"The Premature Burial" (Edgar Allan Poe): Unterschied zwischen den Versionen

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''The Premature Burial'' („Das vorzeitige BegrĂ€bnis“) ist eine Kurzgeschichte oder kurze ErzĂ€hlung (''tale'') des nordamerikanischen Autors Edgar Allan Poe (1809–1849), die zuerst 1844 in ''The Philadelphia Dollar Newspaper'' erschien. Das sich durch den Text ziehende Grundthema ist die auch in anderen Werken Poes prĂ€sente Angst des Protagonisten davor, lebendig begraben zu werden, die sich auch in einem prominent platzierten Alptraum ausdrĂŒckt. Dieser ist zugleich Grundlage eines ''twist endings''.
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''The Premature Burial'' („Das vorzeitige BegrĂ€bnis“) ist eine Kurzgeschichte oder kurze ErzĂ€hlung (''tale'') des nordamerikanischen Autors Edgar Allan Poe (1809–1849), die zuerst 1844 in ''The Philadelphia Dollar Newspaper'' erschien. Das sich durch den Text ziehende Grundthema ist die auch in anderen Werken Poes prĂ€sente Angst des Protagonisten, lebendig begraben zu werden, die sich auch in einem prominent platzierten Alptraum ausdrĂŒckt. Dieser ist zugleich Grundlage eines ''twist endings''.
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==Autor==
 
==Autor==
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Edgar Allan Poe war Journalist und ein wichtiger ErzĂ€hler und Lyriker der amerikanischen Romantik. Er wurde 1809 in Boston geboren und wuchs nach dem frĂŒhen Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters, beide Schauspieler, bei dem schottischen Kaufmann John Allan (daher der Zweitname) auf, zu dem zeitlebens ein schwieriges VerhĂ€ltnis bestand. Nach einem abgebrochenen Sprachstudium einigen Jahren MilitĂ€rdienst arbeitete Poe als freier Journalist, (Mit-)Herausgeber diverser Zeitschriften und Autor, meist unter schwierigen finanziellen Bedingungen. Schriftstellerisch bekannt wurde er relativ spĂ€t und populĂ€r erst mit seinem wohl berĂŒhmtesten Werk, dem Langgedicht ''The Raven'' (1845).  
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Edgar Allan Poe war Journalist und ein wichtiger ErzĂ€hler und Lyriker der amerikanischen Romantik. Er wurde 1809 in Boston geboren und wuchs nach dem frĂŒhen Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters, beide Schauspieler, bei dem schottischen Kaufmann John Allan auf (daher der Zweitname), zu dem er zeitlebens ein schwieriges VerhĂ€ltnis hatte. Nach einem abgebrochenen Sprachstudium und einigen Jahren MilitĂ€rdienst arbeitete Poe als freier Journalist, (Mit-)Herausgeber diverser Zeitschriften und Autor, meist unter schwierigen finanziellen Bedingungen. Schriftstellerisch bekannt wurde er relativ spĂ€t und populĂ€r erst mit seinem bis heute wohl berĂŒhmtesten Werk, dem Langgedicht ''The Raven'' (1845).
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==Zur Entstehungsgeschichte==
 
==Zur Entstehungsgeschichte==
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Die angefĂŒhrten ,realen‘ FĂ€lle von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib sind von der Poe-Quellenforschung weitgehend identifiziert worden (vgl. Mabbott, 954, 969-971). Zudem sah Poe einen „life preserving coffin“ auf der Jahresausstellung 1843 in New York (vgl. ebd., 954). Die Situation selbst könnte laut Mabbott auf eine Vorstellung oder einen Traum des Autors zurĂŒckgehen (vgl. ebd.). Er verweist auf Poes Furcht vor Dunkelheit in der Kindheit (vgl. ebd., 953).
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Die in der ErzĂ€hlung angefĂŒhrten ,realen‘ FĂ€lle von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib sind von der Poe-Quellenforschung weitgehend identifiziert worden (vgl. Mabbott, 954, 969-971). Zudem sah Poe einen „life preserving coffin“ auf der Jahresausstellung 1843 in New York (ebd., 954), der ihn zu den Sicherheitsvorkehrungen inspiriert haben könnte, die sein Protagonist in der ErzĂ€hlung trifft.
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==Inhalt und Aufbau==
 
==Inhalt und Aufbau==
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Das Werk lĂ€sst sich formal wie inhaltlich in zwei Teile gliedern: Im ersten berichtet der namenlose autodiegetische ErzĂ€hler anekdotenartig von verschiedenen authentisch erscheinenden FĂ€llen von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib in Baltimore, Paris, Leipzig und London (PM 259 f.). Dabei bedient er sich authentizitĂ€tsbeglaubigender Mittel wie der ErwĂ€hnung der Namen von Personen oder Quellen (u.a. „''The Chirurgical Journal'' of Leipsic“, PM 260). Es kann eine leicht satirische Intention vermutet werden, da Poe sensationalistische Berichte aus seinem journalistischen Alltag kannte und sich öfter satirisch damit auseinandersetzte (u.a. in ''How to Write a Blackwood Article''), so wie bei Poe grundsĂ€tzlich eine Weiterentwicklung der ''gothic novel''-Tradition zu beobachten ist (vgl. Fisher 2004; Zimmerman 2009, 16).
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Das Werk lĂ€sst sich formal wie inhaltlich in zwei Teile gliedern: Im ersten berichtet der namenlose autodiegetische ErzĂ€hler anekdotenartig von verschiedenen authentisch scheinenden FĂ€llen von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib in Baltimore, Paris, Leipzig und London (PM 259 f.). Dabei bedient er sich authentizitĂ€tsbeglaubigender Mittel wie der ErwĂ€hnung der Namen von Personen oder Quellen (u.a. „''The Chirurgical Journal'' of Leipsic“, PM 260). Es kann eine leicht satirische Intention vermutet werden, da Poe sensationalistische Berichte aus seinem journalistischen Alltag kannte und sich öfter satirisch damit auseinandersetzte (u.a. in ''How to Write a Blackwood Article''), so wie bei Poe grundsĂ€tzlich eine Weiterentwicklung der ''gothic novel''-Tradition zu beobachten ist (vgl. Fisher 2004; Zimmerman 2009, 16).
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Im zweiten Teil kommt der Ich-ErzĂ€hler auf sein persönliches Schicksal zu sprechen: Er leidet von jeher unter anfallartigen ZustĂ€nden von „catalepsy“ (PM 263), die kaum von tatsĂ€chlichem Gestorbensein unterschieden werden können. Daher befĂŒrchtet er, ebenso wie in den berichteten Anekdoten lebendig begraben zu werden. Er trifft elaborierte Sicherheitsvorkehrungen (u.a. von innen zu öffnender Sarg und Gruft); dennoch nimmt seine Angst immer extremere ZĂŒge an, und er misstraut sogar seinen Freunden. Nachdem er von einem spektakulĂ€ren Alptraum berichtet, scheint seine grĂ¶ĂŸte Angst sich trotz aller Vorkehrungen zu bewahrheiten: Er wacht in einem engen Kasten auf, kann sich kaum bewegen, und seine Sicherheitsvorkehrungen sind nicht vorhanden. Das Eindringen von Stimmen in seinen DĂ€mmerzustand und sein sukzessives Zu-sich-Kommen bringen ihn schließlich zur Erkenntnis der Wahrheit: Auf einem Jagdausflug mit einem Freund hat er angesichts eines aufziehenden Sturms Zuflucht auf einem Schiff gesucht, in dessen enger KajĂŒte er in seinen komaartigen Schlaf gefallen war. FĂŒr eine Poe-ErzĂ€hlung relativ untypisch löst dieses Erlebnis eine positive VerĂ€nderung beim Protagonisten aus, der von einem Verlust seiner Ängste und einer lebensbejahenden Einstellung berichtet. Aus Perspektive der Geschlechterforschung dĂŒrfte außerdem sein Ausspruch „I became a new man, and lived a man’s life“ (PM 268) interessant sein.
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Im zweiten Teil kommt der Ich-ErzĂ€hler auf sein persönliches Schicksal zu sprechen: Er leidet von jeher unter anfallartigen ZustĂ€nden von „catalepsy“ (PM 263), die kaum von tatsĂ€chlichem Gestorbensein unterschieden werden können. Daher ist er von der Furcht befallen, ebenso wie in den berichteten Anekdoten lebendig begraben zu werden. Er trifft elaborierte Vorkehrungen (u.a. von innen zu öffnender Sarg und Gruft, ein Glöckchen); dennoch nimmt seine Angst immer extremere ZĂŒge an und er misstraut sogar seinen Freunden. Nachdem er von einem spektakulĂ€ren Alptraum berichtet hat, scheint seine grĂ¶ĂŸte Angst sich trotz aller Vorkehrungen bewahrheitet zu haben: Er wacht in einem engen Kasten auf, kann sich kaum bewegen und seine Sicherheitsvorkehrungen sind nicht vorhanden. Das Eindringen von Stimmen in seinen DĂ€mmerzustand und sein sukzessives Zu-sich-Kommen bringen ihn schließlich zur Erkenntnis der Wahrheit:.Auf einem Jagdausflug mit einem Freund hat er angesichts eines aufziehenden Sturms Zuflucht auf einem Schiff gesucht, in dessen enger KajĂŒte er in seinen komaartigen Schlaf gefallen war. FĂŒr eine Poe-ErzĂ€hlung relativ untypisch löst dieses Erlebnis eine positive VerĂ€nderung beim Protagonisten aus, der von einem Verlust seiner Ängste und einer lebensbejahenden Einstellung berichtet. Aus Perspektive der Geschlechterforschung dĂŒrfte außerdem sein Ausspruch „I became a new man, and lived a man’s life“ (PM 268) interessant sein.
 
