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Für die eigentlichen, eindeutig zu identifizierenden Alpträume präsentiert der Erzähler im Wesentlichen zwei Themenkomplexe kollektiver Träume: den Traum vom verwehrten Essen und den Traum vom verhinderten Erzählen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten Lagerrealität und verschiedenen Erklärungsansätzen. Die Struktur dieser Träume analysiert der Erzähler selbst: Die Hungerträume verweben sich mit den immer wiederkehrenden Träumen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem größeren Netz aus verschiedensten Eindrücken des zurückliegenden Tages. Der Bericht verfährt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“, der Tantalustraum; SQ 55): Die Träumer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalus. Auch für diesen sind die köstlichsten Früchte und kühles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflüchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusätzlich durch einen über ihm schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstürzen kann, werden auch die Inhaftierten von der ständigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequält. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in ''Se questo è un uomo'' zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination für die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes ''Divina Commedia'' zu verstehen, wurde in zahlreichen weiteren Texten der Lagerliteratur wieder aufgenommen. Einer Auslegung bedürfen die einzelnen Träume des Kapitels freilich kaum; auch die Reflexion ihrer Struktur und ihres Zustandekommens hat Levi in seinem Kapitel bereits selbst vorgenommen.  
 
Für die eigentlichen, eindeutig zu identifizierenden Alpträume präsentiert der Erzähler im Wesentlichen zwei Themenkomplexe kollektiver Träume: den Traum vom verwehrten Essen und den Traum vom verhinderten Erzählen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten Lagerrealität und verschiedenen Erklärungsansätzen. Die Struktur dieser Träume analysiert der Erzähler selbst: Die Hungerträume verweben sich mit den immer wiederkehrenden Träumen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem größeren Netz aus verschiedensten Eindrücken des zurückliegenden Tages. Der Bericht verfährt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“, der Tantalustraum; SQ 55): Die Träumer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalus. Auch für diesen sind die köstlichsten Früchte und kühles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflüchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusätzlich durch einen über ihm schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstürzen kann, werden auch die Inhaftierten von der ständigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequält. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in ''Se questo è un uomo'' zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination für die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes ''Divina Commedia'' zu verstehen, wurde in zahlreichen weiteren Texten der Lagerliteratur wieder aufgenommen. Einer Auslegung bedürfen die einzelnen Träume des Kapitels freilich kaum; auch die Reflexion ihrer Struktur und ihres Zustandekommens hat Levi in seinem Kapitel bereits selbst vorgenommen.  
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Darüber hinaus aber stellt sich anhand dieses Kapitels die Frage nach der grundsätzlichen Rolle von Träumen für die Vermittlung und Verarbeitung des Genozids. In diesem Zusammenhang erörtert Levi zu Beginn seines Berichts die positiven Funktionen des Träumens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter den extremsten Bedingungen sei der Mensch fähig, sich im Schlaf „scavarsi una nicchia“ (einen Schlupfwinkel zu schaffen; SQ 50), eine „dünne Schutzwand rings um sich zu errichten“ („erigersi intorno una tenua barriera di difesa“; ebd.): Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten: „ci si è fatto un nido, il trauma del travasamento è superato“ (Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung ist überwunden; ebd.). Allerdings widerlegen die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels diese Thesen. Hatte der Erzähler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können, im Vordergrund. Die „geschilderten Träume [...] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“ (Kasper 2016, 85). Der Traum vom verwehrten Erzählen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsächliche, nachträgliche Erzählung, die Levi seinen Lesern präsentiert, prekär, wenn nicht gar unmöglich. Das Erzählen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben (Kasper 2016, 86). Die Abgründigkeit dieser Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht [["La tregua" (Primo Levi)|''La Tregua'']] aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterführt.
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Darüber hinaus aber stellt sich anhand dieses Kapitels die Frage nach der grundsätzlichen Rolle von Träumen für die Vermittlung und Verarbeitung des Genozids. In diesem Zusammenhang erörtert Levi zu Beginn seines Berichts die positiven Funktionen des Träumens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter den extremsten Bedingungen sei der Mensch fähig, sich im Schlaf „scavarsi una nicchia“ (einen Schlupfwinkel zu schaffen; SQ 50), „erigersi intorno una tenua barriera di difesa“ (eine „dünne Schutzwand rings um sich zu errichten; ebd.): Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten: „ci si è fatto un nido, il trauma del travasamento è superato“ (Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung ist überwunden; ebd.). Allerdings widerlegen die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels diese Thesen. Hatte der Erzähler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können, im Vordergrund. Die „geschilderten Träume [...] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“ (Kasper 2016, 85). Der Traum vom verwehrten Erzählen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsächliche, nachträgliche Erzählung, die Levi seinen Lesern präsentiert, prekär, wenn nicht gar unmöglich. Das Erzählen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben (Kasper 2016, 86). Die Abgründigkeit dieser Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht [["La tregua" (Primo Levi)|''La Tregua'']] aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterführt.
     

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