahrungen hinaus ist der Bericht eine scharfsichtige Analyse des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates: Es geht um die einzelnen Stationen Entmenschlichung, die Logik des Lageralltags und der Zwangsarbeit, die Prinzipien der Selektion und die begrenzten individuellen Möglichkeiten, die Überlebenschancen zu erhöhen. Festgehalten werden zudem eindrĂŒckliche Gesten der SolidaritĂ€t und der Mitmenschlichkeit in der Erinnerung an einzelne HĂ€ftlinge.
 
Der Bericht Levis verzichtet weitgehend auf Schuldzuweisungen und Anklagen. Stattdessen stellt er generell die Frage nach dem Wesen des Menschen innerhalb des Systems nationalsozialistischer Massenvernichtung. Die betonte Sachlichkeit und die ObjektivitĂ€t der erzĂ€hlten Erfahrungen stehen allerdings nicht im Widerspruch zu den spezifisch literarisch-Ă€sthetischen Gestaltungsverfahren (Solte-Gresser 2012, 70-75). Neben der Bedeutung von Sprache und Literatur fĂŒr die Wahrnehmung des erzĂ€hlenden Ich im Allgemeinen, sind die zahlreichen intertextuellen BezĂŒge des Werkes von großer Bedeutung. Es finden sich Verweise unter anderem auf die antike Mythologie, das Alte Testament, die Thora, Dantes ''Divina Commedia'' [Die Göttliche Komödie] oder auch Nietzsches ''Jenseits von Gut und Böse'' (vgl. Amsallem 1992, Kasper 2016).
 
Der Bericht Levis verzichtet weitgehend auf Schuldzuweisungen und Anklagen. Stattdessen stellt er generell die Frage nach dem Wesen des Menschen innerhalb des Systems nationalsozialistischer Massenvernichtung. Die betonte Sachlichkeit und die ObjektivitĂ€t der erzĂ€hlten Erfahrungen stehen allerdings nicht im Widerspruch zu den spezifisch literarisch-Ă€sthetischen Gestaltungsverfahren (Solte-Gresser 2012, 70-75). Neben der Bedeutung von Sprache und Literatur fĂŒr die Wahrnehmung des erzĂ€hlenden Ich im Allgemeinen, sind die zahlreichen intertextuellen BezĂŒge des Werkes von großer Bedeutung. Es finden sich Verweise unter anderem auf die antike Mythologie, das Alte Testament, die Thora, Dantes ''Divina Commedia'' [Die Göttliche Komödie] oder auch Nietzsches ''Jenseits von Gut und Böse'' (vgl. Amsallem 1992, Kasper 2016).
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===Veröffentlichung===
 
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Das Werk ist im Zeitraum von 1945 bis 1947 entstanden. Das Manuskript wurde zunĂ€chst zwei Mal vom Turiner Verlag Einaudi abgelehnt und von einem kleinen Verlag, Francesco De Silva, erstmals mit einer Auflage von nur 2.500 Exemplaren publiziert. Primo Levi ĂŒberarbeitete und ergĂ€nzte in den darauffolgenden zehn Jahren zusammen mit seiner Ehefrau Luisa Morpurgo das Manuskript grundlegend (beispielsweise durch das bekannte dritte Kapitel „Iniziazione“ / [Initiation]). Diese Fassung ersetzt unter anderem zahlreiche reale durch fiktive Namen, schafft durch Verallgemeinerungen und Versachlichungen eine grĂ¶ĂŸere Distanz zum Geschehen und verzichtet noch konsequenter auf Emotionen und Pathos (Tomson 2004 141-160). Seitdem die Neuauflage, mit einem anonymen Vorwort von Italo Calvino versehen, 1958 schließlich doch bei Einaudi erschienen ist, zĂ€hlt das Buch zu den Klassikern der Weltliteratur und den meistgelesenen Texten ĂŒber die Shoah (Miething 2005, 149). Obgleich die Forschungsliteratur zu ''Se questo Ăš un uomo'' kaum noch zu ĂŒberblicken ist, steht die Thematik des Traums nur selten im Zentrum der Auseinandersetzung. Eingehend widmen sich ihr jedoch Kasper 2016, Kuon 2013 und Segre 2005. Die nach wie vor detailliertesten Forschungsberichte zu ''Se questo Ăš un uomo'' liefern Ernesto Ferrero (1997) und Robert Gordon (2001).
 
Das Werk ist im Zeitraum von 1945 bis 1947 entstanden. Das Manuskript wurde zunĂ€chst zwei Mal vom Turiner Verlag Einaudi abgelehnt und von einem kleinen Verlag, Francesco De Silva, erstmals mit einer Auflage von nur 2.500 Exemplaren publiziert. Primo Levi ĂŒberarbeitete und ergĂ€nzte in den darauffolgenden zehn Jahren zusammen mit seiner Ehefrau Luisa Morpurgo das Manuskript grundlegend (beispielsweise durch das bekannte dritte Kapitel „Iniziazione“ / [Initiation]). Diese Fassung ersetzt unter anderem zahlreiche reale durch fiktive Namen, schafft durch Verallgemeinerungen und Versachlichungen eine grĂ¶ĂŸere Distanz zum Geschehen und verzichtet noch konsequenter auf Emotionen und Pathos (Tomson 2004 141-160). Seitdem die Neuauflage, mit einem anonymen Vorwort von Italo Calvino versehen, 1958 schließlich doch bei Einaudi erschienen ist, zĂ€hlt das Buch zu den Klassikern der Weltliteratur und den meistgelesenen Texten ĂŒber die Shoah (Miething 2005, 149). Obgleich die Forschungsliteratur zu ''Se questo Ăš un uomo'' kaum noch zu ĂŒberblicken ist, steht die Thematik des Traums nur selten im Zentrum der Auseinandersetzung. Eingehend widmen sich ihr jedoch Kasper 2016, Kuon 2013 und Segre 2005. Die nach wie vor detailliertesten Forschungsberichte zu ''Se questo Ăš un uomo'' liefern Ernesto Ferrero (1997) und Robert Gordon (2001).
  
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==Die TrÀume==
 
==Die TrÀume==
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===Situierung===
 
===Situierung===
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Das fĂŒnfte Kapitel aus ''Se questo Ăš un uomo'' beginnt mit der RĂŒckfĂŒhrung des ErzĂ€hlers vom Krankenbau in die Baracke und beschreibt zunĂ€chst das Elend der abendlichen Lagersituation kurz vor dem Einschlafen. Die zusammengepferchten MithĂ€ftlinge erscheinen dem erzĂ€hlenden Ich als fragmentierte Gliedmaßen, welche sich in den Körper des ErzĂ€hlers bohren. Zentrale Themen des Kapitels sind die Unmöglichkeit, in den Schlaf zu finden, und das stĂ€ndige nĂ€chtliche Hochschrecken im Wissen darum, dass der Terror im Morgengrauen unerbittlich fortgesetzt wird. Der anschließende Bericht ĂŒber individuelle und kollektive TrĂ€ume im Lager wird begleitet von einer allgemeinen Reflexion ĂŒber das TrĂ€umen unter den Bedingungen der Deportation. Levi beendet seinen Traumbericht mit der Beschreibung der Panik, die sich jeden Morgen nach dem Befehl zum Aufstehen („alzarsi“ / „wstawać“) ausbreitet. Damit entsteht zugleich eine explizite Verbindung zu Levis ''La Tregua'', seinem Bericht ĂŒber die RĂŒckkehr nach der Befreiung des Lagers: nĂ€mlich zu dessen Eingangsgedicht „Alzarsi“ und zum abschließend erzĂ€hlten Alptraum, der durch diesen Befehl beendet wird und der somit auch den Schluss dieses gesamten Werks bildet.
 
