"Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen
K
 
(6 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
Die ''Traumaufzeichnungen'' von Walter Benjamin (1892-1940) sind eine von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von mehr als dreißig verschiedenen ausgewählten Traumnotaten bzw. -berichten Benjamins mit Träumen aus den Jahren 1928 bis 1939. Die Sammlung stellt den ersten Teil des bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Walter Benjamin: Träume“ dar (T 9-66) und „enthält in erreichbarer Vollständigkeit und zeitlicher Folge Benjamins Niederschriften eigener Träume“ (Lindner, T 136). Sie ermöglicht einen Einblick in Walter Benjamins Träume, die ein breit gestreutes inhaltliches Spektrum zeigem (Lindner, T 145) und häufig auch auf Biographisches verweisen, ohne dabei aber ein „verborgenes Psychogramm“ oder bisher Unbekanntes „über seine Beziehungen zu ihm nahestehenden Personen“ preiszugeben (Lindner, T 144). Zugleich dienen die Traumaufzeichnungen Benjamin als konstruktive Ressource zur bildhaften Entfaltung seines traumtheoretischen Denkens und seiner traumbezogenen Reflexionen (Bretas 2009, 1).
+
Die ''Traumaufzeichnungen'' von Walter Benjamin (1892-1940) sind eine von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von mehr als dreißig verschiedenen ausgewählten Traumnotaten bzw. -berichten Benjamins mit Träumen aus den Jahren 1928 bis 1939. Die Sammlung stellt den ersten Teil des bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Walter Benjamin: Träume“ dar (T 9-66) und „enthält in erreichbarer Vollständigkeit und zeitlicher Folge Benjamins Niederschriften eigener Träume“ (Lindner, T 136). Sie ermöglicht einen Einblick in Walter Benjamins Träume, die ein breit gestreutes inhaltliches Spektrum zeigen (Lindner, T 145) und häufig auch auf Biographisches verweisen, ohne dabei aber ein „verborgenes Psychogramm“ oder bisher Unbekanntes „über seine Beziehungen zu ihm nahestehenden Personen“ preiszugeben (Lindner, T 144). Zugleich dienen die Traumaufzeichnungen Benjamin als konstruktive Ressource zur bildhaften Entfaltung seines traumtheoretischen Denkens und seiner traumbezogenen Reflexionen (Bretas 2009, 1).
  
  
Zeile 9: Zeile 9:
 
|-
 
|-
 
||
 
||
: <span style="color: #7b879e;>Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),</span>
+
: <span style="color: #7b879e;>Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Heinrich_von_Ofterdingen%22_(Novalis) Heinrich von Ofterdingen] erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),</span>
 
|}
 
|}
  
träumte er selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien. Dieser Auffasung ist z.B. Benjamins Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt: „Ich habe sie [die Träume] jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno) Adornos Traumprotokollen]).
+
träumte er selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien. Dieser Auffassung ist z.B. Benjamins Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt: „Ich habe sie [die Träume] jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno) Adornos Traumprotokollen]).
  
 
Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text ''Frühstücksstube'' in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
 
Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text ''Frühstücksstube'' in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
Zeile 288: Zeile 288:
 
|}
 
|}
  
==Themen und Motive==
+
==Themen, Motive und Deutungen==
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist relativ breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume mit Wortwitz oder ungewöhnlichen Wortbildungen (z.B. Nrn. 3, 5, 9), Träume vom Mond und den Sternen (z.B. Nrn. 6, 16, 17) oder auch libidinöse Trauminhalte (z.B. in Nrn. 27, 28, 33) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z.B. in seinem ''Passagen-Werk'': „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608). Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er auch keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen und gleichzeitig spannende Fragen aufwerfen. So zeigt sich z.B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. der schließlich herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).
+
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist recht breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume mit Wortwitz oder ungewöhnlichen Wortbildungen (z. B. Nrn. 3, 5, 9), Träume vom Mond und den Sternen (z. B. Nrn. 6, 16, 17) oder auch erotische Trauminhalte (z. B. in Nrn. 27, 28, 33, 35) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z. B. in seinem Passagen-Werk: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608).
  
Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z.B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nr. 12 und Nr. 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem in der Folgenacht stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“ (T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des [Dienst-]Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).
+
Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er in der Regel keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen und gleichzeitig spannende Fragen aufwerfen. So zeigt sich z. B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. der schließlich herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).
  
 +
Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z. B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nrn. 12 und 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem in der Folgenacht stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“, T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des [Dienst-]Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).
 
Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).
 
Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).
  
Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichtlichkeit des Traums bis zur traumpolitischen Konzeption des Erwachens aus dem 19. Jahrhundert“ (Lindner, T 136). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven bieten.
+
Ebenso bildhaft inszeniert und aus der Menge der anderen Traumaufzeichnungen aufgrund verschiedener Merkmale besonders hervortretend ist der Traum Nr. 35 gemäß der obigen Liste, den Benjamin als Brief in französischer Sprache an Gretel Adorno adressierte und der Benjamins letzte bekanntgewordene Traumaufzeichnung darstellt (T 60-63, die deutschsprachige Übersetzung, T 63-66). Auffällig ist zunächst, dass Benjamin zu diesem Traum verschiedene Erläuterungen zur Einordnung des Traums und Kontextinformationen mitliefert. Des Weiteren ist die Traumaufzeichnung im Gegensatz zu den meisten anderen taggenau datiert (Lindner, T 149). Benjamin schickt dem eigentlichen Traumnotat im Brief folgendes voraus (T 63):
  