  
 
==Der Traum==
 
==Der Traum==
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Zentral ist der erwĂ€hnte Alptraum (vgl. PM 264f.), der iterativ erzĂ€hlt und als typisch beschrieben wird. Er könnte auf einen realen Traum des Dichters zurĂŒckgehen (vgl. Mabbott, 954). Des Weiteren relevant ist die Begriffsvielfalt des ErzĂ€hlers, der u.a. von „dreams“, „nightmare“, „trance“, „vision“, „phantasies“ (vgl. besonders PM 268) spricht.
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Zentral ist der erwĂ€hnte Alptraum (vgl. PM 264 f.), der iterativ erzĂ€hlt und als typisch fĂŒr den ErzĂ€hler beschrieben wird. Er könnte auf einen realen Traum des Dichters zurĂŒckgehen (vgl. Mabbott, 954). Des Weiteren relevant ist die Begriffsvielfalt des ErzĂ€hlers, der u.a. von „dreams“, „nightmare“, „trance“, „vision“, „phantasies“ (vgl. besonders PM 268) spricht.
  
 
===Situierung und Beschreibung===
 
===Situierung und Beschreibung===
 
Der Alptraum ist im zweiten Teil des Textes angesiedelt, der sich mit dem persönlichen Schicksal des ErzĂ€hlers befasst. Er bildet die Nahtstelle zu seinem vorgeblich realen Erlebnis am Ende und ist zugleich Voraussetzung fĂŒr die daraus erwachsende Spannung und Schockwirkung beim Rezipienten.
 
Der Alptraum ist im zweiten Teil des Textes angesiedelt, der sich mit dem persönlichen Schicksal des ErzĂ€hlers befasst. Er bildet die Nahtstelle zu seinem vorgeblich realen Erlebnis am Ende und ist zugleich Voraussetzung fĂŒr die daraus erwachsende Spannung und Schockwirkung beim Rezipienten.
  
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Nachdem der ErzĂ€hler davon berichtet hat, wie sehr ihn seine Furcht im Alltagsleben beeintrĂ€chtigt (Zimmerman liest das ''tale'' als geradezu moderne psychologische Fallstudie, vgl. 2009), schickt sich der ErzĂ€hler an, reprĂ€sentativ einen ausgewĂ€hlten Alptraum wiederzugeben. Dieser sei nur eines unter „innumerable images of gloom which thus oppressed me in dreams“ (PM 264). Der Traum (vgl. PM 264f.) ist somit eindeutig markiert, jedoch gebraucht der ErzĂ€hler die Bezeichnung „vision“. Bezeichnenderweise ist der Gedanke, sich in „a cataleptic trance of more than usual duration and profundity“ zu befinden, als möglicher Tagesrest Teil seines Traums (vgl. PM 264).
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Nachdem der ErzĂ€hler davon berichtet hat, wie sehr ihn seine Furcht im Alltagsleben beeintrĂ€chtigt (Zimmerman 2009, 7 f., liest das ''tale'' als geradezu moderne psychologische Fallstudie), schickt sich der ErzĂ€hler an, reprĂ€sentativ einen ausgewĂ€hlten Alptraum wiederzugeben. Dieser sei nur eines unter „innumerable images of gloom which thus oppressed me in dreams“ (PM 264). Der Traum (vgl. PM 264 f.) ist somit eindeutig markiert, jedoch gebraucht der ErzĂ€hler die Bezeichnung „vision“. Bezeichnenderweise ist der Gedanke, sich in „a cataleptic trance of more than usual duration and profundity“ zu befinden, als möglicher Tagesrest Teil seines Traums (vgl. PM 264).
  
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Im Traum wird er von einer eisigen Hand auf der Stirn berĂŒhrt und von einer Stimme, deren Urheber er nicht sehen kann, mehrfach wie in Hypnosehandlungen zum Aufstehen aufgefordert („Arise!“). So ,erwacht‘, befindet er sich in völliger Dunkelheit. Der TrĂ€umer hat keine zeitliche oder rĂ€umliche Erinnerung oder Orientierung. Die nicht erkennbare Gestalt, die ihn nun am Handgelenk gepackt hĂ€lt, wundert sich darĂŒber, dass er angesichts der schrecklichen UmstĂ€nde so ruhig schlafen könne. Auf seine Nachfrage hin beschreibt sie sich als ohne Namen „in the regions which I inhabit“ <ref>In der ersten Fassung der ErzĂ€hlung nannte sie sich „Shadow“ (vgl. Mabbott, 964). Dies ermöglicht Deutungen im Kontext von Reisen in die Unterwelt oder AnklĂ€nge an die ''Apokalypse'' mit ihrem ,Engel des Abgrunds'.</ref> und betont ihr Missbefinden. Sie fordert den TrĂ€umer auf, ihr in die „outer Night“ zu folgen, um ihm GrĂ€ber zu zeigen. Plötzlich kann er die geöffneten „graves of all mankind“ sehen und muss mit Erschrecken feststellen, dass nur die Minderheit der Toten tatsĂ€chlich ruht, die ĂŒbrigen aber unruhig oder deplatziert in ihren GrĂ€bern sind. Als sich diese plötzlich schließen, wiederholen die Toten variierend den Ausruf der Gestalt („Is it not — o God! is it ''not'' a very pitiful sight?“), und der Traum endet. Der ErzĂ€hler betont abschließend, wie sehr die Wirkung solcher Traumgesichte ihn auch im Wachen beeintrĂ€chtige und zur fortschreitenden ZerrĂŒttung seiner Nerven beitrage. Unmittelbar darauf geht er zur Schilderung der Situation ĂŒber, die wie der wahrgewordene Alptraum anmutet.
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Im Traum wird er von einer eisigen Hand auf der Stirn berĂŒhrt und von einer Stimme, deren Urheber er nicht sehen kann, mehrfach zum Aufstehen aufgefordert („Arise!“). So ,erwacht‘, befindet er sich in völliger Dunkelheit ohne zeitliche oder rĂ€umliche Erinnerung oder Orientierung. Die nicht erkennbare Gestalt, die ihn nun am Handgelenk gepackt hĂ€lt, wundert sich darĂŒber, dass er angesichts der schrecklichen UmstĂ€nde so ruhig schlafen könne. Auf seine Nachfrage hin beschreibt sie sich als ohne Namen „in the regions which I inhabit“ <ref>In der ersten Fassung der ErzĂ€hlung nannte sie sich „Shadow“ (Mabbott, 964). Dies ermöglicht Deutungen im Kontext von Reisen in die Unterwelt oder AnklĂ€nge an die ''Apokalypse'' mit ihrem ,Engel des Abgrunds‘.</ref> und betont ihr Missbefinden. Sie fordert den TrĂ€umer auf, ihr in die „outer Night“ zu folgen, um ihm GrĂ€ber zu zeigen. Plötzlich kann er die geöffneten „graves of all mankind“ sehen und muss mit Erschrecken feststellen, dass nur die Minderheit der Toten tatsĂ€chlich ruht, die ĂŒbrigen aber unruhig oder deplatziert in ihren GrĂ€bern sind. Als sich diese plötzlich schließen, wiederholen die Toten variierend den Ausruf der Gestalt („Is it not — o God! is it ''not'' a very pitiful sight?“), und der Traum endet. Der ErzĂ€hler betont abschließend, wie sehr die Wirkung solcher Traumgesichte ihn auch im Wachen beeintrĂ€chtige und zur fortschreitenden ZerrĂŒttung seiner Nerven beitrage. Unmittelbar darauf geht er zur Schilderung der Situation ĂŒber, die wie der wahr gewordene Alptraum anmutet.
  