Das fĂŒnfte Kapitel aus ''Se questo Ăš un uomo'' beginnt mit der RĂŒckfĂŒhrung des ErzĂ€hlers vom Krankenbau in die Baracke und beschreibt zunĂ€chst das Elend der abendlichen Lagersituation kurz vor dem Einschlafen. Die zusammengepferchten MithĂ€ftlinge erscheinen dem erzĂ€hlenden Ich als fragmentierte Gliedmaßen, welche sich in den Körper des ErzĂ€hlers bohren. Zentrale Themen des Kapitels sind die Unmöglichkeit, in den Schlaf zu finden, und das stĂ€ndige nĂ€chtliche Hochschrecken im Wissen darum, dass der Terror im Morgengrauen unerbittlich fortgesetzt wird. Der anschließende Bericht ĂŒber individuelle und kollektive TrĂ€ume im Lager wird begleitet von einer allgemeinen Reflexion ĂŒber das TrĂ€umen unter den Bedingungen der Deportation. Levi beendet seinen Traumbericht mit der Beschreibung der Panik, die sich jeden Morgen nach dem Befehl zum Aufstehen („alzarsi“ / „wstawać“) ausbreitet. Damit entsteht zugleich eine explizite Verbindung zu Levis ''La Tregua'', seinem Bericht ĂŒber die RĂŒckkehr nach der Befreiung des Lagers: nĂ€mlich zu dessen Eingangsgedicht „Alzarsi“ und zum abschließend erzĂ€hlten Alptraum, der durch diesen Befehl beendet wird und der somit auch den Schluss dieses gesamten Werks bildet.
  
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===Beschreibung und Analyse===
 
===Beschreibung und Analyse===
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Levi beschreibt nach einigen einfĂŒhrenden Überlegungen ĂŒber die Bedeutung von Schlaf und Traum im Konzentrationslager, wie sich im Moment des Einschlafens mehrere BewusstseinszustĂ€nde ĂŒberlagern: Durch die harte Holzpritsche hat er den Eindruck, auf Eisenbahnschienen zu schlafen. Das ferne Pfeifen des Zuges stammt von den tatsĂ€chlichen GĂŒterzĂŒgen, die das Lager Buna-Monowitz durchqueren und die der TrĂ€umer tagsĂŒber beladen musste. Es handelt sich also um einen Tagesrest, der zugleich immer wieder ein (un-)mögliches Jenseits des Lagers vor Augen fĂŒhrt: Obwohl das Signal der Lokomotive kontinuierlich lauter wird, kommt der Zug niemals an, um den TrĂ€umenden mitzunehmen. Das durchdringende Pfeifen scheint vielmehr das gesamte Lagerelend zu reprĂ€sentieren: „ne e divenuto il simbolo“ (Levi 2005, 53) / [er ist zu dessen Symbol geworden]. Der Bericht fĂ€hrt damit fort, dass dem ErzĂ€hler im Traum Schwester und Freunde erscheinen. Der TrĂ€umer wird von einem existenziellen BedĂŒrfnis heimgesucht, ihnen seine Lagererfahrungen zu kommunizieren. Sobald er jedoch versucht, das Erlebte mitzuteilen, kehren sich die Zuhörer ab, „come se io non ci fossi“ (Levi 2005, 53, [als sei ich gar nicht vorhanden]), blicken den ErzĂ€hlenden gleichgĂŒltig an oder glauben ihm nicht. Die Angst, die den TrĂ€umer daraufhin befĂ€llt, ist derart unertrĂ€glich – sie wird mit den schlimmsten FiebertrĂ€umen der Kindheit verglichen – , dass er sich zwingt, aufzuwachen. Doch damit lĂ€sst sie sich nicht abschĂŒtteln; sie ĂŒbertrĂ€gt sich vielmehr auch auf den Wachzustand. Als der nun vollstĂ€ndig erwachte TrĂ€umer seine MithĂ€ftlinge beim Schlafen beobachtet, schließt er aus ihrem Stöhnen und ihren Kaubewegungen auf HungertrĂ€ume. Es folgt ein persönlicher Traumbericht von Nahrungsmitteln, die sich dem hungernden TrĂ€umer immer wieder entziehen, sobald er nach ihnen greift. Dieser Traum wird mit großer sinnlicher Konkretheit in Szene gesetzt: Der ErzĂ€hler fĂŒhrt vor Augen, wie der Alptraum seinen gesamten Körper affiziert und er schreiend versucht, ihn zu verscheuchen.
 
Levi beschreibt nach einigen einfĂŒhrenden Überlegungen ĂŒber die Bedeutung von Schlaf und Traum im Konzentrationslager, wie sich im Moment des Einschlafens mehrere BewusstseinszustĂ€nde ĂŒberlagern: Durch die harte Holzpritsche hat er den Eindruck, auf Eisenbahnschienen zu schlafen. Das ferne Pfeifen des Zuges stammt von den tatsĂ€chlichen GĂŒterzĂŒgen, die das Lager Buna-Monowitz durchqueren und die der TrĂ€umer tagsĂŒber beladen musste. Es handelt sich also um einen Tagesrest, der zugleich immer wieder ein (un-)mögliches Jenseits des Lagers vor Augen fĂŒhrt: Obwohl das Signal der Lokomotive kontinuierlich lauter wird, kommt der Zug niemals an, um den TrĂ€umenden mitzunehmen. Das durchdringende Pfeifen scheint vielmehr das gesamte Lagerelend zu reprĂ€sentieren: „ne e divenuto il simbolo“ (Levi 2005, 53) / [er ist zu dessen Symbol geworden]. Der Bericht fĂ€hrt damit fort, dass dem ErzĂ€hler im Traum Schwester und Freunde erscheinen. Der TrĂ€umer wird von einem existenziellen BedĂŒrfnis heimgesucht, ihnen seine Lagererfahrungen zu kommunizieren. Sobald er jedoch versucht, das Erlebte mitzuteilen, kehren sich die Zuhörer ab, „come se io non ci fossi“ (Levi 2005, 53, [als sei ich gar nicht vorhanden]), blicken den ErzĂ€hlenden gleichgĂŒltig an oder glauben ihm nicht. Die Angst, die den TrĂ€umer daraufhin befĂ€llt, ist derart unertrĂ€glich – sie wird mit den schlimmsten FiebertrĂ€umen der Kindheit verglichen – , dass er sich zwingt, aufzuwachen. Doch damit lĂ€sst sie sich nicht abschĂŒtteln; sie ĂŒbertrĂ€gt sich vielmehr auch auf den Wachzustand. Als der nun vollstĂ€ndig erwachte TrĂ€umer seine MithĂ€ftlinge beim Schlafen beobachtet, schließt er aus ihrem Stöhnen und ihren Kaubewegungen auf HungertrĂ€ume. Es folgt ein persönlicher Traumbericht von Nahrungsmitteln, die sich dem hungernden TrĂ€umer immer wieder entziehen, sobald er nach ihnen greift. Dieser Traum wird mit großer sinnlicher Konkretheit in Szene gesetzt: Der ErzĂ€hler fĂŒhrt vor Augen, wie der Alptraum seinen gesamten Körper affiziert und er schreiend versucht, ihn zu verscheuchen.
 