 +
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;>„Rêve du 11/12 octobre 1939 – Brief an Gretel Adorno. Meine Teuerste, ich hatte gestern nacht auf dem dürftigen Strohbett einen Traum von solcher Schönheit, daß ich dem Wunsch nicht widerstehen kann, ihn Dir zu erzählen. Es gibt ja sonst so wenig schöne, wenigstens erfreuliche Sachen, über die ich mit Dir reden könnte. – Er gehört zu der Art von Träumen, die ich vielleicht alle fünf Jahre einmal träume und die um das Motiv des „Lesens“ kreisen. Teddie [Gretels Ehemann Theodor W. Adorno] wird sich erinnern, welche Rolle dieses Motiv in meinen erkenntnistheoretischen Reflexionen spielt. Der Satz, den ich zum Ende des Traums deutlich ausgesprochen habe, wurde auf französisch gesagt, so daß ein doppelter Grund besteht, den Traum Dir in der gleichen Sprache mitzuteilen. Der Arzt Dausse, der mich im Traum begleitet, ist ein Freund von mir; er hat sich, als ich an Malaria erkrankt war, sehr um mich gekümmert.“</span>
 +
|}
 +
 +
Dann folgt die eigentliche Traumaufzeichnung, in der sich das Traum-Ich gemeinsam mit dem Arzt Dausse zunächst in einer Gesellschaft mehrerer Personen befand. Die beiden verließen irgendwann diese Gesellschaft und gelangten zu einer Ausgrabungsstätte, an der sie „seltsame, fast ebenerdige Liegen“ (T 63) vorfanden, welche die Form und Größe von Särgen aufwiesen und aus Stein gefertigt erschienen. Das Traum-Ich kniete sich vorsichtig auf eine solche Liege und stellte fest, dass sie ähnlich weich wie ein Bett und mit „moosigen Flechten und Efeu“ (T 64) bedeckt war. Die Liegen waren paarweise aufgestellt und das Traum-Ich suchte für sich und den Arzt zwei Liegen aus, merkte dann allerdings, dass diese schon belegt waren. Daraufhin setzten die beiden ihren Weg in einen scheinbar künstlich angelegten Wald fort, bis sie eine Schiffsanlegestelle erreichten, an der sie „drei oder vier“ Frauen antrafen, mit denen der Arzt „zusammenlebte“. Das Traum-Ich schildert ein befremdendes Gefühl darüber, dass der Arzt ihm die Damen nicht vorstellte und dass weiterhin beim Ausziehen und Ablegen seines Strohhutes, den es von seinem Vater geerbt hatte, dieser einen großen Schlitz aufwies und „dessen Ränder dazu noch rotfarbige Spuren trugen“ (T 64), woraufhin man für das Traum-Ich einen Sessel herbeibrachte. Das Traum-Ich beobachtete kurz darauf eine der Damen an einem Tisch, die bezüglich eines seiner Manuskripte, welches sie vom Arzt erhalten hatte, „in graphologische Studien vertieft“ war. An dieser Stelle, die den Kern seines Traumnotates preisgibt, heißt es weiterhin (T 65-66):
 +
 +
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;>„Mich versetzte diese Begutachtung in einige Unruhe, weil ich fürchtete, meine intimen Vorlieben könnten auf diese Weise entdeckt werden. Ich ging näher heran. Was ich erblickte, war ein mit bildlichen Zeichnungen gemustertes Stück Stoff. Hinsichtlich schriftgraphischer Elemente konnte ich einzig die oberen Partien des Buchstabens ‚d‘ genau erkennen. Sie verrieten in ihrer Langgezogenheit einen extremen Hang zur Spiritualität. Dieser Teil des Buchstabens war darüber hinaus mit einem kleinen blaugesäumten Segel ausgestattet, und dieses Segel blähte sich über dem Stoffmuster, als sei es von einer Brise erfaßt. Das war das einzige, was ich „lesen“ konnte – das übrige bestand aus undeutlichen Wellen- und Wolkenmotiven. Das Gespräch konzentrierte sich für kurze Zeit auf diese Handschrift. Ob es hierzu klare Meinungen gab, habe ich nicht in Erinnerung. Demgegenüber ist mir ganz gewiß, daß ich unvermittelt dazu wörtlich auf französisch sagte: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Ich hatte noch kaum diese Worte gesprochen, als etwas Beunruhigendes geschah. Unter den Frauen gab es, wie ich bemerkte, eine sehr schöne, die im Bett lag. Als sie meine Erklärung vernahm, machte sie blitzartig eine kleine Bewegung. Sie lüftete einen kleinen Zipfel des Deckbetts, in das sie eingehüllt war. In weniger als einer Sekunde hatte sie diese Geste vollzogen. Dies geschah nicht, um mich ihren Körper sehen zu lassen, sondern um mir das Muster ihres Bettlakens zu zeigen, das der Bilderschrift entsprechen sollte, die ich Jahre zuvor als Geschenk für Dausse „geschrieben“ haben mußte. Ich bin ganz sicher, daß die Dame diese Bewegung zu mir hin gemacht hat. Aber daß ich dies wußte, beruhte auf einer Vision, einer Art zweiter Wahrnehmung. Denn meine Augen blickten anderswohin, und ich sah nichts von dem, was das für mich so flüchtig aufgedeckte Bettlaken hätte zeigen können.“</span>
 +
|}
 +
 +
Nach Abschluss dieser Traumbeschreibung erläutert Benjamin schließlich in seinem Brief an Gretel Adorno: „Nachdem ich diesen Traum gehabt hatte, konnte ich stundenlang nicht wieder einschlafen. Nämlich vor Glück. Ich schreibe Dir, um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen“ (T 66).