 
===Analyse, Darstellungsbesonderheiten und Interpretation===
 
===Analyse, Darstellungsbesonderheiten und Interpretation===
 
Es handelt sich bei dem beschriebenen Traum um einen Alptraum, der als intradiegetische ErzÀhlung des autodiegetischen ErzÀhlers in seinen Bericht eingebettet ist. Neben seiner spannungsgenerierenden Funktion, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, weist er auf inhaltlicher wie stilistischer Ebene einige Darstellungsbesonderheiten auf.
 
Es handelt sich bei dem beschriebenen Traum um einen Alptraum, der als intradiegetische ErzÀhlung des autodiegetischen ErzÀhlers in seinen Bericht eingebettet ist. Neben seiner spannungsgenerierenden Funktion, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, weist er auf inhaltlicher wie stilistischer Ebene einige Darstellungsbesonderheiten auf.
  
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Zu den darstellerischen Besonderheiten zĂ€hlt unter anderem die Betonung sensueller EindrĂŒcke. Der TrĂ€umende wird scheinbar innerhalb seines Traums geweckt, wodurch, wenn auch nur nebenbei, der Gedanke eines Traums im Traum bzw. einer zeitweise ungewissen Unterscheidung zwischen TrĂ€umen und Wachen aufgerufen wird. Bei diesem ,Erwachen‘ nimmt er zunĂ€chst taktile EindrĂŒcke wahr (die eisige Hand auf seiner Stirn, spĂ€ter das Umfassen seines Handgelenks), dann auditive (die Stimme des GegenĂŒbers und spĂ€ter die Schreie der Toten). Die visuellen EindrĂŒcke stehen an letzter Stelle und bis zum Schluss ist es ihm unmöglich, sein GegenĂŒber zu erkennen. Dunkelheit ĂŒberwiegt, im ĂŒbertragenen wie wörtlichen Sinne (des Nachts ist die Angst des ErzĂ€hlers potenziert); der Kontrast zur „radiance of decay“ aus den GrĂ€bern ruft, wie des Öfteren in TraumerzĂ€hlungen (vgl. u.a. Solte-Gresser 2016), Parallelen zu Platons Höhlengleichnis auf. Die (Schein-)Toten, deren GrĂ€ber sich alle zugleich öffnen, lassen an die Beschreibung der Erignisse nach Jesu Tod am Kreuz denken: „And the graves were opened; and many bodies of the saints which slept arose, and came out of the graves after his resurrection, and went into the holy city, and appeared unto many” (Mt 27,52-53). Alle SinneseindrĂŒcke sind mit unangenehmen Eigenschaften versehen, wobei die Stimme und vor allem die eiskalte Hand hervorstechen. Beim spĂ€ter folgenden vermeintlichen Aufwachen unter der Erde erlangt er in auffallend Ă€hnlicher Weise Gehör und GefĂŒhl zurĂŒck (vgl. PM 266f.), was aus rezeptionsĂ€sthetischer Sicht angesichts der intendierten Spannungserzeugung logisch erscheint.
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Zu den darstellerischen Besonderheiten zĂ€hlt unter anderem die Betonung sensueller EindrĂŒcke. Der TrĂ€umende wird scheinbar innerhalb seines Traums geweckt, wodurch, wenn auch nur nebenbei, der Gedanke eines Traums im Traum bzw. einer zeitweise ungewissen Unterscheidung zwischen TrĂ€umen und Wachen aufgerufen wird. Bei diesem ,Erwachen‘ nimmt er zunĂ€chst taktile EindrĂŒcke wahr (die eisige Hand auf seiner Stirn, spĂ€ter das Umfassen seines Handgelenks), dann auditive (die Stimme des GegenĂŒbers und spĂ€ter die Schreie der Toten). Die visuellen EindrĂŒcke stehen an letzter Stelle, und bis zum Schluss ist es ihm unmöglich, sein GegenĂŒber zu erkennen. Dunkelheit ĂŒberwiegt, im ĂŒbertragenen wie wörtlichen Sinne (des Nachts ist die Angst des ErzĂ€hlers potenziert); der Kontrast zur „radiance of decay“ aus den GrĂ€bern ruft, wie des Öfteren in TraumerzĂ€hlungen (vgl. u.a. Solte-Gresser 2016), Parallelen zu Platons Höhlengleichnis auf. Die (Schein-)Toten, deren GrĂ€ber sich alle zugleich öffnen, lassen an die Beschreibung der Ereignisse nach Jesu Tod am Kreuz denken: „And the graves were opened; and many bodies of the saints which slept arose, and came out of the graves after his resurrection, and went into the holy city, and appeared unto many” (Mt 27,52-53) oder an das JĂŒngste Gericht. Alle SinneseindrĂŒcke des TrĂ€umers sind mit unangenehmen Eigenschaften versehen, wobei die Stimme und vor allem die eiskalte Hand hervorstechen. Beim spĂ€ter folgenden vermeintlichen Aufwachen unter der Erde erlangt er in auffallend Ă€hnlicher Weise Gehör und GefĂŒhl zurĂŒck (vgl. PM 266 f.), was aus rezeptionsĂ€sthetischer Sicht angesichts der intendierten Spannungserzeugung logisch erscheint.
  
 
Das namenlose Wesen, mit dem der ErzĂ€hler kommuniziert, beschreibt sich selbst als Gegenteil seines frĂŒheren Ichs: „I was mortal, but am fiend. I was merciless, but am pitiful.“ Dabei stehen diese selbstgewĂ€hlten Attribute in einem seltsamen Kontrast: Es ist vom Sterblichen zum Unmensch oder DĂ€mon (gar Teufel?) geworden, empfindet aber, obwohl zu Lebzeiten erbarmungslos, jetzt MitgefĂŒhl. Es fungiert als Begleiter bei der Traum-Jenseitsreise. Den Zustand der Toten, welcher durch seine Endlosigkeit eher an eine Art Hölle denken lĂ€sst, beschreibt das namenlose Wesen als unertrĂ€glich. Dabei bleibt die exakte Natur dessen, was es an den ZustĂ€nden der vermeintlich Toten so empfindet, in der Schwebe: Einerseits ist, eher Ă€sthetisch, von unertrĂ€glicher „hideousness“ die Rede, andererseits beschwört es, wie die Toten, die „pitiful sight“. Bei der echoartigen Wiederholung seines Rufs wird von den Toten ein „O God!“ hinzugefĂŒgt (PM 265), womit sie eine mögliche religiöse Dimension eröffnen.
 