Das Kapitel fĂ€hrt mit einem Bericht ĂŒber den halluzinatorischen DĂ€mmerzustand fort, in dem sich die Internierten nachts die meiste Zeit ĂŒber befinden. Da selbst dieser Halbschlaf zudem unablĂ€ssig vom bevorstehenden Befehl zum Aufstehen bedroht wird, gelingt es den TrĂ€umenden weder, sich vor den AlptrĂ€umen zu schĂŒtzen, noch Schlaf und Traum gegen die tatsĂ€chlichen Qualen des anbrechenden Tages abzuschotten. Durch den Befehl „Wstawać “(Levi 2005, 56) geht der Text schließlich abrupt vom traumĂ€hnlichen Zustand, also von der Innensicht des TrĂ€umers, in das objektiv rekonstruierte Chaos der Baracke anlĂ€sslich des morgendlichen Arbeitsbeginns ĂŒber.
 
Das Kapitel fĂ€hrt mit einem Bericht ĂŒber den halluzinatorischen DĂ€mmerzustand fort, in dem sich die Internierten nachts die meiste Zeit ĂŒber befinden. Da selbst dieser Halbschlaf zudem unablĂ€ssig vom bevorstehenden Befehl zum Aufstehen bedroht wird, gelingt es den TrĂ€umenden weder, sich vor den AlptrĂ€umen zu schĂŒtzen, noch Schlaf und Traum gegen die tatsĂ€chlichen Qualen des anbrechenden Tages abzuschotten. Durch den Befehl „Wstawać “(Levi 2005, 56) geht der Text schließlich abrupt vom traumĂ€hnlichen Zustand, also von der Innensicht des TrĂ€umers, in das objektiv rekonstruierte Chaos der Baracke anlĂ€sslich des morgendlichen Arbeitsbeginns ĂŒber.
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===Interpretation===
 
