"Träume" (Meret Oppenheim)

Aus Lexikon Traumkultur
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Träume. Aufzeichnungen 1928-1985 sind eine Sammlung von persönlich ausgewählten Traumaufzeichnungen aus sämtlichen Lebensphasen der in Berlin-Charlottenburg geborenen schweizerischen Künstlerin und Lyrikerin Meret Oppenheim (1913-1985). Meret Oppenheim notierte ihre Träume, weil sie diesen sowohl im Allgemeinen aber auch in Bezug auf ihre Kunst und Dichtung eine besondere Bedeutung beimaß (Schulz 2006, 51). Gemäß Christiane Meyer-Thoss, Herausgeberin von Träume. Aufzeichnungen 1928-1985 und Vertraute bzw. Freundin Meret Oppenheims, sind die Traumaufzeichnungen nicht „als Bildspeicher“, sondern vielmehr als „das dokumentarische Material, das Storyboard zum Film der Bilder, zu dem von Meret Oppenheim realisierten Bilderkosmos“ zu verstehen (Meyer-Thoss, T 87). Die Sammlung ermöglicht einen tiefreichenden Einblick in Meret Oppenheims Träume, die ein breites inhaltliches Spektrum aufweisen und auch einige von ihr selbst verfasste Deutungen der Trauminhalte anbieten. Diese Deutungen referieren dabei zuweilen auf grundlegende Ideen der Lehren von Carl Gustav Jung, durch die Meret Oppenheim auch dazu inspiriert war, ihre eigenen Träume zu notieren (vgl. Baur 2021, 211), und die ihre eigene Traumauffassung prägten. Meret Oppenheim interpretiert bzw. „benutzt“ ihre eigenen Träum häufig „‘zur Lösung grundlegender Lebensfragen‘. Sie dienen ihr während aller Lebensphasen als eine Art persönliche Orientierungshilfe.“ (Schulz 2006, 54).


Zu Meret Oppenheim

Meret Oppenheim war eine am 6. Oktober 1913 in Deutschland (Berlin-Charlottenburg) geborene, schweizerische Künstlerin und Lyrikerin (gestorben am 15. November 1985 in Basel). Bekannt und berühmt wurde Meret Oppenheim insbesondere als Künstlerin, die dem Künstlerkreis der Pariser Surrealisten um André Breton, Marcel Duchamp, Max Ernst, Man Ray, Albert Giacometti, Joan Mirò etc. ab ca. 1932 nach Einführung und Vermittlung durch den Schweizer Künstlers Hans Arp angehörte (Meyer-Thoss 2013b, 72). Während Meret Oppenheim durch die Pariser Bekanntschaften und Freundschaften zwar künstlerisch und persönlich geprägt wurde und sie für ihr frühes Œuvre zahlreiche wichtige Impulse bekam, fühlte sie sich der Gruppe der Surrealisten nie vollständig zugehörig. Allerdings setzte sie Zeit ihres Lebens, trotz ihrer frühen, „vom Surrealismus vereinnahmten“ und hinsichtlich der Publikumsrezeption erfolgreichen Werke, wie z. B. die sogenannte „Pelztasse“ von 1936 – André Breton erfand für das Werk den Namen „Dejeuner en fourrure“ („Frühstück im Pelz“) – beharrlich ihre Eigenständigkeit als Künstlerin durch (vgl. Helfenstein 1993, 68-78). Neben den zahlreichen Malereien und Zeichnungen schuf Meret Oppenheim in ihrem auch von einigen längeren Schaffenskrisen geprägten Leben (vgl. Curiger 1989, 42ff., vgl. ebenso T 28-30), das sie überwiegend an verschiedenen Orten in der Schweiz verbringt (Rückkehr von Paris nach Basel im Jahr 1937, später Bern und Carona im Tessin etc.), ein umfangreiches Œuvre, das u. a. Skulpturen, Brunnen (z. B. am Waisenhausplatz in Bern) und Kunstobjekte in verschiedensten Materialien (vgl. Baur 2021, 150-167), Fotografien, aber auch Designobjekte wie Möbel, Schmuck und Kleidung (vgl. Baur 2021, 130-147) sowie Performancekunst und Gedichte (vgl. Baur 2021, 90-107) umfasst. Diese Werke sind nicht selten vom Traum inspiriert, besonders vom „Sehnsuchtspotential des Fragmentarischen“, vom „Atem des größeren, zeitenthobenen Zusammenhangs“ geprägt (Meyer-Thoss, T 87), weshalb Meret Oppenheim seit dem Jahr 1928 ihre eigenen Träume notierte.


Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen von Meret Oppenheim

Meret Oppenheim sammelte seit dem Jahr 1928 ihre Traumaufzeichnungen und übergab ihre „Sammelmappe“ mit den chronologisch sortierten Aufzeichnungen im Jahr 1984 der Herausgeberin des Bandes Träume. Aufzeichnungen Christiane Meyer-Thoss. Zeitlich nach der Übergabe notierte und von Meret Oppenheim zur Publikation ausgewählte Träume schickte sie nachträglich per Post an Meyer-Thoss (Meyer-Thoss, T 86). In der editorischen Notiz (vgl. hierzu und im folgenden Meyer-Thoss, T 117) merkt die Herausgeberin an, dass Meret Oppenheim, wie anhand des „einheitlichen Schriftbild[es]“ zu folgern sei, „wahrscheinlich bis Ende der fünfziger Jahre, wichtige Träume innerhalb eines kurzen Zeitraumes nacheinander abgeschrieben [.], also übernommen [hat] aus älteren Notizheften“. In diesem Zusammenhang „fügte Meret Oppenheim auch zusätzliche Erklärungen und Kommentare ein“, die im gesamten Band ihre eigene Sicht und teilweise auch persönliche Deutungsversuche des Geträumten darlegen. Das gesamte Textmaterial wurde von Meret Oppenheim in den „siebziger Jahren“ sowie „ein letztes Mal dann im Dezember 1984 in Frankfurt“ – sehr wahrscheinlich bei einem Besuch bei Meyer-Thoss – „durchgesehen, kommentiert, ergänzt, verbessert“. Die im Rahmen der Korrekturen vorgenommenen Änderungen stehen in den Texten in eckigen Klammern. Die Sammlung Träume gibt abgesehen von wenigen Auslassungen, die z. B. „sehr persönliche Daten betreffen“, Oppenheims Aufzeichnungen „nahezu vollständig“ und „in der von ihr bestimmten chronologischen Reihenfolge“ wieder.


