"Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin): Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 12: Zeile 12:
|}
|}


so träumte er doch selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner in Benjamin 2008b, 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert. (Adorno 2018, 88, Lindner in Benjamin 2008b, 137, siehe dazu auch den Lexikoneintrag zu Adornos Traumprotokollen: http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno)).
so träumte er doch selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner in Benjamin 2008b, 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert. (Adorno 2018, 88, Lindner in Benjamin 2008b, 137, siehe dazu auch den Lexikonartikel zu [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno) Adornos Traumprotokollen]).


Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner in Benjamin 2008b, 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text „Frühstücksstube“ in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner in Benjamin 2008b, 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text „Frühstücksstube“ in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
Zeile 294: Zeile 294:
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist relativ breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume, in denen Wortwitze oder ungewöhnliche Wortbildungen eine Rolle spielen (z.B. Nr. 3, Nr. 5, Nr. 9), Träume vom Mond und den Sternen (z.B. Nr. 6, Nr. 16, Nr. 17) oder auch libidinösen Trauminhalte (z.B. in Nr. 27, Nr. 28, Nr. 33) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner in Benjamin 2008b, 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner in Benjamin 2008b, 146). Dazu schreibt Benjamin z.B. in seinem „Passagen-Werk“: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608). Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er auch keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner in Benjamin 2008b, 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen, gleichzeitig spannende Frage aufwerfen. So zeigt sich z.B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. schließlich der herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner T 145 f.).
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist relativ breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume, in denen Wortwitze oder ungewöhnliche Wortbildungen eine Rolle spielen (z.B. Nr. 3, Nr. 5, Nr. 9), Träume vom Mond und den Sternen (z.B. Nr. 6, Nr. 16, Nr. 17) oder auch libidinösen Trauminhalte (z.B. in Nr. 27, Nr. 28, Nr. 33) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner in Benjamin 2008b, 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner in Benjamin 2008b, 146). Dazu schreibt Benjamin z.B. in seinem „Passagen-Werk“: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608). Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er auch keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner in Benjamin 2008b, 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen, gleichzeitig spannende Frage aufwerfen. So zeigt sich z.B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. schließlich der herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner T 145 f.).


Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z.B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nr. 12 und Nr. 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem am nächsten Tag stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner in Benjamin 2008b, 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte.“ (Benjamin 2008, 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen.“ (Benjamin 2008, 24-25).
Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z.B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nr. 12 und Nr. 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem am nächsten Tag stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner in Benjamin 2008b, 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte.“ (Benjamin 2008, 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).


Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner in Benjamin 2008b, 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).
Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner in Benjamin 2008b, 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).