 +
 +
Benjamins erklärt zu Beginn der Traumaufzeichnung, dass der Traum „um das Motiv des Lesens“ kreise. Zudem ist bezüglich der Situation, in der er diesen Traum notierte, festzuhalten, dass er sich zu dieser Zeit nicht nur im französischen Exil, sondern auch mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem französischen Internierungslager, dem Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles im Département Niévre, befand (Derrida 2002) und plante, bei der nächstmöglichen Gelegenheit in die USA zu flüchten (Lindner, T 149). Im Traum begegnet dem Traum-Ich eine alte, von ihm selbst erstellte Handschrift. Diese kann er im Traum zweimal, d. h. in zwei verschiedenen Situationen, erkennen, nämlich als „ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff“, das von einer Dame „graphologisch“ studiert wird, sowie als Betttuch, das sichtbar wird, als eine in einem Bett liegende, „sehr schöne“ Frau ihre Bettdecke kurzzeitig anhebt (Lindner, T 150). Bezüglich der Textinhalte des Manuskriptes, welches das Traum-Ich zu sehen bekommt, kann es nur ein einziges Zeichen (Lindner, T 150), nämlich das „obere Ende des Buchstabens ,d'". erkennen, an dem ein kleines blaugesäumtes und sich im Wind blähendes Segel angebracht ist. Lindner stellt fest, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstzitat Benjamins handelt: „Mehrere der erkenntnistheoretischen Notate aus der Passagenarbeit zum Begriff der „Rettung“ kreisen um die Metapher vom „Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs“. Der in einer fast ausweglosen Extremsituation Denkende will diesen Wind nutzen. ‚Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.‘ ([GS] V, 591)“ (Lindner, T 150). Vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Selbstzitates ergebe sich Benjamins am Ende des Traums und nach dem Aufwachen empfundenes Glück also aus der Hoffnung auf Rettung aus seiner ausweglosen Situation, dem Hinweis im Traum, dass sich seine Segel mit Wind füllen und ihm ein Ausweg in Aussicht gestellt wird.
 +
 +
Eine andere mögliche Lesart des Traumes beziehungsweise einen anderen, etwas weniger hoffnungsvollen Interpretationsansatz stellte Jacques Derrida vor, in dessen Rahmen insbesondere die Mehrdeutigkeit des Begriffs „fichu“ eine zentrale Rolle spielt. In seiner Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, den Derrida am 22. September 2001 in Frankfurt erhielt (Derrida 2002), konzentrierte sich Derrida insbesondere auf den von Benjamin in französischer Sprache geäußerten Satz: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Derrida erläutert darin, dass „le fichu“ zwar in seiner „augenfälligsten Bedeutung“ den „Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag“, bezeichnet, das Adjektiv „fichu“ hingegen „das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist“ bedeuten kann. Derrida spekuliert in der beschriebenen Traumsituation, in der Benjamin lediglich den oberen Teil des Buchstabens „d“ erkennen kann, welcher „mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen“ war und vom Wind erfasst wurde, über eine andere Selbstreferenzierung Benjamins, der persönliche Briefe häufig mit seinem mit dem Buchstaben „d“ beginnenden und von ihm in verschiedenen Kontexten verwendeten Pseudonym „Detlef“ signierte. „Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“, ganz im Sinne einer geträumten „poetische[n] und vorausdeutende[n] Hieroglyphe“ (Derrida 2002). Der ungewöhnliche Umstand, dass Benjamin darauf bestand, den Traum in französischer Sprache aufzuschreiben, unterstützt Derridas Lesart zwar, da diese Interpretation nur ohne eine Übersetzung des zentralen und in französischer Sprache mehrdeutigen Wortes „fichu“ tatsächlich zugänglich ist, wie Derrida selbst argumentiert (Derrida 2002). Allerdings steht diese Auslegung inhaltlich dem von Benjamin geäußerten Glückgefühl zumindest teilweise entgegen. Dies wäre wiederum aber nicht der Fall, wenn Benjamin sein Glück allein aus der geheimnisvollen Vielschichtigkeit dieses spannenden Traumes gezogen und er den wenig hoffnungsvollen prognostischen Inhalt ignoriert hätte. Beide Auslegungen erscheinen zumindest plausibel und vor dem Hintergrund, dass neben anderen angebotenen Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutig zu favorisierende Interpretation hervorsticht, bleibt diese Traumaufzeichnung, wie so oft bei Benjamin, ein faszinierendes, ambivalentes und schillerndes Gebilde, das verschiedene mögliche Zugänge anbieten kann und sich der Eindeutigkeit entzieht.
 +
 +
Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichtlichkeit des Traums bis zur traumpolitischen Konzeption des Erwachens aus dem 19. Jahrhundert“ (Lindner, T 136). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven anbieten.
  