Meret Oppenheims Aufzeichnungen im Band „Träume“

Die folgende Übersicht präsentiert die Traumaufzeichnungen Meret Oppenheims im Band Träume. In die Liste aufgenommen wurden ausschließlich die Traumaufzeichnungen, nicht aber die von Meret Oppenheim verfassten Darstellungen zu den herrschenden Lebensumständen, die sie zuweilen zwischen den Traumaufzeichnungen ergänzte, um den Kontext zu erläutern, in dem die Traumaufzeichnungen stehen bzw. vor dessen Hintergrund diese zu deuten wären. Zuweilen sind im Band Träume Abbildungen enthalten, die den handschriftlichen Text oder grafische Skizzen und Zeichnungen von Trauminhalten wiedergeben, z. B. zum Traum mit dem Höllenhund („1928-30?“, Nr. 3 der folgenden Liste, T 10), zum Friedhofstraum mit Schlange und Apfel von 1929 (Nr. 6, T 13), zum Traum mit dem Rettungsinstrument für Ertrinkende vom 6. August 1933 (Nr. 10, T 16), zu den Träumen am 10. und 11. August 1936 bzgl. der Einrichtung des eigenen Häuschens, bzgl. der „kleinen Maschine zum Sätzeschreiben für Schriftsteller“ und bzgl. des Bildes von Salvador Dalì, das sich wie ein Film bewegt, (Nr. 21-23, T 23) sowie zu weiteren Themen (siehe dazu T 34, T 36, T 47, T 51, T 57, T 59, T 63, T 67 und T 69). Wie bereits erwähnt werden die Traumaufzeichnungen Meret Oppenheims zuweilen von Erläuterungen zu den herrschenden Lebensumständen unterbrochen, die eine persönliche Einordnung der Traumaufzeichnungen in einen Kontext darstellen, z. B. „Zwischen 1936 und 1953 habe ich, soviel ich aus meinen Notizen sehe, keinen einzigen Traum aufgeschrieben. […]“ (T 28-30) oder „Im Nov. 1954 hatte ich ein „inneres Erlebnis“ […]“ (T 31-33). Folgende Übersicht greift wie bereits erwähnt ausschließlich die Traumaufzeichnungen, nicht aber diese Erläuterungen auf. Die Übersicht folgt in Orthografie und Interpunktion der Darstellung im herausgegebenen Band und es wurden keine Textkorrekturen vorgenommen. Ergänzungen werden im vorliegenden Beitrag lediglich an fünf Stellen vorgenommen, z. B. um Abkürzungen zu erläutern, und diese in geschweifte Klammern, d. h. {}, gesetzt. Diese Art der Markierung ist notwendig, weil Meret Oppenheim in ihren Texten sowohl runde Klammern, d. h. (), als auch eckige Klammern, d. h. [], für spätere Ergänzungen bei der präfinalen und finalen Überarbeitung bereits verwendet hat.


Nr. Überschrift der Traumaufzeichnung Beginn der Traumaufzeichnung Nachweis in „Träume“
1 Eine Vision od. Wachtraum ca. 1928 (Königsfeld im Schwarzwald). … „Vor mir steigt aus der Tiefe eine Säule die sich oben im Nebel oder in den Wolken verliert. Von unten auf steigt dichter Dunst, der sich in Spiralen um die Säule dreht. …“ T 9
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Themen, Motive und Interpretationen zu Meret Oppenheims Träumen

Das inhaltliche Spektrum der von Meret Oppenheim aufgezeichneten Träume ist breit. Allerdings weist die präsentierte Sammlung zahlreiche wiederkehrende Traummotive auf, die in manchmal kurzen Traumsituationen, zuweilen aber auch in längeren Traumerzählungen beschrieben werden, in denen sich innerhalb des Traumes der Ort, an dem der Traum stattfindet, deutlich verändern kann, aber auch beteiligte Personen oder auch Gegenstände vielfältige Verwandlungen oder Metamorphosen erleben können. Meret Oppenheim präsentiert hier unter anderem (Auswahl, einige Träume lassen sich auch mehreren verschiedenen Kategorien zuordnen):