===Interpretation===
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Das fĂŒnfte Kapitel aus Levis Bericht nĂ€hert sich auf verschiedenen Ebenen dem PhĂ€nomen des Lagertraums an: ZunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass wir durch diesen Textabschnitt einen detaillierten Einblick in die qualvollen Bedingungen des Schlafens im Konzentrationslager erhalten, das freilich eher ein Delirium als tatsĂ€chlichen Schlaf darstellt. DarĂŒber hinaus entsteht hier eine komplexe Verbindung aus individuellen und kollektiven TraumerzĂ€hlungen. Die beiden erzĂ€hlten TrĂ€ume sind zunĂ€chst einmal persönliche Traumerfahrungen des autobiographischen Ich. Sie ĂŒbersteigen das singulĂ€re Erleben jedoch gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen handelt es sich um stets wiederkehrende, sich in zahllosen Variationen abspielende AlptrĂ€ume. Zum anderen stellt der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich fest, dass auch viele seiner MithĂ€ftlinge, ja „vielleicht alle“ ("forse tutti", Levi 2005, 54), von denselben TrĂ€umen heimgesucht werden; dass es sich mithin um kollektive TraumphĂ€nomene handelt.
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Nicht nur rĂŒckblickend, sondern bereits im Lager selbst findet also eine Kommunikation ĂŒber das nĂ€chtlich GetrĂ€umte statt, das sodann einer gemeinsamen Reflexion unterzogen wird: Allein durch den morgendlichen Dialog mit einem Freund kann der ErzĂ€hler erkennen, dass seine eigenen TrĂ€ume sich weitgehend mit denen der MithĂ€ftlinge decken. Der Bericht hĂ€lt sowohl klar markierte Schlaf-TrĂ€ume, als auch halluzinatorische EindrĂŒcke fest und analysiert sehr prĂ€zise diese unterschiedlichen BewusstseinsvorgĂ€nge. Insgesamt ist jedoch keine eindeutige Trennung zwischen Traum und Wachwelt auszumachen: Der Bewusstseinszustand der Inhaftierten bewegt sich auf der Grenze zwischen Delirium, Erinnerung, Agonie und Klarsichtigkeit ĂŒber die ausweglose Situation. Was die eigentlichen, eindeutig zu identifizierenden AlptrĂ€ume angeht, so prĂ€sentiert der ErzĂ€hler im Wesentlichen zwei Themenkomplexe kollektiver TrĂ€ume: den Traum vom verwehrten Essen und den Traum vom verhinderten ErzĂ€hlen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten LagerrealitĂ€t und verschiedenen ErklĂ€rungsansĂ€tzen. Die Struktur dieser TrĂ€ume analysiert der ErzĂ€hler selbst: Die HungertrĂ€ume verweben sich mit den immer wiederkehrenden TrĂ€umen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem grĂ¶ĂŸeren Netz aus verschiedensten EindrĂŒcken des zurĂŒckliegenden Tages. Der Bericht verfĂ€hrt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“, Levi 2005, 55, [der Tantalustraum]): Die TrĂ€umer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalus. Auch fĂŒr diesen sind die köstlichsten FrĂŒchte und kĂŒhles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflĂŒchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusĂ€tzlich durch einen ĂŒber ihm schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstĂŒrzen kann, werden auch die Inhaftierten von der stĂ€ndigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequĂ€lt. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in ''Se questo Ăš un uomo'' zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination fĂŒr die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes ''Divina Commedia'' zu verstehen, wurde in zahlreichen weiteren Texten der Lagerliteratur wieder aufgenommen. Einer Auslegung bedĂŒrfen die einzelnen TrĂ€ume des Kapitels freilich kaum; auch die Reflexion ihrer Struktur und ihres Zustandekommens hat Levi in seinem Kapitel bereits selbst vorgenommen. DarĂŒber hinaus aber stellt sich anhand dieses Kapitels die Frage nach der grundsĂ€tzlichen Rolle von TrĂ€umen fĂŒr die Vermittlung und Verarbeitung des Genozids. In diesem Zusammenhang erörtert Levi zu Beginn seines Berichts die positiven Funktionen des TrĂ€umens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter den extremsten Bedingungen sei der Mensch fĂ€hig, sich im Schlaf „einen Schlupfwinkel zu schaffen“ („scavarsi una nicchia“, Levi 2005, 50), eine „dĂŒnne Schutzwand rings um sich zu errichten“ („erigersi intorno una tenua barriera di difesa“, ebd.): Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten („ci si Ăš fatto un nido, il trauma del travasamento Ăš superato“, ebd., [Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung ist ĂŒberwunden]). Allerdings widerlegen die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels diese Thesen. Hatte der ErzĂ€hler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit im Vordergrund, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können. Die „geschilderten TrĂ€ume [...] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“ (Kasper 2016, 85). Der Traum vom verwehrten ErzĂ€hlen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsĂ€chliche, nachtrĂ€gliche ErzĂ€hlung, die Levi seinen Lesern prĂ€sentiert, prekĂ€r, wenn nicht gar unmöglich. Das ErzĂ€hlen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben (Kasper 2016, 86). Die AbgrĂŒndigkeit dieser Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht ''La Tregua'' aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterfĂŒhrt.
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Das fĂŒnfte Kapitel aus Levis Bericht nĂ€hert sich auf verschiedenen Ebenen dem PhĂ€nomen des Lagertraums an: ZunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass wir durch diesen Textabschnitt einen detaillierten Einblick in die qualvollen Bedingungen des Schlafens im Konzentrationslager erhalten, das freilich eher ein Delirium als tatsĂ€chlichen Schlaf darstellt. DarĂŒber hinaus entsteht hier eine komplexe Verbindung aus individuellen und kollektiven TraumerzĂ€hlungen. Die beiden erzĂ€hlten TrĂ€ume sind zunĂ€chst einmal persönliche Traumerfahrungen des autobiographischen Ich. Sie ĂŒbersteigen das singulĂ€re Erleben jedoch gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen handelt es sich um stets wiederkehrende, sich in zahllosen Variationen abspielende AlptrĂ€ume. Zum anderen stellt der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich fest, dass auch viele seiner MithĂ€ftlinge, ja "forse tutti"([vielleicht alle] Levi 2005, 54), von denselben TrĂ€umen heimgesucht werden; dass es sich mithin um kollektive TraumphĂ€nomene handelt.
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Nicht nur rĂŒckblickend, sondern bereits im Lager selbst findet also eine Kommunikation ĂŒber das nĂ€chtlich GetrĂ€umte statt, das sodann einer gemeinsamen Reflexion unterzogen wird: Allein durch den morgendlichen Dialog mit einem Freund kann der ErzĂ€hler erkennen, dass seine eigenen TrĂ€ume sich weitgehend mit denen der MithĂ€ftlinge decken. Der Bericht hĂ€lt sowohl klar markierte Schlaf-TrĂ€ume, als auch halluzinatorische EindrĂŒcke fest und analysiert sehr prĂ€zise diese unterschiedlichen BewusstseinsvorgĂ€nge. Insgesamt ist jedoch keine eindeutige Trennung zwischen Traum und Wachwelt auszumachen: Der Bewusstseinszustand der Inhaftierten bewegt sich auf der Grenze zwischen Delirium, Erinnerung, Agonie und Klarsichtigkeit ĂŒber die ausweglose Situation. Was die eigentlichen, eindeutig zu identifizierenden AlptrĂ€ume angeht, so prĂ€sentiert der ErzĂ€hler im Wesentlichen zwei Themenkomplexe kollektiver TrĂ€ume: den Traum vom verwehrten Essen und den Traum vom verhinderten ErzĂ€hlen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten LagerrealitĂ€t und verschiedenen ErklĂ€rungsansĂ€tzen. Die Struktur dieser TrĂ€ume analysiert der ErzĂ€hler selbst: Die HungertrĂ€ume verweben sich mit den immer wiederkehrenden TrĂ€umen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem grĂ¶ĂŸeren Netz aus verschiedensten EindrĂŒcken des zurĂŒckliegenden Tages. Der Bericht verfĂ€hrt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“, Levi 2005, 55, [der Tantalustraum]): Die TrĂ€umer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalus. Auch fĂŒr diesen sind die köstlichsten FrĂŒchte und kĂŒhles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflĂŒchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusĂ€tzlich durch einen ĂŒber ihm schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstĂŒrzen kann, werden auch die Inhaftierten von der stĂ€ndigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequĂ€lt. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in ''Se questo Ăš un uomo'' zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination fĂŒr die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes ''Divina Commedia'' zu verstehen, wurde in zahlreichen weiteren Texten der Lagerliteratur wieder aufgenommen. Einer Auslegung bedĂŒrfen die einzelnen TrĂ€ume des Kapitels freilich kaum; auch die Reflexion ihrer Struktur und ihres Zustandekommens hat Levi in seinem Kapitel bereits selbst vorgenommen. DarĂŒber hinaus aber stellt sich anhand dieses Kapitels die Frage nach der grundsĂ€tzlichen Rolle von TrĂ€umen fĂŒr die Vermittlung und Verarbeitung des Genozids. In diesem Zusammenhang erörtert Levi zu Beginn seines Berichts die positiven Funktionen des TrĂ€umens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter den extremsten Bedingungen sei der Mensch fĂ€hig, sich im Schlaf „scavarsi una nicchia“ ([einen Schlupfwinkel zuschaffen], Levi 2005, 50), eine „dĂŒnne Schutzwand rings um sich zu errichten“ („erigersi intorno una tenua barriera di difesa“ ([dĂŒnne Schutzwand rings um sich zu errichten] ebd.): Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten („ci si Ăš fatto un nido, il trauma del travasamento Ăš superato“, ([Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung ist ĂŒberwunden] ebd.). Allerdings widerlegen die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels diese Thesen. Hatte der ErzĂ€hler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit im Vordergrund, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können. Die „geschilderten TrĂ€ume [...] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“ (Kasper 2016, 85). Der Traum vom verwehrten ErzĂ€hlen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsĂ€chliche, nachtrĂ€gliche ErzĂ€hlung, die Levi seinen Lesern prĂ€sentiert, prekĂ€r, wenn nicht gar unmöglich. Das ErzĂ€hlen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben (Kasper 2016, 86). Die AbgrĂŒndigkeit dieser Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht ''La Tregua'' aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterfĂŒhrt.
  
  
  
 
==Einordnung==
 
==Einordnung==
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Vor allem durch seine eindrĂŒcklichen Traumberichte und die damit eng verbundene intertextuelle Dimension seines Werks (Segre 2005, 195-196) hat Primo Levi das kollektive GedĂ€chtnis ĂŒber die Shoah nachhaltig geprĂ€gt (Kuon 2013, 139-149, SimbĂŒrger 2009, 107-140). Judith Kasper deutet die Berichte dahingehend, dass Levis TrĂ€ume „Aussagen ĂŒber historische Wirklichkeiten treffen können – zumal solche, die sich dem Zugriff des rationalen Verstehens entziehen“ (Kasper 2016, 84). Das Werk liefert einen entscheidenden Beitrag zum VerstĂ€ndnis des VerhĂ€ltnisses zwischen Traum und Trauma; und zwar nicht nur durch die erzĂ€hlten TrĂ€ume selbst, sondern vor allem auch durch Levis eigne traumtheoretische Aussagen zum PhĂ€nomen des Lagertraums.
 