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Constantin Houy]]</div>
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Constantin Houy]]</div>
Zeile 326: Zeile 348:
 
* Bubel, Sylvester: Poetiken der Epiphanie in der europäischen Moderne. Studien zu Joyce, Proust, Benjamin und Ponge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Cultural Dream Studies 7).
 
* Bubel, Sylvester: Poetiken der Epiphanie in der europäischen Moderne. Studien zu Joyce, Proust, Benjamin und Ponge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Cultural Dream Studies 7).
 
* Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
 
* Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
 +
* Derrida, Jacques: Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, in: Le Monde diplomatique, Nr. 6647 (11.01.2002), 12.  https://monde-diplomatique.de/artikel/!1131776, letzter Abruf: 04.04.2022.
 
* Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
 
* Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
 
* Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.
 
* Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.

Aktuelle Version vom 18. November 2022, 11:24 Uhr

Die Traumaufzeichnungen von Walter Benjamin (1892-1940) sind eine von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von mehr als dreißig verschiedenen ausgewählten Traumnotaten bzw. -berichten Benjamins mit Träumen aus den Jahren 1928 bis 1939. Die Sammlung stellt den ersten Teil des bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Walter Benjamin: Träume“ dar (T 9-66) und „enthält in erreichbarer Vollständigkeit und zeitlicher Folge Benjamins Niederschriften eigener Träume“ (Lindner, T 136). Sie ermöglicht einen Einblick in Walter Benjamins Träume, die ein breit gestreutes inhaltliches Spektrum zeigen (Lindner, T 145) und häufig auch auf Biographisches verweisen, ohne dabei aber ein „verborgenes Psychogramm“ oder bisher Unbekanntes „über seine Beziehungen zu ihm nahestehenden Personen“ preiszugeben (Lindner, T 144). Zugleich dienen die Traumaufzeichnungen Benjamin als konstruktive Ressource zur bildhaften Entfaltung seines traumtheoretischen Denkens und seiner traumbezogenen Reflexionen (Bretas 2009, 1).


Walter Benjamin als Träumer

Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kunst-, Literatur- und Kulturkritiker sowie Publizist, dessen Werk - das auch aufgrund seines konstruktiv-fragmentarischen Charakters (Schöttker 1999, 9) und der anschaulichen sowie bildhaften Darstellungen seiner Gedanken häufig als so eigenwillig wie brillant betrachtet wird (Friedlander 2012, 7 ff. und 48 ff.) - sowohl im wissenschaftlichen als auch im kulturellen Bereich bis heute einen weitreichenden Einfluss ausübt. Benjamin hat neben seinen eigenen Beiträgen, z.B. zur Geschichtsphilosophie, zur Kunst- und Literaturkritik etc., auch Werke von Honoré de Balzac (1799-1850), Charles Baudelaire (1821-1867) und Marcel Proust (1871-1925) aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Er zählte zum erweiterten Mitgliederkreis der sogenannten Frankfurter Schule, u.a. aufgrund seiner Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung, seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, seines erheblichen Einflusses auf die Kritische Theorie und deren Entwicklung sowie aufgrund seiner Freundschaft und des intensiven Austauschs mit Theodor W. Adorno (1903-1969), der gemeinsam mit Benjamins langjährigem Freund Gershom Scholem (1897-1982) nach dem zweiten Weltkrieg Benjamins Werke veröffentlicht hat. Außerdem waren der inhaltliche Austausch und die freundschaftliche Beziehung zu Bertolt Brecht (1898-1956) von erheblicher Bedeutung für Benjamins Schaffen.

Obwohl Benjamin in dem 1925 verfassten Text Traumkitsch. Glosse zum Surrealismus Folgendes feststellte:

Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),

träumte er selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien. Dieser Auffassung ist z.B. Benjamins Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt: „Ich habe sie [die Träume] jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu Adornos Traumprotokollen).

Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text Frühstücksstube in der Sammlung Einbahnstraße beschrieben :

Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tieferen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gewärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf (T 77 f.; auch in GS IV, 85 f., eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Lindner, T 138-141).

Gemäß dieser Position hat Benjamin seine persönlichen Traumbilder und Traumsituationen beschrieben. Im Vergleich zu Adorno, dessen umfassende Sammlung von Traumprotokollen „aufgrund der bewussten Auswahl als eine eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse angesehen werden kann“ (Müller-Doohm 2019, 19), erfüllen Benjamins Traumaufzeichnungen weniger den Zweck des persönlichen Sich-Darstellens, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt und Materialsammlung zur Entfaltung seines grundlegenden traumtheoretischen Denkens (Bretas 2009, 1).

Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen Benjamins

Benjamin publizierte manche seiner Traumaufzeichnungen separat oder als Teile einzelner Werke. Außerdem ist bekannt, dass er die eigenständige Publikation einer Sammlung von Traumaufzeichnungen anstrebte, die allerdings nicht zustande kam (Lindner, T 137 f.). Die von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von Benjamins Traumaufzeichnungen wurde nicht als textkritische Edition konzipiert (Lindner, T 128). Grundlagen der ausgewählten Texte, bei denen sich zu Lebzeiten publizierte und nachgelassene Beiträge mischen, sind insbesondere die bei Suhrkamp herausgegebenen Gesammelten Schriften Benjamins (GS), die ebenfalls bei Suhrkamp erschienene sechsbändige Ausgabe der Briefe Benjamins, andere Quellen wie Ignaz Ježowers (1878-1942) 1928 publiziertes Buch der Träume, eine umfangreiche und historisch von der Antike bis zur Gegenwart reichende Traumanthologie, sowie bisher nicht publizierte Manuskripte, die im Walter Benjamin Archiv (WBA) in Berlin aufbewahrt werden. In der Sammlung wurden zu einigen Traumaufzeichnungen (z.B. Ein Gespenst oder Der Mond) verschiedene Versionen, z.B. auch eine Entwurfsfassung (von Der Mond), aufgenommen (Lindner, T 129 f.). Diese unterschiedlichen Fassungen, z.B. die alternativen Enden der Traumaufzeichnung Ein Gespenst, lassen unterschiedliche Deutungen zu und können so die traumbezogene Benjamin-Forschung erheblich bereichern (siehe Abschnitt 4).

Benjamins Traumaufzeichnungen im Band „Träume“

Folgende Übersicht präsentiert sämtliche Traumaufzeichnungen Benjamins in der von Burkhart Lindner zusammengestellten Ausgabe (T 9-66) und umfasst 35 Einträge. Die Nachweise in der folgenden Liste wurden ggf. an die aktuelle Ausgabe der Gesammelten Schriften (GS), sowie die aktuelle Ausgabe der anderen referenzierten Quellen angepasst, weichen aber nur geringfügig von den Verweisen Lindners ab. Zuweilen wurden auch zusätzliche Referenzen ergänzt, wenn eine Traumaufzeichnung in weiteren, bisher noch nicht zitierten Werken auffindbar ist.