Das namenlose Wesen, mit dem der ErzĂ€hler kommuniziert, beschreibt sich selbst als Gegenteil seines frĂŒheren Ichs: „I was mortal, but am fiend. I was merciless, but am pitiful.“ Dabei stehen diese selbstgewĂ€hlten Attribute in einem seltsamen Kontrast: Es ist vom Sterblichen zum Unmensch oder DĂ€mon (gar Teufel?) geworden, empfindet aber, obwohl zu Lebzeiten erbarmungslos, jetzt MitgefĂŒhl. Es fungiert als Begleiter bei der Traum-Jenseitsreise. Den Zustand der Toten, welcher durch seine Endlosigkeit eher an eine Art Hölle denken lĂ€sst, beschreibt das namenlose Wesen als unertrĂ€glich. Dabei bleibt die exakte Natur dessen, was es an den ZustĂ€nden der vermeintlich Toten so empfindet, in der Schwebe: Einerseits ist, eher Ă€sthetisch, von unertrĂ€glicher „hideousness“ die Rede, andererseits beschwört es, wie die Toten, die „pitiful sight“. Bei der echoartigen Wiederholung seines Rufs wird von den Toten ein „O God!“ hinzugefĂŒgt (PM 265), womit sie eine mögliche religiöse Dimension eröffnen.
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: Nevertheless, I slept soundly; and the whole of my vision — for it was no dream, and no nightmare — arose naturally from the circumstances of my position — from my ordinary bias of thought — and from the difficulty, to which I have alluded, of collecting my senses, and especially of regaining my memory, for a long time after awaking from slumber (PM 268).
 
: Nevertheless, I slept soundly; and the whole of my vision — for it was no dream, and no nightmare — arose naturally from the circumstances of my position — from my ordinary bias of thought — and from the difficulty, to which I have alluded, of collecting my senses, and especially of regaining my memory, for a long time after awaking from slumber (PM 268).
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Schlaf und Wachen sind ebenfalls zwei gar nicht so weit auseinanderliegende Oppositionen, denn die Angst des ErzĂ€hlers tritt zwar in der Nacht potenziert auf, wirkt aber zudem ins Wachen hinein (vgl. PM 265). Schon tagsĂŒber ist der ErzĂ€hler „lost in reveries of death“ (PM 264).
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Schlaf und Wachen sind in der ErzĂ€hlung ebenfalls zwei nicht weit auseinanderliegende Oppositionen, denn die Angst des ErzĂ€hlers tritt zwar in der Nacht potenziert auf, wirkt aber zudem ins Wachen hinein (PM 265). Schon tagsĂŒber ist der ErzĂ€hler „lost in reveries of death“ (PM 264).
  
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Gerade in der Darstellung des Alp- oder Angsttraums zeigt sich der fĂŒr Poe typische dramatische Stil mit vielen Exklamationen und extensiver Zeichensetzung. In noch radikalerer Form findet dieser Modus in der Darstellung der scheinbar ausweglosen Situation des wahr gewordenen Traums Anwendung, ergĂ€nzt um Verwendung des PrĂ€sens und Anaphern bis hin zum elliptischen Telegrammstil. Physiologische Prozesse des Zu-sich-Kommens werden quĂ€lend minutiös wiedergegeben (vgl. PM 267).
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Gerade in der Darstellung des Alp- oder Angsttraums zeigt sich der fĂŒr Poe typische dramatische Stil mit vielen Exklamationen und extensiver Zeichensetzung. In noch radikalerer Form findet dieser Modus in der Darstellung der scheinbar ausweglosen Situation des wahr gewordenen Traums Anwendung, ergĂ€nzt um Verwendung des PrĂ€sens und Anaphern bis hin zum elliptischen Telegrammstil. Physiologische Prozesse des Zu-sich-Kommens werden quĂ€lend minutiös wiedergegeben (PM 267).
  
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Wie bereits angedeutet ist die Funktion des Traums als Vorbereitung des vermeintlich echten Erlebnisses von entscheidender Bedeutung fĂŒr den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung. RĂŒckblickend betrachtet ist die narrative Differenzierung zwischen erzĂ€hlendem und erlebendem Ich ein erster Hinweis auf den positiven Ausgang des Geschehens. Ein weiteres Indiz liegt im kurzfristigen Wechsel des ErzĂ€hltempus zum PrĂ€sens (vgl. PM 266), welches dann wieder vom PrĂ€teritum abgelöst und damit deutlicher als vergangen markiert wird.
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Wie bereits angedeutet, ist die Funktion des Traums als Vorbereitung des vermeintlich echten Erlebnisses von entscheidender Bedeutung fĂŒr den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung. RĂŒckblickend betrachtet ist die narrative Differenzierung zwischen erzĂ€hlendem und erlebendem Ich ein erster Hinweis auf den positiven Ausgang des Geschehens. Ein weiteres Indiz liegt im kurzfristigen Wechsel des ErzĂ€hltempus zum PrĂ€sens (vgl. PM 266), welches dann wieder vom PrĂ€teritum abgelöst und damit deutlicher als vergangen markiert wird.
  
 
==Einordnung==
 
==Einordnung==
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In der ErzĂ€hlung nimmt die Todesthematik eine prominente, geradezu dominante, Rolle ein, die sich in der Traumdarstellung potenziert. Das Leitmotiv des nur vermeintlichen Todes lĂ€sst sich in wandelbarer Form in weiteren ErzĂ€hlungen des Autors nachverfolgen, sei es nun als lebendiges Begraben (''The Cask of Amontillado'', ''The Fall of the House of Usher'', ''Berenice''), als mögliche RĂŒckkehr von den Toten (''Ligeia'', ''Morella)'' oder Teil von Mesmerismus (''The Facts in the Case of M. Valdemar''); es verdeutlicht die Ungewissheit der Grenze zwischen Leben und Tod (vgl. Sederholm 2017). Es beschreibt aber auch ein ZeitphĂ€nomen, welches sich ebenfalls in Vampirfurcht ausdrĂŒckte (vgl. Stölzel 2013, 56f.). Auch in Poes Lyrik ist der Tod, meist der einer schönen Frau, omniprĂ€sent (u.a. ''Lenore,'' ''Annabel Lee''). Mabbotts Verweis auf das frĂŒhe Gedicht ''A Dream'' (1827) offenbart ein Nacht- und TagtrĂ€ume paradox bewertendes Werk.
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In der ErzĂ€hlung nimmt die Todesthematik eine prominente, geradezu dominante, Rolle ein, die sich in der Traumdarstellung potenziert. Das Leitmotiv des nur vermeintlichen Todes lĂ€sst sich in wandelbarer Form in weiteren ErzĂ€hlungen des Autors finden, sei es nun als lebendiges Begraben (''The Cask of Amontillado'', ''The Fall of the House of Usher'', ''Berenice''), als mögliche RĂŒckkehr von den Toten (''Ligeia'', ''Morella'') oder Teil von Mesmerismus (''The Facts in the Case of M. Valdemar''). Es verdeutlicht die Ungewissheit der Grenze zwischen Leben und Tod (vgl. Sederholm 2017). Es beschreibt aber auch ein ZeitphĂ€nomen, welches sich ebenfalls in Vampirfurcht ausdrĂŒckte (vgl. Stölzel 2013, 56 f.). Auch in Poes Lyrik ist der Tod, meist der einer schönen Frau, omniprĂ€sent (u.a. ''Lenore,'' ''Annabel Lee''). Mabbotts Verweis auf das frĂŒhe Gedicht ''A Dream'' (1827) offenbart ein Nacht- und TagtrĂ€ume paradox bewertendes Werk.
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Der geschilderte Alptraum, zwar auf den ersten Blick nur eine untergeordnete eingebettete ErzĂ€hlung, ist nicht nur anschauliches Beispiel fĂŒr Ă€hnlich schreckliche AlptrĂ€ume des Ich-ErzĂ€hlers, sondern auch fĂŒr die Konstruktion und den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung im Ganzen von Bedeutung. Er ermöglicht es den Rezipienten erst, anschließend den Schrecken des vermeintlichen BegrĂ€bnisses bei lebendigem Leib mitzuerleben. Stilistisch ist die Traumdarstellung stark durchgeformt. Bemerkenswert ist die positive Schlusswendung, die mit wenigen Ausnahmen (dem mĂ€rchenhaften ''Eleonora, or the Valley of the Many-Colored Grass'') fĂŒr Poe ungewöhnlich ist. Sie kann als PlĂ€doyer fĂŒr das Leben und Aufgabe, gar Selbsttherapie (vgl. Zimmerman 2009) von Ängsten gelesen werden, wogegen sie in der Forschung teils als Vermeidungsstrategie des ErzĂ€hlers (vgl. Sederholm 2017, 3) oder UnzuverlĂ€ssigkeit (vgl. Carter 2003, 307f.) aufgefasst wird. Gerade der einleitende Teil der ErzĂ€hlung weist erhöhte SelbstreflexivitĂ€t auf, da er sich betont mit „truth“ und „fiction“ (vgl. PM 258f.) auseinandersetzt. In diesem Kontext lĂ€sst sich, verbunden mit der bewussten Manipulation der Leser, neben einer möglichen Kritik an SensationslektĂŒre auch Unsicherheit ĂŒber den RealitĂ€tsstatus der Welt als Thema ausmachen, welche Poe bezeichnend in seinem Gedicht ''A Dream Within a Dream'' (1849) ausdrĂŒckte.
 