Vor allem durch seine eindrĂŒcklichen Traumberichte und die damit eng verbundene intertextuelle Dimension seines Werks (Segre 2005, 195-196) hat Primo Levi das kollektive GedĂ€chtnis ĂŒber die Shoah nachhaltig geprĂ€gt (Kuon 2013, 139-149, SimbĂŒrger 2009, 107-140). Judith Kasper deutet die Berichte dahingehend, dass Levis TrĂ€ume „Aussagen ĂŒber historische Wirklichkeiten treffen können – zumal solche, die sich dem Zugriff des rationalen Verstehens entziehen“ (Kasper 2016, 84). Das Werk liefert einen entscheidenden Beitrag zum VerstĂ€ndnis des VerhĂ€ltnisses zwischen Traum und Trauma; und zwar nicht nur durch die erzĂ€hlten TrĂ€ume selbst, sondern vor allem auch durch Levis eigne traumtheoretische Aussagen zum PhĂ€nomen des Lagertraums.
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==Literatur==
 
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===Ausgaben / Quellen===
 
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* Primo Levi: Se questo Ăš un uomo, Torino: Da Silva 1947.
 
  
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* Primo Levi: Se questo Ăš un uomo. Torino: Da Silva 1947.
 
(= Erstausgabe)
 
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* Primo Levi: Se questo Ăš un uomo 1958, Torino: Einaudi 2005.
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* Primo Levi: Se questo Ăš un uomo 1958. Torino: Einaudi 2005.
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(= zitierte Ausgabe)
 
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* Se questo Ăš un uomo, in: Primo Levi: Opere, a cura di Marco Belpoliti, introduzione di Daniele Del Giudice, Torino: Einaudi 1987.
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* Primo, Levi: Se questo ù un uomo. In: ders.: Opere, a cura di Marco Belpoliti. Übers. von Daniele Del Giudice. Torino: Einaudi 1987.
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(= kritische Ausgabe)
 
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* Primo Levi: Ist das ein Mensch? Aus dem Italienischen ĂŒbersetzt von Barbara Picht, Robert Picht und Heinz Riedt, MĂŒnchen: Hanser 2011.
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* Primo Levi: Ist das ein Mensch? Übers. von Barbara Picht, Robert Picht und Heinz Riedt. MĂŒnchen: Hanser 2011.
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(= deutsche Übersetzung)
 
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===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
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* Amsallem, Daniela: „Images littĂ©raires et figures mythiques dans l’oeuvre de Primo Levi“, in: Chroniques italiennes 31 (1992), S. 7-26.
 
  
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* Belpoliti, Marco (Hrsg.): Primo Levi: conversazioni e interviste 1963 - 1987, Torino 1997.
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* Amsallem, Daniela: Images littĂ©raires et figures mythiques dans l’oeuvre de Primo Levi. In: Chroniques italiennes 31 (1992), S. 7-26.
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* Belpoliti, Marco (Hg.): Primo Levi: conversazioni e interviste 1963 - 1987. Torino: Einaudi 1997.
  
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* Farell, Joseph (Hrsg.): Primo Levi: the austere humanist, Oxford 2004.
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* Farell, Joseph (Hg.): Primo Levi: the austere humanist. Oxford: Lang 2004.
  
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* Gordon, Robert S. C. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge 2007.
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* Gordon, Robert S. C. (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge Univ. Press 2007.
  
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* Ferrero, Ernesto (Hrsg.): Primo Levi: un’antologia della critica, Torino: Einaudi 1997.
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* Ferrero, Ernesto (Hg.): Primo Levi: un’antologia della critica. Torino: Einaudi 1997.
  
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* Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: de Gruyter 2016.
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* Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante. Berlin: de Gruyter 2016.
  
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* Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lecture de tĂ©moignanges de la dĂ©portation politique, Paris: KimĂ© 2013.
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* Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lecture de tĂ©moignanges de la dĂ©portation politique. Paris: KimĂ© 2013.
  
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* Mengaldo, Pier Vicenzo: „Lingua e scrittura in Primo Levi“, in: Ferrero, Ernesto (Hrsg.): Primo Levi: un’antologia della critica, Torino: Einaudi 1997, S. 32-43.
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* Mengaldo, Pier Vicenzo: Lingua e scrittura in Primo Levi. In: Ferrero, Ernesto (Hg.): Primo Levi: un’antologia della critica. Torino: Einaudi 1997, S. 32-43.
  
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* Miething, Christoph: „Primo Levi: Se questo Ăš un uomo“, in: Lentzen, Manfred (Hrsg.): Italienische ErzĂ€hlungen des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 141 – 160.
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* Miething, Christoph: Primo Levi: ''Se questo Ăš un uomo''. In: Lentzen, Manfred (Hg.): Italienische ErzĂ€hlungen des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 141 – 160.
  
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* Poli, Gabriella und Giorgio Calcagno (Hrsg.): Echi di una voce perduta: Incontri, interviste e conversazioni con Primo Levi, Milano 1992.
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* Poli, Gabriella und Calcagno, Giorgio (Hg.): Echi di una voce perduta: Incontri, interviste e conversazioni con Primo Levi. Milano: Mursia 1992.
  
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* Segre, Cesare : „Auschwitz, orribile laboratorio sociale“ (=Postfazione), in: Primo Levi: Se questo ù un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 179-199, bes. das Kapitel „I sogni“, S. 195-196.
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* Segre, Cesare : Auschwitz, orribile laboratorio sociale (=Postfazione). In: Primo Levi: ''Se questo ù un uomo'', Torino: Einaudi 2005, S. 179-199, bes. das Kapitel „I sogni“, S. 195-196.
  
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* SimbĂŒrger, Brigitta Elisa: FaktizitĂ€t und FiktionalitĂ€t: Autobiografische Schriften zur Shoah, Berlin: Metropol 2009.
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* SimbĂŒrger, Brigitta Elisa: FaktizitĂ€t und FiktionalitĂ€t: Autobiografische Schriften zur Shoah. Berlin: Metropol 2009.
  
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* Solte-Gresser, Christiane: Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst. Primo Levi und Natalia Ginzburg, in: ÖhlschlĂ€ger, Claudia / BorsĂČ, Vittoria / Perrone Capano, Lucia (Hrsg.): Realismus nach den europĂ€ischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit, Bielefeld: transcript 2012, S. 63-85.
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* Solte-Gresser, Christiane: Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst. Primo Levi und Natalia Ginzburg. In: ÖhlschlĂ€ger, Claudia / BorsĂČ, Vittoria / Perrone Capano, Lucia (Hg.): Realismus nach den europĂ€ischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit. Bielefeld: transcript 2012, S. 63-85.
  
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* Tomson, Ian: „Writing If this is a Man", in: Joseph Farell (Hrsg.): Primo Levi: the austere humanist, Oxford 2004, S. 141-160.
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* Tomson, Ian: Writing If this is a Man. In: Farell, Joseph (Hg.): Primo Levi: the austere humanist. Oxford: Lang 2004, S. 141-160.
  