Nr. Werk Titel der Aufzeichnung Beginn der Traumaufzeichnung Nachweis im Ursprungswerk Nachweis in 'Träume'
1 Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume (1928) - „Im Traum – es sind nun schon drei bis vier Tage, daß ich ihn träumte, und er verläßt mich nicht – hatte ich eine Landstraße im dunkelsten Dämmerlicht vor mir. […]“ Ježower 1985, 268 f. T 9
2 Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume (1928) - „Ich träumte von einer Schülerrevolte. Dabei spielte Sternheim [der expressionistische Dramatiker Carl Sternheim, 1878-1942] irgendwie eine Rolle, und später referierte er darüber. […]“ Ježower 1985, 272 T 10
3 Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume (1928) - „Ich träumte, mit Roethe [dem deutschnationalen germanistischen Mediävisten Gustav Roethe, 1859-1926] gehe ich – neugebackener Privatdozent – in kollegialer Unterhaltung durch die weiten Räume eines Museums, dessen Vorsteher er ist. […]“ Ježower 1985, 272 T 11
4 Einbahnstraße (1928) Wegen Umbau geschlossen! „Im Traum nahm ich mir mit einem Gewehr das Leben. […]“ GS IV, 133; auch in: Ježower 1985, 272 T 12
5 Einbahnstraße (1928) Halteplatz für nicht mehr als 3 Droschken „Ich sah im Traum 'ein verrufenes Haus'. 'Ein Hotel, in dem ein Tier verwöhnt ist. […]“ GS IV, 120 T 13
6 Einbahnstraße (1928) Reiseandenken „Himmel – Im Traume trat ich aus einem Hause und erblickte den Nachthimmel. Ein wildes Geglänze ging von ihm aus. […]“ GS IV, 125 T 14
7 Einbahnstraße (1928) Unordentliches Kind „Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. […]“ GS IV, 115 T 15
8 Einbahnstraße (1928) Mexikanische Botschaft „Mir träumte, als Mitglied einer forschenden Expedition in Mexiko zu sein. […]“ GS IV, 91; auch in: Ježower 1985, 270 f. T 16
9 Einbahnstraße (1928) Tiefbau-Arbeiten „Im Traum sah ich ein ödes Gelände. Das war der Marktplatz von Weimar. […]" GS IV, 101, auch in: Ježower 1985, 271 T 17
10 Einbahnstraße (1928) Nr. 113 „Souterrain. Wir haben längst das Ritual vergessen, unter dem das Haus unseres Lebens aufgeführt wurde. […] Vestibül. Besuch im Goethehaus. […] Speisesaal. In einem Traume sah ich mich in Goethes Arbeitszimmer. […]“ GS IV, 86 f., zweiter („Besuch im Goethehaus“) und dritter Teil („Goethes Arbeitszimmer“) jeweils separat auch in: Ježower 1985, 271, dort allerdings umgekehrt angeordnet. T 18 f.
11 Berliner Chronik (1932) - „Das Elend konnte in diesen Räumen keine Stelle haben, in welchen ja nicht einmal der Tod sie hatte. […]“ GS VI, 501 T 20
12 Berliner Chronik (1932) Ein Gespenst „Den ganzen Tag hatte ich ein Geheimnis für mich behalten: nämlich den Traum der letztvergangnen Nacht. […]“ GS VI, 513 f. T 21 f.
13 Berliner Chronik (1932) Ein Gespenst „Es war ein Abend meines siebenten oder achten Jahres vor unserer babelsberger Sommerwohnung. Eins unserer Mädchen steht noch eine Weile am Gittertor, das auf, ich weiß nicht welche, Allee herausführt. […]“ GS IV, 278-280 T 23-25
14 Berliner Kindheit (1933-1938) Ein Weihnachtslied „Von allen diesen Liedern liebte ich am meisten ein Weihnachtslied [„Ich lag und schlief da träumte mir], das jedesmal mich mit dem Troste für noch nicht erfahrenes, doch erstmals nun geahntes Leid erfüllte, das einzig die Musik uns geben kann. […]“ zuvor unpubliziertes Manuskript (WBA Ms 904) T 26
15 Berliner Kindheit (1933-1938) Schmöker „[…] Das Buch lag auf dem viel zu hohen Tisch. Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu. So lautlos hatte ich doch schon einmal erzählen hören. […]“ GS IV, 274 f. T 27 f.
16 Berliner Kindheit (1933-1938) Der Mond „Weltis Mondnacht. In einer breiten Woge, die von Urzeit her anzustehn schien, brandete das Land vor dem Fenster. […]“ zuvor nicht publiziertes Manuskript (WBA Ms 911 und 911v) T 29-32
17 Berliner Kindheit (1933-1938) Der Mond „Das Licht, welches vom Mond herunterfließt, gilt nicht dem Schauplatz unseres Tagesdaseins. Der Umkreis, den es zweifelhaft erhellt, scheint einer Gegen- oder Nebenerde zu gehören. […]“ GS IV, 300-302 T 33-36
18 Berliner Kindheit (1933-1938) Abreise und Rückkehr „Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren, – war er nicht das erste Reisesignal? […]“ GS IV, 245 f. T 37