  
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Der geschilderte Alptraum, zwar auf den ersten Blick lediglich eine untergeordnete eingebettete ErzĂ€hlung, ist nicht nur anschauliches Beispiel fĂŒr Ă€hnlich schreckliche AlptrĂ€ume des Ich-ErzĂ€hlers, sondern auch von Bedeutung fĂŒr die Konstruktion und den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung im Ganzen. Er ermöglicht es den Rezipienten erst, anschließend den Schrecken des vermeintlichen BegrĂ€bnisses bei lebendigem Leib mitzuerleben. Stilistisch ist die Traumdarstellung stark durchgeformt. Bemerkenswert ist die positive Schlusswendung, die mit wenigen Ausnahmen (dem mĂ€rchenhaften ''Eleonora, or the Valley of the Many-Colored Grass'') fĂŒr Poe ungewöhnlich ist. Sie kann als PlĂ€doyer fĂŒr das Leben und Aufgabe, gar Selbsttherapie, von Ängsten gelesen werden (vgl. Zimmerman 2009, 14–17), wogegen sie in der Forschung teils als Vermeidungsstrategie des ErzĂ€hlers (vgl. Sederholm 2017, 3) oder UnzuverlĂ€ssigkeit (vgl. Carter 2003, 307 f.) aufgefasst wird.
  
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Gleichfalls beachtenswert sind die Parallelen zu „Traumvisionen“ (dazu Engel 2017, 36-38) bei der getrĂ€umten ,Jenseitsschau‘ , zu deren Gestaltung Poe, wie oben angedeutet, biblische sowie schauerromantische Vorlagen nutzt. Im ''twist ending'' wird das schon durch die Kennzeichnung als Traum verminderte Wunderbare (nach Durst 2010) zugunsten einer realistischen (psychologischen) ErklĂ€rung weiter abgeschwĂ€cht, was durch die positive Schlusswendung mit der Entscheidung des Protagonisten fĂŒr ein Leben ohne seine Ängste, die ĂŒberraschenderweise auch die körperlichen Symptome zum Verschwinden bringt, dupliziert wird. Doch die Möglichkeit solch jenseitiger Schrecken ist weiter vorhanden; die Gedanken an sie mĂŒssen unterdrĂŒckt, ja ,zum Schlafen gebracht‘ werden, um das Leben bewĂ€ltigen zu können: „they must sleep, or they will devour us — they must be suffered to slumber, or we perish.“ (PM 268)<ref>Ich danke Manfred Engel fĂŒr die Anregung zu diesen ErgĂ€nzungen.</ref> Gerade der einleitende Teil der ErzĂ€hlung weist zudem erhöhte SelbstreflexivitĂ€t auf, da er sich betont mit „truth“ und „fiction“ (PM 258 f.) auseinandersetzt. In diesem Kontext lĂ€sst sich, verbunden mit der bewussten Manipulation der Leser, neben einer möglichen Kritik an SensationslektĂŒre auch Unsicherheit ĂŒber den RealitĂ€tsstatus der Welt als Thema ausmachen, welche Poe bezeichnend in seinem Gedicht ''A Dream Within a Dream'' (1849) ausdrĂŒckte.
  
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<div style="text-align: right;">Kathrin Neis</div>
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Kathrin Neis]]</div>
  
  
 
==Literatur==
 
==Literatur==
 
===Ausgaben/ Quellen===
 
===Ausgaben/ Quellen===
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* Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: The Penguin Complete Tales and Poems of Edgar Allan Poe. 3. Aufl. London: Penguin Books 2011, 258–268 (mit Sigle PM zitierte Ausgabe).
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* Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe: The Penguin Complete Tales and Poems. Hg. von Will Self. 3. Aufl. London: Penguin Books 2011, 258–268 (Zitatgrundlage; Sigle PM).
 
* Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe: Collected Works. Hg. von Thomas Ollive Mabbott. Bd. 3: Tales and Sketches 1843–1849. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Press 1978, 953–974. (Anmerkungen daraus zitiert als Mabbott)
 
* Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe: Collected Works. Hg. von Thomas Ollive Mabbott. Bd. 3: Tales and Sketches 1843–1849. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Press 1978, 953–974. (Anmerkungen daraus zitiert als Mabbott)
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* Poe, Edgar Allan: Das gesamte Werk in zehn BĂ€nden. Hg. von Kuno Schumann. Übers. von Arno Schmidt und Hans WollschlĂ€ger. Bd. 3. Herrsching: Pawlak 1979, ###-###.
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* Poe, Edgar Allan: Das vorzeitige BegrĂ€bnis. In: Edgar Allan Poe: Das gesamte Werk in zehn BĂ€nden. Hg. von Kuno Schumann und Hans Dieter MĂŒller. Übers. von Arno Schmidt und Hans WollschlĂ€ger. Bd. 4: Faszination des Grauens. Herrsching: Pawlak 1979, 788-810 (deutsche Gesamtausgabe).
  
 
===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
 
* Alt, Peter-AndrĂ©: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. MĂŒnchen: Beck 2002.
 
* Alt, Peter-AndrĂ©: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. MĂŒnchen: Beck 2002.
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* Carter, Steven: The Reader Erect. Edgar Allan Poe’s “The Premature Burial”. In: Studia Anglica Posnaniensia 39 (2003), 303–308; http://hdl.handle.net/10593/18651.
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* Carter, Steven: The Reader Erect. Edgar Allan Poe’s “The Premature Burial”. In: Studia Anglica Posnaniensia 39 (2003), 303–308.
 
* Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Aktualis., korrig. u. erw. Neuausgabe. Berlin: LIT-Verlag 2010.
 
* Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Aktualis., korrig. u. erw. Neuausgabe. Berlin: LIT-Verlag 2010.
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* Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/ Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream. Écrire le rĂȘve. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2017, 19–44.
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* Fisher, Benjamin F.: Poe and the Gothic Tradition. In: Kevin J. Hayes (Hg.): The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe. Cambridge, Mass.: Cambridge UP 2004, 72–91.
 
* Fisher, Benjamin F.: Poe and the Gothic Tradition. In: Kevin J. Hayes (Hg.): The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe. Cambridge, Mass.: Cambridge UP 2004, 72–91.
 
* Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzÀhlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
 
* Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzÀhlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
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* Sederholm, Karl H.: Bodies Out of Place. Poe, Premature Burial, and The Uncanny. In: FORUM. University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts 24: Taboo (2017), 1–8. http://www.forumjournal.org/article/view/1877#.
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* Sederholm, Karl H.: Bodies Out of Place. Poe, Premature Burial, and The Uncanny. In: FORUM. University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts 24: Taboo (2017), 1–8; http://www.forumjournal.org/article/view/1877#.
 
* Solte-Gresser, Christiane: TrĂ€ume (GĂŒnter Eich). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Tr%C3%A4ume%22_(G%C3%BCnter_Eich).
 