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* Zaccaro, Vanna: Dire l'indicibile. Primo Levi fra testimonianza e racconto, Lecce: Penso Mulitmedia 2002.
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* Zaccaro, Vanna: Dire l'indicibile. Primo Levi fra testimonianza e racconto. Lecce: Penso Mulitmedia 2002.
  
  

Version vom 30. August 2016, 19:37 Uhr

Se questo Ăš un uomo ist ein 1947 erstmals veröffentlichter autobiographischer Bericht des italienischen Autors Primo Levi. Er erzĂ€hlt darin von seiner Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz III (Auschwitz-Monowitz) und seinem Überlebenskampf wĂ€hrend der elfmonatigen Internierung. Das fĂŒnfte Kapitel ("Le nostre notti"/[Unsere NĂ€chte]) handelt von den Bedingungen des Schlafs in den KZ-Baracken und von den individuellen wie kollektiven TrĂ€umen der Inhaftierten.


Autor und Gesamtwerk

Der jĂŒdische Autor Primo Levi studierte trotz der seit 1938 in Italien geltenden faschistischen Rassengesetze Chemie und war die meiste Zeit seines Lebens als Chemiker tĂ€tig. Im Herbst 1943 schloss er sich der antifaschistischen Widerstandsbewegung „Giustizia e libertà“ an, wurde kurz darauf verhaftet und musste sich entscheiden, entweder als Partisan erschossen oder als Jude deportiert zu werden. Von Februar 1944 bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 war Levi als Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Auschwitz III (Auschwitz-Monowitz) interniert, wo er als Chemiker in den Buna-Werken eingesetzt wurde. Durch eine schwere Krankheit entging er den TodesmĂ€rschen im Winter 1944/45 und ĂŒberlebte das Konzentrationslager. Nach einer knapp zehnmonatigen RĂŒckreise quer durch Osteuropa begann er, seine Erfahrungen als Shoah-Überlebender literarisch zu verarbeiten. Neben zahlreichen ErzĂ€hlungen verfasste er eine durch die Elemente des chemischen Periodensystems strukturierte Autobiographie Il sistema periodico (1975) [Das periodische System]. Vor allem der Bericht Se questo Ăš un uomo (1947) [Ist das ein Mensch?], aber auch La Tregua (1963) [Die Atempause] und sein letztes Buch I sommersi e i salvati (1986) [Die Untergegangenen und die Geretteten] zĂ€hlen zu den weltweit bedeutendsten Zeugnissen der Shoah-Literatur.


Werk

Überblick

Die 17 Kapitel des Textes geben in chronologischer Reihenfolge folgende Ereignisse wieder: die Verhaftung des autobiographischen ErzĂ€hlers am 13. Dezember 1943, die Deportation in das Durchgangslager Fossoli, der Weitertransport im Viehwaggon nach Auschwitz, der Einsatz als Zwangsarbeiter im Chemielabor der Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, die Erkrankung des ErzĂ€hlers an Scharlach, seine Verlegung in den Krankenbau von Auschwitz und die Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Über die Vermittlung der persönlichen Erfahrungen hinaus ist der Bericht eine scharfsichtige Analyse des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates: Es geht um die einzelnen Stationen Entmenschlichung, die Logik des Lageralltags und der Zwangsarbeit, die Prinzipien der Selektion und die begrenzten individuellen Möglichkeiten, die Überlebenschancen zu erhöhen. Festgehalten werden zudem eindrĂŒckliche Gesten der SolidaritĂ€t und der Mitmenschlichkeit in der Erinnerung an einzelne HĂ€ftlinge. Der Bericht Levis verzichtet weitgehend auf Schuldzuweisungen und Anklagen. Stattdessen stellt er generell die Frage nach dem Wesen des Menschen innerhalb des Systems nationalsozialistischer Massenvernichtung. Die betonte Sachlichkeit und die ObjektivitĂ€t der erzĂ€hlten Erfahrungen stehen allerdings nicht im Widerspruch zu den spezifisch literarisch-Ă€sthetischen Gestaltungsverfahren (Solte-Gresser 2012, 70-75). Neben der Bedeutung von Sprache und Literatur fĂŒr die Wahrnehmung des erzĂ€hlenden Ich im Allgemeinen, sind die zahlreichen intertextuellen BezĂŒge des Werkes von großer Bedeutung. Es finden sich Verweise unter anderem auf die antike Mythologie, das Alte Testament, die Thora, Dantes Divina Commedia [Die Göttliche Komödie] oder auch Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (vgl. Amsallem 1992, Kasper 2016).


Veröffentlichung

Das Werk ist im Zeitraum von 1945 bis 1947 entstanden. Das Manuskript wurde zunĂ€chst zwei Mal vom Turiner Verlag Einaudi abgelehnt und von einem kleinen Verlag, Francesco De Silva, erstmals mit einer Auflage von nur 2.500 Exemplaren publiziert. Primo Levi ĂŒberarbeitete und ergĂ€nzte in den darauffolgenden zehn Jahren zusammen mit seiner Ehefrau Luisa Morpurgo das Manuskript grundlegend (beispielsweise durch das bekannte dritte Kapitel „Iniziazione“ / [Initiation]). Diese Fassung ersetzt unter anderem zahlreiche reale durch fiktive Namen, schafft durch Verallgemeinerungen und Versachlichungen eine grĂ¶ĂŸere Distanz zum Geschehen und verzichtet noch konsequenter auf Emotionen und Pathos (Tomson 2004 141-160). Seitdem die Neuauflage, mit einem anonymen Vorwort von Italo Calvino versehen, 1958 schließlich doch bei Einaudi erschienen ist, zĂ€hlt das Buch zu den Klassikern der Weltliteratur und den meistgelesenen Texten ĂŒber die Shoah (Miething 2005, 149). Obgleich die Forschungsliteratur zu Se questo Ăš un uomo kaum noch zu ĂŒberblicken ist, steht die Thematik des Traums nur selten im Zentrum der Auseinandersetzung. Eingehend widmen sich ihr jedoch Kasper 2016, Kuon 2013 und Segre 2005. Die nach wie vor detailliertesten Forschungsberichte zu Se questo Ăš un uomo liefern Ernesto Ferrero (1997) und Robert Gordon (2001).