  • Träume von Tieren, z. B. Nr. 31 (Einfangen eines weißen Hasen in einer Schneelandschaft), Nr. 44 (Vögel, ein Adler, ein Löwe), Nr. 50 (Mäuslein und ein „metallisch glänzendes“ Schweinchen), Nr. 52 (Vogelmärchen), Nr. 60 (freundlicher Rabe und „freudiger Hund“), Nr. 63 (Gitterkäfige mit einem Kaninchen), Nr. 66 („Was müssen die Tiere von uns denken!“), Nr. 71 (große Fische, ein Wal, eine Eidechse, ein grüner Gecko, ein grünes Insekt), Nr. 76 (große Fische und Aale lebendig „wie in einer Art Gelee eingelagert“), Nr. 81 (ein Freund bringt ein Zimmer voller Vögel), Nr. 86 (Treffen mit einem Wildschwein im Wald), Nr. 87 (altes Gebäude oder Ruine, eine graue Mamba, eine alte Frau verwandelt sich in eine Schlange, Katzen), Nr. 88 (Vögel, wildes Geflügel, Elefanten, Rhinozerosse, Nilpferde, Lämmchen, Regenwürmer),
  • Träume zur künstlerischen Produktivität, z. B. Nr. 31 („Hase = Fruchtbarkeit“, „Eier = Symbol f. Produktivität“), Nr. 47 („winzige Fischlein“), Nr. 48 („Spezial-Abteil in der Eisenbahn“), Nr. 49 (große Lokomotive auf einer Wiese), Nr. 55 (Acker mit Klee), Nr. 56 (weißes Pferd zieht einen Spannwagen), Nr. 63 (Gitterkäfige mit einem Kaninchen), Nr. 67 (Schiffe und Flugzeuge auf der eigenen Dachterrasse), Nr. 82 (Zimmer im Umbau, Wind und Sturm),
  • Naturvisionen und Naturerfahrungen, z. B. Nr. 1 (aufsteigende Säule), Nr. 6 (Friedhofstraum mit einer Frau und deren drei toten Töchtern, Schlange und Apfel), Nr. 7 (Enzian verwandelt sich in ein Glas Wein), Nr. 14 (Treibhaus mit sprießenden Skeletthänden), Nr. 27 („Geheimnis der Vegetation“), Nr. 46 (Schützende Regenwand um das Bett), Nr. 77 („drei weiße, fast durchsichtige Monde“),
  • Träume von Meer und Wasser, z. B. Nr. 33 (Gehen auf dem Meer), Nr. 53 (hellgrüne Wellen umspülen das Haus, Treffen mit der Mutter), Nr. 71 (wildes Meer, starke Wellen schlagen gegen das Haus in Basel), Nr. 74 (in einem Boot in dunklem Gewässer), Nr. 80 (das Meer reicht bis an die Hauswand, Kühe unter Wasser),
  • Träume mit einem Fokus auf Materialien, z. B. Nr. 12 (Automobil aus Knochen), Nr. 24 (Hut aus lackiertem grünem Karton), Nr. 29 (Fahrzeug aus Kunststein), Nr. 41 (Stiefel mit hellgrünen Pailletten und Kapuzenmantel mit Marabufedern), Nr. 64 (Steinbruch mit Kristallen),
  • Träume von Freunden aus dem Kreis der Surrealisten, z. B. Nr. 34 (André Breton als „Papst“), Nr. 35 (Allegorie des Krieges gemeinsam betrachtet vom langen Tisch in der weiten Landschaft), Nr. 39 (Vergleich mit Marcel Duchamp), Nr. 69 (Betrachten einer angeblichen Arbeit von Marcel Duchamp, die Meret Oppenheim anschließend als Collage erstellt hat),
  • Prognostische bzw. „prophetische“ Träume, z. B. Nr. 36 („kleine Liebesgeschichte“, Kugel, Springbrunnen), Nr. 37 („Strom aus Blut“), Nr. 38 („Glassarg, wie Schneewittchen“), Nr. 47 („winzige Fischlein“),
  • Erotische Träume und Trauminhalte, z. B. Nr. 13 („mit einem Mann im Bett, das am Ende eines grossen Saales steht“), Nr. 19 („Liebe mit Toten“), Nr. 43 (Zeremonie mit Tanz und „Balimasken“), Nr. 83 („Garten der Lüste“, Hermaphrodit), Nr. 84 (lange Fassung des „Garten der Lüste“, hermaphroditischer Engel),
  • Träume zum Verstreichen der eigenen Lebenszeit, z. B. Nr. 29 (Fahrt mit dem Fahrzeug aus Kunststein mit Mutter und Großmutter), Nr. 30 (Holzstatue, die eine Sanduhr umdreht, „Hälfte des Lebens“), Nr. 45 (Sterben der eigenen Mutter, die voraussagt: „In 15 Jahren sind wir wieder zusammen.“),
  • Träume mit Inhalten aus der asiatischen Kultur und Kunst, z. B. Nr. 40 („schöne Inderin in hellrotem Sari mit Goldfäden“), Nr. 43 (Zeremonie mit Tanz und „Balimasken“), Nr. 51 („behelmte weiße Marmorschildkröte“),
  • Träume von Hermaphroditen, z. B. Nr. 78 (abgeschlagener Kopf fällt auf die Sitzdecke), Nr. 83 („Garten der Lüste“, Hermaphrodit), Nr. 84 (lange Fassung des „Garten der Lüste“, hermaphroditischer Engel),
  • Musikträume, z. B. Nr. 16 (Cello spielendes Skelett), Nr. 62 (durch Wind zwischen Felsen entstehender Klang einer Fuge), Nr. 79 (Blättern im Notenbuch, Weinen und Scham, Abwehrhaltung gegen „klassische“ Musik),
  • Fluchtträume und Kampf mit wilden Tieren, z. B. Nr. 2 (Flucht vor Schlangen), Nr. 3 (Kampf mit einem „Höllenhund“), Nr. 15 (Flucht vor einem Puma, dann Herausbrechen seiner Zähne),
  • Träume von Treffen mit Toten, z. B. Nr. 28 (Großmutter), Nr. 58 (tote Schwester, die wieder lebendig wird),
  • Kreativträume, in denen Meret Oppenheim neue Objekte erfindet, z. B. Nr. 10 („Rettungsinstrument für Ertrinkende“), Nr. 22 („kleine Maschine zum Sätzeschreiben für Schriftsteller“),
  • Alb- oder Angstträume, z. B. Nr. 19 („Menschenschlachthaus“), Nr. 75 (Frau in einem Käfig zwischen Baumstämmen),
  • „Blumenträume“, z. B. Nr. 53 (zwei Vasen mit Levkojen und einer weißen Blüte, später abgeknickte orange Ringelblumen), Nr. 57 („‘Die Blume Lilie‘ von Novalis“),
  • Träume vom Tod oder vom Sterben, z. B. Nr. 45 (Sterben der eigenen Mutter), Nr. 72 (in Gängen unter der Erde, Gespräche über den Tod mit Bruder und Schwester),
  • Erfolgsträume, z. B. Nr. 25 (Geld aus dem Automaten), Nr. 55 (Acker mit Klee),
  • Träume vom Einrichten der eigenen Wohnung, z. B. Nr. 17 (Dachterrasse mit Gras auf feuchtem Zeitungspapier), Nr. 21 („Korb mit Kapuzinern“),
  • Träume vom Sumpf, z. B. Nr. 8 (sumpfiger Wald), Nr. 18 (kochender Sumpf im Zuber),
  • Träume von einem Haus im Umbau, z. B. Nr. 82 (Zimmer im Umbau, Wind und Sturm), Nr. 85 (Dachstuhl, unausgebaute Räume, Maler vor Staffelei),
  • Traum von der eigenen Hinrichtung (Nr. 8),
  • Traum von der Misshandlung anderer durch das Traum-Ich (Nr. 11, junges Mädchen),
  • Traum von der erneuten Hochzeit mit ihrem kurz zuvor verstorbenen Ehemann (Nr. 61)
  • und andere.