* Solte-Gresser, Christiane: TrĂ€ume (GĂŒnter Eich). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Tr%C3%A4ume%22_(G%C3%BCnter_Eich).
 
* Stölzel, Simone: Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik. Berlin: Die Andere Bibliothek 2013.
 
* Stölzel, Simone: Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik. Berlin: Die Andere Bibliothek 2013.
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* Zimmerman, Brett: Poe as Amateur Psychologist: Flooding Phobias, Psychosomatics, and ''The Premature Burial''. In: Edgar Allan Poe Review 10 (2009), 7–19; http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&amp;AuthType=cookie,ip,uid&amp;db=hlh&amp;AN=42512684&amp;lang=de&amp;site=eds-live&amp;authtype=uid&amp;lang=de.
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* Zimmerman, Brett: Poe as Amateur Psychologist: Flooding, Phobias, Psychosomatics, and ''The Premature Burial''. In: Edgar Allan Poe Review 10 (2009), 7–19.
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===Weblinks===
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==Weblinks==
 
* [https://www.eapoe.org/works/tales/preburc.htm Englischer Volltext auf der Seite der Edgar Allan Poe Society]
 
* [https://www.eapoe.org/works/tales/preburc.htm Englischer Volltext auf der Seite der Edgar Allan Poe Society]
 
* [http://gutenberg.spiegel.de/buch/lebendig-begraben-7204/1 Deutscher Volltext im Projekt Gutenberg]
 
* [http://gutenberg.spiegel.de/buch/lebendig-begraben-7204/1 Deutscher Volltext im Projekt Gutenberg]
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* [http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&db=nlabk&AN=150051 ausfĂŒhrliche biografische Darstellung des Autors, via Ebsco-Host verfĂŒgbar]
 
  
  
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Aktuelle Version vom 10. MĂ€rz 2022, 15:14 Uhr

The Premature Burial („Das vorzeitige BegrĂ€bnis“) ist eine Kurzgeschichte oder kurze ErzĂ€hlung (tale) des nordamerikanischen Autors Edgar Allan Poe (1809–1849), die zuerst 1844 in The Philadelphia Dollar Newspaper erschien. Das sich durch den Text ziehende Grundthema ist die auch in anderen Werken Poes prĂ€sente Angst des Protagonisten, lebendig begraben zu werden, die sich auch in einem prominent platzierten Alptraum ausdrĂŒckt. Dieser ist zugleich Grundlage eines twist endings.


Autor

Edgar Allan Poe war Journalist und ein wichtiger ErzĂ€hler und Lyriker der amerikanischen Romantik. Er wurde 1809 in Boston geboren und wuchs nach dem frĂŒhen Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters, beide Schauspieler, bei dem schottischen Kaufmann John Allan auf (daher der Zweitname), zu dem er zeitlebens ein schwieriges VerhĂ€ltnis hatte. Nach einem abgebrochenen Sprachstudium und einigen Jahren MilitĂ€rdienst arbeitete Poe als freier Journalist, (Mit-)Herausgeber diverser Zeitschriften und Autor, meist unter schwierigen finanziellen Bedingungen. Schriftstellerisch bekannt wurde er relativ spĂ€t und populĂ€r erst mit seinem bis heute wohl berĂŒhmtesten Werk, dem Langgedicht The Raven (1845).


Zur Entstehungsgeschichte

Die in der ErzĂ€hlung angefĂŒhrten ,realen‘ FĂ€lle von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib sind von der Poe-Quellenforschung weitgehend identifiziert worden (vgl. Mabbott, 954, 969-971). Zudem sah Poe einen „life preserving coffin“ auf der Jahresausstellung 1843 in New York (ebd., 954), der ihn zu den Sicherheitsvorkehrungen inspiriert haben könnte, die sein Protagonist in der ErzĂ€hlung trifft.


Inhalt und Aufbau

Das Werk lĂ€sst sich formal wie inhaltlich in zwei Teile gliedern: Im ersten berichtet der namenlose autodiegetische ErzĂ€hler anekdotenartig von verschiedenen authentisch scheinenden FĂ€llen von BegrĂ€bnissen bei lebendigem Leib in Baltimore, Paris, Leipzig und London (PM 259 f.). Dabei bedient er sich authentizitĂ€tsbeglaubigender Mittel wie der ErwĂ€hnung der Namen von Personen oder Quellen (u.a. „The Chirurgical Journal of Leipsic“, PM 260). Es kann eine leicht satirische Intention vermutet werden, da Poe sensationalistische Berichte aus seinem journalistischen Alltag kannte und sich öfter satirisch damit auseinandersetzte (u.a. in How to Write a Blackwood Article), so wie bei Poe grundsĂ€tzlich eine Weiterentwicklung der gothic novel-Tradition zu beobachten ist (vgl. Fisher 2004; Zimmerman 2009, 16).

Im zweiten Teil kommt der Ich-ErzĂ€hler auf sein persönliches Schicksal zu sprechen: Er leidet von jeher unter anfallartigen ZustĂ€nden von „catalepsy“ (PM 263), die kaum von tatsĂ€chlichem Gestorbensein unterschieden werden können. Daher befĂŒrchtet er, ebenso wie in den berichteten Anekdoten lebendig begraben zu werden. Er trifft elaborierte Sicherheitsvorkehrungen (u.a. von innen zu öffnender Sarg und Gruft); dennoch nimmt seine Angst immer extremere ZĂŒge an, und er misstraut sogar seinen Freunden. Nachdem er von einem spektakulĂ€ren Alptraum berichtet, scheint seine grĂ¶ĂŸte Angst sich trotz aller Vorkehrungen zu bewahrheiten: Er wacht in einem engen Kasten auf, kann sich kaum bewegen, und seine Sicherheitsvorkehrungen sind nicht vorhanden. Das Eindringen von Stimmen in seinen DĂ€mmerzustand und sein sukzessives Zu-sich-Kommen bringen ihn schließlich zur Erkenntnis der Wahrheit: Auf einem Jagdausflug mit einem Freund hat er angesichts eines aufziehenden Sturms Zuflucht auf einem Schiff gesucht, in dessen enger KajĂŒte er in seinen komaartigen Schlaf gefallen war. FĂŒr eine Poe-ErzĂ€hlung relativ untypisch löst dieses Erlebnis eine positive VerĂ€nderung beim Protagonisten aus, der von einem Verlust seiner Ängste und einer lebensbejahenden Einstellung berichtet. Aus Perspektive der Geschlechterforschung dĂŒrfte außerdem sein Ausspruch „I became a new man, and lived a man’s life“ (PM 268) interessant sein.


Der Traum

Zentral ist der erwĂ€hnte Alptraum (vgl. PM 264 f.), der iterativ erzĂ€hlt und als typisch fĂŒr den ErzĂ€hler beschrieben wird. Er könnte auf einen realen Traum des Dichters zurĂŒckgehen (vgl. Mabbott, 954). Des Weiteren relevant ist die Begriffsvielfalt des ErzĂ€hlers, der u.a. von „dreams“, „nightmare“, „trance“, „vision“, „phantasies“ (vgl. besonders PM 268) spricht.

Situierung und Beschreibung

Der Alptraum ist im zweiten Teil des Textes angesiedelt, der sich mit dem persönlichen Schicksal des ErzĂ€hlers befasst. Er bildet die Nahtstelle zu seinem vorgeblich realen Erlebnis am Ende und ist zugleich Voraussetzung fĂŒr die daraus erwachsende Spannung und Schockwirkung beim Rezipienten.

Nachdem der ErzĂ€hler davon berichtet hat, wie sehr ihn seine Furcht im Alltagsleben beeintrĂ€chtigt (Zimmerman 2009, 7 f., liest das tale als geradezu moderne psychologische Fallstudie), schickt sich der ErzĂ€hler an, reprĂ€sentativ einen ausgewĂ€hlten Alptraum wiederzugeben. Dieser sei nur eines unter „innumerable images of gloom which thus oppressed me in dreams“ (PM 264). Der Traum (vgl. PM 264 f.) ist somit eindeutig markiert, jedoch gebraucht der ErzĂ€hler die Bezeichnung „vision“. Bezeichnenderweise ist der Gedanke, sich in „a cataleptic trance of more than usual duration and profundity“ zu befinden, als möglicher Tagesrest Teil seines Traums (vgl. PM 264).