Die TrÀume

Situierung

Das fĂŒnfte Kapitel aus Se questo Ăš un uomo beginnt mit der RĂŒckfĂŒhrung des ErzĂ€hlers vom Krankenbau in die Baracke und beschreibt zunĂ€chst das Elend der abendlichen Lagersituation kurz vor dem Einschlafen. Die zusammengepferchten MithĂ€ftlinge erscheinen dem erzĂ€hlenden Ich als fragmentierte Gliedmaßen, welche sich in den Körper des ErzĂ€hlers bohren. Zentrale Themen des Kapitels sind die Unmöglichkeit, in den Schlaf zu finden, und das stĂ€ndige nĂ€chtliche Hochschrecken im Wissen darum, dass der Terror im Morgengrauen unerbittlich fortgesetzt wird. Der anschließende Bericht ĂŒber individuelle und kollektive TrĂ€ume im Lager wird begleitet von einer allgemeinen Reflexion ĂŒber das TrĂ€umen unter den Bedingungen der Deportation. Levi beendet seinen Traumbericht mit der Beschreibung der Panik, die sich jeden Morgen nach dem Befehl zum Aufstehen („alzarsi“ / „wstawać“) ausbreitet. Damit entsteht zugleich eine explizite Verbindung zu Levis La Tregua, seinem Bericht ĂŒber die RĂŒckkehr nach der Befreiung des Lagers: nĂ€mlich zu dessen Eingangsgedicht „Alzarsi“ und zum abschließend erzĂ€hlten Alptraum, der durch diesen Befehl beendet wird und der somit auch den Schluss dieses gesamten Werks bildet.


Beschreibung und Analyse

Levi beschreibt nach einigen einfĂŒhrenden Überlegungen ĂŒber die Bedeutung von Schlaf und Traum im Konzentrationslager, wie sich im Moment des Einschlafens mehrere BewusstseinszustĂ€nde ĂŒberlagern: Durch die harte Holzpritsche hat er den Eindruck, auf Eisenbahnschienen zu schlafen. Das ferne Pfeifen des Zuges stammt von den tatsĂ€chlichen GĂŒterzĂŒgen, die das Lager Buna-Monowitz durchqueren und die der TrĂ€umer tagsĂŒber beladen musste. Es handelt sich also um einen Tagesrest, der zugleich immer wieder ein (un-)mögliches Jenseits des Lagers vor Augen fĂŒhrt: Obwohl das Signal der Lokomotive kontinuierlich lauter wird, kommt der Zug niemals an, um den TrĂ€umenden mitzunehmen. Das durchdringende Pfeifen scheint vielmehr das gesamte Lagerelend zu reprĂ€sentieren: „ne e divenuto il simbolo“ (Levi 2005, 53) / [er ist zu dessen Symbol geworden]. Der Bericht fĂ€hrt damit fort, dass dem ErzĂ€hler im Traum Schwester und Freunde erscheinen. Der TrĂ€umer wird von einem existenziellen BedĂŒrfnis heimgesucht, ihnen seine Lagererfahrungen zu kommunizieren. Sobald er jedoch versucht, das Erlebte mitzuteilen, kehren sich die Zuhörer ab, „come se io non ci fossi“ (Levi 2005, 53, [als sei ich gar nicht vorhanden]), blicken den ErzĂ€hlenden gleichgĂŒltig an oder glauben ihm nicht. Die Angst, die den TrĂ€umer daraufhin befĂ€llt, ist derart unertrĂ€glich – sie wird mit den schlimmsten FiebertrĂ€umen der Kindheit verglichen – , dass er sich zwingt, aufzuwachen. Doch damit lĂ€sst sie sich nicht abschĂŒtteln; sie ĂŒbertrĂ€gt sich vielmehr auch auf den Wachzustand. Als der nun vollstĂ€ndig erwachte TrĂ€umer seine MithĂ€ftlinge beim Schlafen beobachtet, schließt er aus ihrem Stöhnen und ihren Kaubewegungen auf HungertrĂ€ume. Es folgt ein persönlicher Traumbericht von Nahrungsmitteln, die sich dem hungernden TrĂ€umer immer wieder entziehen, sobald er nach ihnen greift. Dieser Traum wird mit großer sinnlicher Konkretheit in Szene gesetzt: Der ErzĂ€hler fĂŒhrt vor Augen, wie der Alptraum seinen gesamten Körper affiziert und er schreiend versucht, ihn zu verscheuchen. Das Kapitel fĂ€hrt mit einem Bericht ĂŒber den halluzinatorischen DĂ€mmerzustand fort, in dem sich die Internierten nachts die meiste Zeit ĂŒber befinden. Da selbst dieser Halbschlaf zudem unablĂ€ssig vom bevorstehenden Befehl zum Aufstehen bedroht wird, gelingt es den TrĂ€umenden weder, sich vor den AlptrĂ€umen zu schĂŒtzen, noch Schlaf und Traum gegen die tatsĂ€chlichen Qualen des anbrechenden Tages abzuschotten. Durch den Befehl „Wstawać “(Levi 2005, 56) geht der Text schließlich abrupt vom traumĂ€hnlichen Zustand, also von der Innensicht des TrĂ€umers, in das objektiv rekonstruierte Chaos der Baracke anlĂ€sslich des morgendlichen Arbeitsbeginns ĂŒber.