Meret Oppenheim verstand ihre Träume als Äußerungen ihres eigenen Unbewussten, die auf ihre persönliche und künstlerische Entwicklung sowie auf die Entwicklung ihres künstlerischen Werkes Einfluss nehmen können, und maß ihnen deshalb eine erhebliche Bedeutung bei (Schulz 2006, 51). Sie notierte ihre eigenen Träume auch deshalb, weil sie aufgrund von „Diskussionen im Elternhaus über die Lehren Carl Gustav Jungs“ – Meret Oppenheims Vater, der Arzt Erich Alfons Oppenheim, stand mit C. G. Jung in Kontakt (Curiger 1989, 9; Meyer-Thoss, T 87-88) – ein Interesse am Themengebiet der Psychologie und der Bedeutung des Traums als „Regulativ der Psyche“ entwickelt hatte (Schulz 2006, 53). In den aufgezeichneten Trauminhalten, aber auch in Meret Oppenheims eigenen Deutungen sowie Trauminterpretationen finden sich immer wieder Hinweise auf C. G. Jungs Ideen zum „kollektiven Unbewussten“, zu den sog. „Archetypen“ – den von Jung beschriebenen „universelle“ Grundstrukturen in den Vorstellungen und Handlungen von Menschen –, zum Konzept von Anima und Animus – der „psychologischen Zweigeschlechtlichkeit“ – oder zur „universellen“ Bedeutung von Symbolen (vgl. u. a. Jung 2001). Auf diesen Ideen begründete Meret Oppenheim auch ihr Selbstverständnis als Künstlerin, wenn sie nicht nur die von ihr erinnerten Trauminhalte als „weit über die eigene Person hinausgehend“ betrachtete, sondern auch davon ausging, dass die Beschäftigung mit Träumen eine gesellschaftliche Dimension bzw. Bedeutung habe. Außerdem stellte sie diesbezüglich fest: „Es sind die Künstler, die träumen für die Gesellschaft“ (Schulz 2006, 54). Weiterhin hat Meret Oppenheims Beschäftigung mit C. G. Jungs Symbolforschung auf die verwendete Ikonografie ihres künstlerischen Werkes Einfluss genommen und sie verwendet in ihren Werken bestimmte Motive und Gestalten, wie z. B. Schlange, Spiralen, das Auge etc., welche auch häufig in ihren Traumaufzeichnungen vorkommen und Leitmotive der ewigen Wiederkehr und des niemals endenden Naturkreislaufs darstellen (ebenda, 59).