Im Traum wird er von einer eisigen Hand auf der Stirn berĂŒhrt und von einer Stimme, deren Urheber er nicht sehen kann, mehrfach zum Aufstehen aufgefordert („Arise!“). So ,erwacht‘, befindet er sich in völliger Dunkelheit ohne zeitliche oder rĂ€umliche Erinnerung oder Orientierung. Die nicht erkennbare Gestalt, die ihn nun am Handgelenk gepackt hĂ€lt, wundert sich darĂŒber, dass er angesichts der schrecklichen UmstĂ€nde so ruhig schlafen könne. Auf seine Nachfrage hin beschreibt sie sich als ohne Namen „in the regions which I inhabit“ [1] und betont ihr Missbefinden. Sie fordert den TrĂ€umer auf, ihr in die „outer Night“ zu folgen, um ihm GrĂ€ber zu zeigen. Plötzlich kann er die geöffneten „graves of all mankind“ sehen und muss mit Erschrecken feststellen, dass nur die Minderheit der Toten tatsĂ€chlich ruht, die ĂŒbrigen aber unruhig oder deplatziert in ihren GrĂ€bern sind. Als sich diese plötzlich schließen, wiederholen die Toten variierend den Ausruf der Gestalt („Is it not — o God! is it not a very pitiful sight?“), und der Traum endet. Der ErzĂ€hler betont abschließend, wie sehr die Wirkung solcher Traumgesichte ihn auch im Wachen beeintrĂ€chtige und zur fortschreitenden ZerrĂŒttung seiner Nerven beitrage. Unmittelbar darauf geht er zur Schilderung der Situation ĂŒber, die wie der wahr gewordene Alptraum anmutet.

Analyse, Darstellungsbesonderheiten und Interpretation

Es handelt sich bei dem beschriebenen Traum um einen Alptraum, der als intradiegetische ErzÀhlung des autodiegetischen ErzÀhlers in seinen Bericht eingebettet ist. Neben seiner spannungsgenerierenden Funktion, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, weist er auf inhaltlicher wie stilistischer Ebene einige Darstellungsbesonderheiten auf.

Zu den darstellerischen Besonderheiten zĂ€hlt unter anderem die Betonung sensueller EindrĂŒcke. Der TrĂ€umende wird scheinbar innerhalb seines Traums geweckt, wodurch, wenn auch nur nebenbei, der Gedanke eines Traums im Traum bzw. einer zeitweise ungewissen Unterscheidung zwischen TrĂ€umen und Wachen aufgerufen wird. Bei diesem ,Erwachen‘ nimmt er zunĂ€chst taktile EindrĂŒcke wahr (die eisige Hand auf seiner Stirn, spĂ€ter das Umfassen seines Handgelenks), dann auditive (die Stimme des GegenĂŒbers und spĂ€ter die Schreie der Toten). Die visuellen EindrĂŒcke stehen an letzter Stelle, und bis zum Schluss ist es ihm unmöglich, sein GegenĂŒber zu erkennen. Dunkelheit ĂŒberwiegt, im ĂŒbertragenen wie wörtlichen Sinne (des Nachts ist die Angst des ErzĂ€hlers potenziert); der Kontrast zur „radiance of decay“ aus den GrĂ€bern ruft, wie des Öfteren in TraumerzĂ€hlungen (vgl. u.a. Solte-Gresser 2016), Parallelen zu Platons Höhlengleichnis auf. Die (Schein-)Toten, deren GrĂ€ber sich alle zugleich öffnen, lassen an die Beschreibung der Ereignisse nach Jesu Tod am Kreuz denken: „And the graves were opened; and many bodies of the saints which slept arose, and came out of the graves after his resurrection, and went into the holy city, and appeared unto many” (Mt 27,52-53) oder an das JĂŒngste Gericht. Alle SinneseindrĂŒcke des TrĂ€umers sind mit unangenehmen Eigenschaften versehen, wobei die Stimme und vor allem die eiskalte Hand hervorstechen. Beim spĂ€ter folgenden vermeintlichen Aufwachen unter der Erde erlangt er in auffallend Ă€hnlicher Weise Gehör und GefĂŒhl zurĂŒck (vgl. PM 266 f.), was aus rezeptionsĂ€sthetischer Sicht angesichts der intendierten Spannungserzeugung logisch erscheint.

Das namenlose Wesen, mit dem der ErzĂ€hler kommuniziert, beschreibt sich selbst als Gegenteil seines frĂŒheren Ichs: „I was mortal, but am fiend. I was merciless, but am pitiful.“ Dabei stehen diese selbstgewĂ€hlten Attribute in einem seltsamen Kontrast: Es ist vom Sterblichen zum Unmensch oder DĂ€mon (gar Teufel?) geworden, empfindet aber, obwohl zu Lebzeiten erbarmungslos, jetzt MitgefĂŒhl. Es fungiert als Begleiter bei der Traum-Jenseitsreise. Den Zustand der Toten, welcher durch seine Endlosigkeit eher an eine Art Hölle denken lĂ€sst, beschreibt das namenlose Wesen als unertrĂ€glich. Dabei bleibt die exakte Natur dessen, was es an den ZustĂ€nden der vermeintlich Toten so empfindet, in der Schwebe: Einerseits ist, eher Ă€sthetisch, von unertrĂ€glicher „hideousness“ die Rede, andererseits beschwört es, wie die Toten, die „pitiful sight“. Bei der echoartigen Wiederholung seines Rufs wird von den Toten ein „O God!“ hinzugefĂŒgt (PM 265), womit sie eine mögliche religiöse Dimension eröffnen.

Weiterhin bemerkenswert ist die mehrfach betonte Verwandtschaft zwischen Tod und Schlaf. Allein schon die kataleptische Erkrankung des ErzĂ€hlers fĂŒhrt zu mit damaligen Mitteln kaum vom Tode unterscheidbaren ZustĂ€nden, weshalb seine Angst nicht unbegrĂŒndet ist (vgl. auch Zimmermann 2009, 10). Dass seine Trance Teil des Traums ist, betont diesen liminalen Zustand zusĂ€tzlich. Allerdings bezweckt der ErzĂ€hler nicht, einen phantastischen oder wunderbaren Status hervorzurufen; durch die eindeutige Traummarkierung ist eine realismuskompatible ErklĂ€rung (nach Durst 2010) gewĂ€hrleistet. Erstaunlich ist sein Beharren auf Begriffsunterscheidungen. So lehnt er es nach seinem Erlebnis in der BootskajĂŒte vehement ab, von einem Traum zu sprechen, erwĂ€hnt aber die körperlichen EinflĂŒsse auf seine Wahrnehmung (was an Leibreiz-Theorien erinnert):

Nevertheless, I slept soundly; and the whole of my vision — for it was no dream, and no nightmare — arose naturally from the circumstances of my position — from my ordinary bias of thought — and from the difficulty, to which I have alluded, of collecting my senses, and especially of regaining my memory, for a long time after awaking from slumber (PM 268).

Schlaf und Wachen sind in der ErzĂ€hlung ebenfalls zwei nicht weit auseinanderliegende Oppositionen, denn die Angst des ErzĂ€hlers tritt zwar in der Nacht potenziert auf, wirkt aber zudem ins Wachen hinein (PM 265). Schon tagsĂŒber ist der ErzĂ€hler „lost in reveries of death“ (PM 264).

Gerade in der Darstellung des Alp- oder Angsttraums zeigt sich der fĂŒr Poe typische dramatische Stil mit vielen Exklamationen und extensiver Zeichensetzung. In noch radikalerer Form findet dieser Modus in der Darstellung der scheinbar ausweglosen Situation des wahr gewordenen Traums Anwendung, ergĂ€nzt um Verwendung des PrĂ€sens und Anaphern bis hin zum elliptischen Telegrammstil. Physiologische Prozesse des Zu-sich-Kommens werden quĂ€lend minutiös wiedergegeben (PM 267).