Interpretation

Das fĂŒnfte Kapitel aus Levis Bericht nĂ€hert sich auf verschiedenen Ebenen dem PhĂ€nomen des Lagertraums an: ZunĂ€chst einmal ist bemerkenswert, dass wir durch diesen Textabschnitt einen detaillierten Einblick in die qualvollen Bedingungen des Schlafens im Konzentrationslager erhalten, das freilich eher ein Delirium als tatsĂ€chlichen Schlaf darstellt. DarĂŒber hinaus entsteht hier eine komplexe Verbindung aus individuellen und kollektiven TraumerzĂ€hlungen. Die beiden erzĂ€hlten TrĂ€ume sind zunĂ€chst einmal persönliche Traumerfahrungen des autobiographischen Ich. Sie ĂŒbersteigen das singulĂ€re Erleben jedoch gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen handelt es sich um stets wiederkehrende, sich in zahllosen Variationen abspielende AlptrĂ€ume. Zum anderen stellt der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich fest, dass auch viele seiner MithĂ€ftlinge, ja "forse tutti"([vielleicht alle] Levi 2005, 54), von denselben TrĂ€umen heimgesucht werden; dass es sich mithin um kollektive TraumphĂ€nomene handelt. Nicht nur rĂŒckblickend, sondern bereits im Lager selbst findet also eine Kommunikation ĂŒber das nĂ€chtlich GetrĂ€umte statt, das sodann einer gemeinsamen Reflexion unterzogen wird: Allein durch den morgendlichen Dialog mit einem Freund kann der ErzĂ€hler erkennen, dass seine eigenen TrĂ€ume sich weitgehend mit denen der MithĂ€ftlinge decken. Der Bericht hĂ€lt sowohl klar markierte Schlaf-TrĂ€ume, als auch halluzinatorische EindrĂŒcke fest und analysiert sehr prĂ€zise diese unterschiedlichen BewusstseinsvorgĂ€nge. Insgesamt ist jedoch keine eindeutige Trennung zwischen Traum und Wachwelt auszumachen: Der Bewusstseinszustand der Inhaftierten bewegt sich auf der Grenze zwischen Delirium, Erinnerung, Agonie und Klarsichtigkeit ĂŒber die ausweglose Situation. Was die eigentlichen, eindeutig zu identifizierenden AlptrĂ€ume angeht, so prĂ€sentiert der ErzĂ€hler im Wesentlichen zwei Themenkomplexe kollektiver TrĂ€ume: den Traum vom verwehrten Essen und den Traum vom verhinderten ErzĂ€hlen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten LagerrealitĂ€t und verschiedenen ErklĂ€rungsansĂ€tzen. Die Struktur dieser TrĂ€ume analysiert der ErzĂ€hler selbst: Die HungertrĂ€ume verweben sich mit den immer wiederkehrenden TrĂ€umen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem grĂ¶ĂŸeren Netz aus verschiedensten EindrĂŒcken des zurĂŒckliegenden Tages. Der Bericht verfĂ€hrt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“, Levi 2005, 55, [der Tantalustraum]): Die TrĂ€umer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalus. Auch fĂŒr diesen sind die köstlichsten FrĂŒchte und kĂŒhles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflĂŒchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusĂ€tzlich durch einen ĂŒber ihm schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstĂŒrzen kann, werden auch die Inhaftierten von der stĂ€ndigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequĂ€lt. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in Se questo Ăš un uomo zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination fĂŒr die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes Divina Commedia zu verstehen, wurde in zahlreichen weiteren Texten der Lagerliteratur wieder aufgenommen. Einer Auslegung bedĂŒrfen die einzelnen TrĂ€ume des Kapitels freilich kaum; auch die Reflexion ihrer Struktur und ihres Zustandekommens hat Levi in seinem Kapitel bereits selbst vorgenommen. DarĂŒber hinaus aber stellt sich anhand dieses Kapitels die Frage nach der grundsĂ€tzlichen Rolle von TrĂ€umen fĂŒr die Vermittlung und Verarbeitung des Genozids. In diesem Zusammenhang erörtert Levi zu Beginn seines Berichts die positiven Funktionen des TrĂ€umens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter den extremsten Bedingungen sei der Mensch fĂ€hig, sich im Schlaf „scavarsi una nicchia“ ([einen Schlupfwinkel zuschaffen], Levi 2005, 50), eine „dĂŒnne Schutzwand rings um sich zu errichten“ („erigersi intorno una tenua barriera di difesa“ ([dĂŒnne Schutzwand rings um sich zu errichten] ebd.): Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten („ci si Ăš fatto un nido, il trauma del travasamento Ăš superato“, ([Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung ist ĂŒberwunden] ebd.). Allerdings widerlegen die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels diese Thesen. Hatte der ErzĂ€hler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit im Vordergrund, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können. Die „geschilderten TrĂ€ume [...] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“ (Kasper 2016, 85). Der Traum vom verwehrten ErzĂ€hlen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsĂ€chliche, nachtrĂ€gliche ErzĂ€hlung, die Levi seinen Lesern prĂ€sentiert, prekĂ€r, wenn nicht gar unmöglich. Das ErzĂ€hlen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben (Kasper 2016, 86). Die AbgrĂŒndigkeit dieser Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht La Tregua aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterfĂŒhrt.


Einordnung

Vor allem durch seine eindrĂŒcklichen Traumberichte und die damit eng verbundene intertextuelle Dimension seines Werks (Segre 2005, 195-196) hat Primo Levi das kollektive GedĂ€chtnis ĂŒber die Shoah nachhaltig geprĂ€gt (Kuon 2013, 139-149, SimbĂŒrger 2009, 107-140). Judith Kasper deutet die Berichte dahingehend, dass Levis TrĂ€ume „Aussagen ĂŒber historische Wirklichkeiten treffen können – zumal solche, die sich dem Zugriff des rationalen Verstehens entziehen“ (Kasper 2016, 84). Das Werk liefert einen entscheidenden Beitrag zum VerstĂ€ndnis des VerhĂ€ltnisses zwischen Traum und Trauma; und zwar nicht nur durch die erzĂ€hlten TrĂ€ume selbst, sondern vor allem auch durch Levis eigne traumtheoretische Aussagen zum PhĂ€nomen des Lagertraums.


SG


Literatur

Ausgaben / Quellen

  • Primo Levi: Se questo Ăš un uomo. Torino: Da Silva 1947.

(= Erstausgabe)

  • Primo Levi: Se questo Ăš un uomo 1958. Torino: Einaudi 2005.

(= zitierte Ausgabe)

  • Primo, Levi: Se questo Ăš un uomo. In: ders.: Opere, a cura di Marco Belpoliti. Übers. von Daniele Del Giudice. Torino: Einaudi 1987.

(= kritische Ausgabe)

  • Primo Levi: Ist das ein Mensch? Übers. von Barbara Picht, Robert Picht und Heinz Riedt. MĂŒnchen: Hanser 2011.

(= deutsche Übersetzung)


Forschungsliteratur

  • Amsallem, Daniela: Images littĂ©raires et figures mythiques dans l’oeuvre de Primo Levi. In: Chroniques italiennes 31 (1992), S. 7-26.
  • Belpoliti, Marco (Hg.): Primo Levi: conversazioni e interviste 1963 - 1987. Torino: Einaudi 1997.
  • Farell, Joseph (Hg.): Primo Levi: the austere humanist. Oxford: Lang 2004.
  • Gordon, Robert S. C. (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge Univ. Press 2007.
  • Ferrero, Ernesto (Hg.): Primo Levi: un’antologia della critica. Torino: Einaudi 1997.
  • Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, KertĂ©sz, Sebald und Dante. Berlin: de Gruyter 2016.
  • Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lecture de tĂ©moignanges de la dĂ©portation politique. Paris: KimĂ© 2013.
  • Mengaldo, Pier Vicenzo: Lingua e scrittura in Primo Levi. In: Ferrero, Ernesto (Hg.): Primo Levi: un’antologia della critica. Torino: Einaudi 1997, S. 32-43.
  • Miething, Christoph: Primo Levi: Se questo Ăš un uomo. In: Lentzen, Manfred (Hg.): Italienische ErzĂ€hlungen des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 141 – 160.
  • Poli, Gabriella und Calcagno, Giorgio (Hg.): Echi di una voce perduta: Incontri, interviste e conversazioni con Primo Levi. Milano: Mursia 1992.
  • Segre, Cesare : Auschwitz, orribile laboratorio sociale (=Postfazione). In: Primo Levi: Se questo Ăš un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 179-199, bes. das Kapitel „I sogni“, S. 195-196.
  • SimbĂŒrger, Brigitta Elisa: FaktizitĂ€t und FiktionalitĂ€t: Autobiografische Schriften zur Shoah. Berlin: Metropol 2009.
  • Solte-Gresser, Christiane: Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst. Primo Levi und Natalia Ginzburg. In: ÖhlschlĂ€ger, Claudia / BorsĂČ, Vittoria / Perrone Capano, Lucia (Hg.): Realismus nach den europĂ€ischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit. Bielefeld: transcript 2012, S. 63-85.
  • Tomson, Ian: Writing If this is a Man. In: Farell, Joseph (Hg.): Primo Levi: the austere humanist. Oxford: Lang 2004, S. 141-160.
  • Zaccaro, Vanna: Dire l'indicibile. Primo Levi fra testimonianza e racconto. Lecce: Penso Mulitmedia 2002.


Weblinks

Centro internazionale di studi Primo Levi