Eine Traumaufzeichnung, die von Meret Oppenheim selbst als Anima-Animus-Traum im Sinne C. G. Jungs ausgelegt wurde, ist diejenige, die oben unter der Nr. 73 angeführt wird:

„Ich habe eine mich erfreuende „Rangerhöhung“ erfahren. Ich träumte, kurz danach: Ein Mann beklagte sich mir gegenüber, dass es für ihn unbequem sei, zur Türe aus- und einzugehn, weil gleichzeitig andere Leute an ihm vorbei wollten. Ich sagte etwas spöttisch zu ihm: „Sie finden wohl, man sollte eine zweite Türe für Sie aushauen“. Der Mann hatte tatsächlich eine erstaunlich grosse Brustweite = eine geschwellte Brust.“

Dazu führt Meret Oppenheim selbst folgendes aus (T 70) und erläutert ihr eigenes Verständnis von den männlichen und weiblichen Seelenanteilen, die in ihr (im „Ich selbst“) um ein „Gleichgewicht der Mächte“ streiten:

„Interessant, dass es mein männlicher Seelenteil (mein Animus) war, dem die Ehrung sozusagen „in die Brust gefahren“ war. „Ich selbst“ machte sich darüber lustig. Ein Beweis (mehr), wie unser Unbewusstsein für das innere Gleichgewicht sorgt.“

Ein weiteres Beispiel für einen Traum, den Meret Oppenheim im Sinne eines Anima-Animus-Traums gemäß den Ideen von C. G. Jung deutete, ist der Traum Nr. 13 (T 17-19), welchen sie bereits im Jahr 1935 in Barcelona träumte und notierte:

„Ich bin mit einem Mann im Bett, das am Ende eines grossen Saales steht. Den Wänden entlang geht ein griechisches Relief, ähnlich Parthenon. […] Der Mann, neben dem ich gehe, ist jetzt plötzlich mein Vater. Wir gehen nebeneinander auf einer Hochebene. Unten an den Hängen wachsen Tannen, von denen man aber nur die Spitzen sieht. Mein Vater zeigt auf eine Gruppe dieser Tannenwipfel (am Südhang), die sich stark bewegen und sagt: „Dort lernte ich Deine Mutter kennen.“ Ich sage: „Dort ist mein Mörder!“ Ich gehe den Hang hinunter, jetzt ist es, glaube ich der Nordhang, bis zum Fusse dieser Tannen. Dort sitzt, angelehnt an einen Stamm, ein älterer, sportlich gekleideter Herr, rostbraune Tweedjacke, graues kurzes Haar. Er richtet ein Messer auf mich. Ich berühre mit der Zeigefingerspitze der einen Hand die Spitze des Messers, mit dem andern Zeigefinger das Ende des Griffes, drehe das Messer herum und will gerade den Mann erstechen, als mein Vater neben mir steht und sagt: „Das tut man nicht“. Daraufhin gebe ich dem Mann einen Stoss, sodass er den Abhang hinunterrollt. Er rollt, indem er mit dem Zeigefinger die Stirne berührt und sieht aus, wie die Schlange (Uroborus), die sich in den Schwanz beisst.“