Wie bereits angedeutet, ist die Funktion des Traums als Vorbereitung des vermeintlich echten Erlebnisses von entscheidender Bedeutung fĂŒr den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung. RĂŒckblickend betrachtet ist die narrative Differenzierung zwischen erzĂ€hlendem und erlebendem Ich ein erster Hinweis auf den positiven Ausgang des Geschehens. Ein weiteres Indiz liegt im kurzfristigen Wechsel des ErzĂ€hltempus zum PrĂ€sens (vgl. PM 266), welches dann wieder vom PrĂ€teritum abgelöst und damit deutlicher als vergangen markiert wird.

Einordnung

In der ErzĂ€hlung nimmt die Todesthematik eine prominente, geradezu dominante, Rolle ein, die sich in der Traumdarstellung potenziert. Das Leitmotiv des nur vermeintlichen Todes lĂ€sst sich in wandelbarer Form in weiteren ErzĂ€hlungen des Autors finden, sei es nun als lebendiges Begraben (The Cask of Amontillado, The Fall of the House of Usher, Berenice), als mögliche RĂŒckkehr von den Toten (Ligeia, Morella) oder Teil von Mesmerismus (The Facts in the Case of M. Valdemar). Es verdeutlicht die Ungewissheit der Grenze zwischen Leben und Tod (vgl. Sederholm 2017). Es beschreibt aber auch ein ZeitphĂ€nomen, welches sich ebenfalls in Vampirfurcht ausdrĂŒckte (vgl. Stölzel 2013, 56 f.). Auch in Poes Lyrik ist der Tod, meist der einer schönen Frau, omniprĂ€sent (u.a. Lenore, Annabel Lee). Mabbotts Verweis auf das frĂŒhe Gedicht A Dream (1827) offenbart ein Nacht- und TagtrĂ€ume paradox bewertendes Werk.

Der geschilderte Alptraum, zwar auf den ersten Blick lediglich eine untergeordnete eingebettete ErzĂ€hlung, ist nicht nur anschauliches Beispiel fĂŒr Ă€hnlich schreckliche AlptrĂ€ume des Ich-ErzĂ€hlers, sondern auch von Bedeutung fĂŒr die Konstruktion und den Spannungsaufbau der ErzĂ€hlung im Ganzen. Er ermöglicht es den Rezipienten erst, anschließend den Schrecken des vermeintlichen BegrĂ€bnisses bei lebendigem Leib mitzuerleben. Stilistisch ist die Traumdarstellung stark durchgeformt. Bemerkenswert ist die positive Schlusswendung, die mit wenigen Ausnahmen (dem mĂ€rchenhaften Eleonora, or the Valley of the Many-Colored Grass) fĂŒr Poe ungewöhnlich ist. Sie kann als PlĂ€doyer fĂŒr das Leben und Aufgabe, gar Selbsttherapie, von Ängsten gelesen werden (vgl. Zimmerman 2009, 14–17), wogegen sie in der Forschung teils als Vermeidungsstrategie des ErzĂ€hlers (vgl. Sederholm 2017, 3) oder UnzuverlĂ€ssigkeit (vgl. Carter 2003, 307 f.) aufgefasst wird.

Gleichfalls beachtenswert sind die Parallelen zu „Traumvisionen“ (dazu Engel 2017, 36-38) bei der getrĂ€umten ,Jenseitsschau‘ , zu deren Gestaltung Poe, wie oben angedeutet, biblische sowie schauerromantische Vorlagen nutzt. Im twist ending wird das schon durch die Kennzeichnung als Traum verminderte Wunderbare (nach Durst 2010) zugunsten einer realistischen (psychologischen) ErklĂ€rung weiter abgeschwĂ€cht, was durch die positive Schlusswendung mit der Entscheidung des Protagonisten fĂŒr ein Leben ohne seine Ängste, die ĂŒberraschenderweise auch die körperlichen Symptome zum Verschwinden bringt, dupliziert wird. Doch die Möglichkeit solch jenseitiger Schrecken ist weiter vorhanden; die Gedanken an sie mĂŒssen unterdrĂŒckt, ja ,zum Schlafen gebracht‘ werden, um das Leben bewĂ€ltigen zu können: „they must sleep, or they will devour us — they must be suffered to slumber, or we perish.“ (PM 268)[2] Gerade der einleitende Teil der ErzĂ€hlung weist zudem erhöhte SelbstreflexivitĂ€t auf, da er sich betont mit „truth“ und „fiction“ (PM 258 f.) auseinandersetzt. In diesem Kontext lĂ€sst sich, verbunden mit der bewussten Manipulation der Leser, neben einer möglichen Kritik an SensationslektĂŒre auch Unsicherheit ĂŒber den RealitĂ€tsstatus der Welt als Thema ausmachen, welche Poe bezeichnend in seinem Gedicht A Dream Within a Dream (1849) ausdrĂŒckte.

Kathrin Neis


Literatur

Ausgaben/ Quellen

  • Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe: The Penguin Complete Tales and Poems. Hg. von Will Self. 3. Aufl. London: Penguin Books 2011, 258–268 (Zitatgrundlage; Sigle PM).
  • Poe, Edgar Allan: The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe: Collected Works. Hg. von Thomas Ollive Mabbott. Bd. 3: Tales and Sketches 1843–1849. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Press 1978, 953–974. (Anmerkungen daraus zitiert als Mabbott)
  • Poe, Edgar Allan: Das vorzeitige BegrĂ€bnis. In: Edgar Allan Poe: Das gesamte Werk in zehn BĂ€nden. Hg. von Kuno Schumann und Hans Dieter MĂŒller. Übers. von Arno Schmidt und Hans WollschlĂ€ger. Bd. 4: Faszination des Grauens. Herrsching: Pawlak 1979, 788-810 (deutsche Gesamtausgabe).

Forschungsliteratur

  • Alt, Peter-AndrĂ©: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. MĂŒnchen: Beck 2002.
  • Carter, Steven: The Reader Erect. Edgar Allan Poe’s “The Premature Burial”. In: Studia Anglica Posnaniensia 39 (2003), 303–308.
  • Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Aktualis., korrig. u. erw. Neuausgabe. Berlin: LIT-Verlag 2010.
  • Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/ Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream. Écrire le rĂȘve. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2017, 19–44.
  • Fisher, Benjamin F.: Poe and the Gothic Tradition. In: Kevin J. Hayes (Hg.): The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe. Cambridge, Mass.: Cambridge UP 2004, 72–91.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzĂ€hlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
  • Sederholm, Karl H.: Bodies Out of Place. Poe, Premature Burial, and The Uncanny. In: FORUM. University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts 24: Taboo (2017), 1–8; http://www.forumjournal.org/article/view/1877#.
  • Solte-Gresser, Christiane: TrĂ€ume (GĂŒnter Eich). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Tr%C3%A4ume%22_(G%C3%BCnter_Eich).
  • Stölzel, Simone: Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik. Berlin: Die Andere Bibliothek 2013.
  • Zimmerman, Brett: Poe as Amateur Psychologist: Flooding, Phobias, Psychosomatics, and The Premature Burial. In: Edgar Allan Poe Review 10 (2009), 7–19.


Weblinks


Anmerkungen

  1. ↑ In der ersten Fassung der ErzĂ€hlung nannte sie sich „Shadow“ (Mabbott, 964). Dies ermöglicht Deutungen im Kontext von Reisen in die Unterwelt oder AnklĂ€nge an die Apokalypse mit ihrem ,Engel des Abgrunds‘.
  2. ↑ Ich danke Manfred Engel fĂŒr die Anregung zu diesen ErgĂ€nzungen.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Neis, Kathrin: "The Premature Burial" (Edgar Allan Poe). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2018; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22The_Premature_Burial%22_(Edgar_Allan_Poe) .