Im Jahr 1978 – also ca. 43 Jahre nach der Niederschrift des Traumes – formulierte Meret Oppenheim nachträglich folgende persönliche Trauminterpretation (T 18-19):

„[Es scheint mir, dass es mir jetzt, Mai 1978, gelungen ist, den Traum vom Sept. 1935 (in Barcelona) zu deuten. Der grauhaarige Mann (Vater), am Ort, wo mein Vater meine Mutter „kennengelernt hat“, wo ich also gezeugt wurde, im Tweedanzug, war ein Vertreter des Patriarchats in mir selbst, der auch mich gezeugt hatte. Auch ich trug also diese alte Einstellung in mir und war dadurch beteiligt an der Entwertung des Weiblichen, das, seit der Zeit, dass das Patriarchat dauert, auf das weibliche Geschlecht projiziert wird. Dabei handelt es sich bei diesem entwerteten Weiblichen nicht um die natürliche, Kinder gebärende Frau (wenn es sich auch, durch die Projektion, auf diese auswirkt), sondern um das geistig-weibliche Prinzip, das die Frauen und die Männer in sich selbst entwertet haben. Das bedeutet, dass es die patriarchalische Haltung in mir selbst ist, die das (geistig-) Weibliche in mir entwertet, „mordet“, und die gleichzeitig, wie es von altersher ihre Art ist, mich zurückhält, das (geistig-) Männliche in mir zu entwickeln und damit zur Ganzheit zu kommen. Diesen Vertreter des Patriarchats wollte ich ermorden. Mein Vater, vielleicht der Repräsentant des Männlichen auf einer höheren Stufe, ja, vielleicht sogar des Männlichen auf der Stufe, wo es vom Weiblichen nicht mehr geschieden ist (vielleicht auch des Ethischen an sich), gab mir den Rat, gegenüber der patriarchalischen Haltung wohl zu handeln, aber dieses männliche Prinzip nicht zu ermorden, also Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern ihm nur einen Anstoss zu geben, um damit eine Änderung der Situation herbeizuführen (die zur Entwicklung zur Ganzheit führen wird, für die der Uroborus, die Schlange, die sich in den Schwanz beisst, ein Symbol ist). Vielleicht ist die passive Haltung des „Patriarchen“, die es möglich machte, dass ich das Messer ohne Schwierigkeiten umdrehen und gegen ihn selbst richten konnte, eine Andeutung, dass dieses Unternehmen erfolgreich sein werde.]“

Wie die vorangegangenen Beispiele aufzeigen, bietet Meret Oppenheim zu ihren Traumaufzeichnungen auf C.G. Jungs Ideen basierende Deutungsmöglichkeiten an, die immer wieder auf zentrale Konzepte in Jungs Lehre und auch dort adressierte Symbole zurückgreifen. Meret Oppenheim hat sich lebenslang mit C.G. Jungs Ideen beschäftigt und diese haben ihre persönliche Perspektive auf ihre eigenen Träum geprägt, auch noch Jahrzehnte nach dem Notieren der Träume. Es ist davon auszugehen, dass eine solch intensiver Beschäftigung mit Träumen und möglichen Deutungen nicht nur die Traumauffassung im Wachleben von Personen prägen, sondern sich auch auf das Träumen selbst auswirken können. Um mit den Ideen eines weiteren Traumtheoretikers, Sigmund Freud, zu sprechen, die er in Die Traumdeutung formulierte, setzen sich Träume auch aus Erlebnissen im Wachleben zusammen (Freud 2014, 27) und die im Wachleben verinnerlichten und im Rahmen von Traumauslegungen angewandten Traumtheorieinhalte können so selbst zum „Traummaterial“ werden, was als ein sich selbst verstärkender Mechanismus betrachtet werden kann.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Traumaufzeichnungen von Meret Oppenheim nicht nur einen interessanten Einblick in das Denken und das Seelenleben dieser außergewöhnlichen Künstlerin und Persönlichkeit eröffnen, sie stellen sich darüber hinaus neben ihrem Wert für die kunsthistorische Forschung als eine wahre Fundgrube spannender Perspektiven auf den Traum an sich für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung dar.


Constantin Houy

Literatur

Ausgaben

  • Oppenheim, Meret: Aufzeichnungen 1928-1985. Träume. Hg. von Christiane Meyer-Thoss. Bern/Berlin: Verlag Gachnang & Springer 1986. (erste Ausgabe)
  • Oppenheim, Meret: Träume. Aufzeichnungen 1928 – 1985. Hg. mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss. 2. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2013. (zweite Ausgabe, hier verwendet und zitiert als T)

Forschungsliteratur

  • Baur, Simon: Meret Oppenheim. Eine Einführung. Hg. von Christian Fluri. Basel: Christoph Merian Verlag 2013.
  • Baur, Simon: Meret Oppenheim Geheimnisse. Eine Reise durch Leben und Werk. Zürich: Scheidegger & Spiess 2021.
  • Curiger, Bice: Meret Oppenheim. Spuren durchstandener Freiheit. 3. Aufl., Zürich: ABC 1989.
  • Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. 15., unveränderte. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2014.
  • Helfenstein, Josef: Meret Oppenheim und der Surrealismus. Stuttgart: Verlag Gerd Hatje 1993.
  • Jung, Carl Gustav: Traum und Traumdeutung. München: dtv 2001.
  • Meyer-Thoss, Christiane: Editorische Notiz. In: Meret Oppenheim: Träume. Aufzeichnungen 1928 – 1985. Hg. mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss. 2. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 117. (Teilkapitel von T)
  • Meyer-Thoss, Christiane: Komplizin des Traums. Meret Oppenheim in ihren Traumaufzeichnungen. In: Meret Oppenheim: Träume. Aufzeichnungen 1928 – 1985. Hg. mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss. 2. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 85-111. (Teilkapitel von T)
  • Meyer-Thoss, Christiane: Maskerade und Spiele der Verwandlung. In: Meret Oppenheim: „Warum ich meine Schuhe liebe“. Mode – Zeichnungen und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort von Christiane Meyer-Thoss. 3. Auflage, Berlin: Insel Verlag 2013b, S. 69-87.
  • Oberhuber, Andrea: Figuration de soi et de l’Autre chez Meret Oppenheim. In : Mélusine, Nr. 33, 2013, S. 111-123.
  • Probst, Rudolf und Magnus Wieland (Hg.): Meret Oppenheim. Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, Nr. 48. Genf: Slatkine 2020.
  • Schulz, Isabel: „Edelfuchs im Morgenrot“. Studien zum Werk von Meret Oppenheim. München: Verlag Silke Schreiber 1993.
  • Schulz, Isabel: Die „Allmacht des Traumes“. Traum und Unbewusstes im Werk von Meret Oppenheim In: Meret Oppenheim. Retrospektive: „mit ganz enorm wenig viel“. Hg. von Therese Bhattacharya-Stettler und Matthias Frehner. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2006, S. 51-62.
  • Wenger, Lisa und Martina Corgnati (Hg.): Meret Oppenheim. Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln. Das autobiografische Album „Von der Kindheit bis 1943“ und unveröffentlichte Briefwechsel. Zürich: Scheidegger & Spiess 2013.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Houy, Constantin: "Träume" (Meret Oppenheim). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Tr%C3%A4ume%22_(Meret_Oppenheim).