19 Berliner Kindheit (1933-1938) Unglücksfälle und Verbrechen „[…] Für das Unglück war überall vorgesorgt; die Stadt und ich hätten es weich gebettet, aber nirgends ließ es sich sehn. […]“ GS IV, 292 f. T 38 f.
20 Selbstbildnisse des Träumenden [eine von Benjamin selbst zusammengestellte aber unpublizierte Sammlung von fünf Träumen] (1932/33) Der Enkel „Man hatte eine Fahrt zur Großmutter beschlossen. Sie ging in einer Droschke vor sich. […]“ GS IV, 420 f. T 40 f.
21 Selbstbildnisse des Träumenden (1932/33) Der Seher „Oberhalb einer Großstadt. Römische Arena. Des Nachts. Ein Wagenrennen findet statt, es handelt sich – wie ein dunkles Bewußtsein mir sagte – um Christus. […]“ GS IV, 421 f., auch in: Ježower 1985, 269 T 42
22 Selbstbildnisse des Träumenden (1932/33) Der Liebhaber „Mit der Freundin war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwanderung und Spaziergang, das wir unternommen hatten, und nun näherten wir uns dem Gipfel. […]“ GS IV, 422 T 43
23 Selbstbildnisse des Träumenden (1932/33) Der Wissende „Ich sehe mich im Warenhaus Wertheim vor einem flachen Schächtelchen mit Holzfiguren, zum Beispiel einem Schäfchen, genau wie die Tiere der Arche Noah gebildet. […]“ GS IV, 422 f. T 44 f.
24 Selbstbildnisse des Träumenden (1932/33) Der Verschwiegene „Da ich im Traume wußte, nun müsse ich bald Italien verlassen, fuhr ich von Capri nach Positano hinüber. […]“ GS IV, 423 f., auch in: Ježower 1985, 269 f. T 46 f.
25 Selbstbildnisse des Träumenden (1932/33) Der Chronist „Der Kaiser [Wilhelm II.] stand vor Gericht. Es gab aber nur ein Podium, auf dem ein Tisch stand, und vor diesem Tisch wurden die Zeugen vernommen. […]“ GS IV, 424 f. T 48
26 Einzelne Träume (1929-1939) Zu nahe „Im Traum am linken Seine-Ufer vor Notre Dame. Da stand ich, aber da war nichts, was Notre Dame glich. […]“ GS IV, 370; Kurze Schatten 1929 T 49
27 Einzelne Träume (1929-1939) - „Ein Traum aus der ersten oder zweiten Nacht meines Aufenthalts in Ibiza: Ich ging spät abends nach Hause – es war eigentlich nicht mein Haus, vielmehr ein prächtiges Mietshaus, in welches ich, träumend, Seligmanns einlogiert hatte. […]“ GS VI, 447; Tagebuch Ibiza Sommer 1932 T 50
28 Einzelne Träume (1929-1939) - „Noch ein Traum (dieser in Berlin, einige Zeit vor der Reise). Mit Jula war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwanderung und Spaziergang, das wir unternommen hatten und nun näherten wir uns dem Gipfel. […]“ GS VI, 447 f.; Tagebuch Ibiza Sommer 1932 T 51
29 Einzelne Träume (1929-1939) Traum „O…s zeigten mir ihr Haus in Niederländisch-Indien. Das Zimmer, in dem ich mich befand, war mit dunklem Holz getäfelt und erweckte den Eindruck von Wohlstand. […]“ GS IV, 429 f.; 1933 T 52
30 Einzelne Träume (1929-1939) Traum „Berlin; ich saß in einer Kutsche in höchst zweideutiger Mädchengesellschaft. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel. […]“ GS IV, 430 f.; 1933 T 53 f.
31 Einzelne Träume (1929-1939) Noch einmal „Ich war im Traum im Landerziehungsheim Haubinda, wo ich aufgewachsen bin. Das Schulhaus lag in meinem Rücken und ich ging im Wald, der einsam war, nach Streufdorf zu. […]“ GS IV, 435; ca. 1933 T 55
32 Einzelne Träume (1929-1939) Brief an die holländische Malerin Toet Blaupot ten Cate (1902-2002) aus dem Sommer 1934 „[…] Sie sehen, auch mein Sommer stellt einen bedeutenden Kontrast gegen den letzten dar. Damals konnte ich – wie das meist der Ausdruck eines ganz erfüllten Daseins ist – nicht früh genug aufstehen. […]“ GS VI, 812; 1934 T 56
33 Einzelne Träume (1929-1939) - „6 März [1938] In den letzten Nächten habe ich Träume, die meinem Tag tief eingeprägt bleiben. Heute nacht war ich im Traum einmal in Gesellschaft. […]“ GS VI, 532 f. T 57 f.
34 Einzelne Träume (1929-1939) - „28 Juni [1938] Ich befand mich in einem Labyrinth von Treppen. Dieses Labyrinth war nicht an allen Stellen gedeckt. […]“ GS VI, 533 f. T 59
35 Einzelne Träume (1929-1939) Rêve du 11/12 octobre 1939 – Brief an Gretel Adorno „ma très chère, j’ai fait cette nuit sur la paille un rêve d‘une beauté telle que je ne résiste pas à l’envie de la raconter à toi. Il y a si peu de choses belles, voire agréables, dont je puis t’entretenir. […]“

„Meine Teuerste, ich hatte gestern nacht auf dem dürftigen Strohbett einen Traum von solcher Schönheit, daß ich dem Wunsch nicht widerstehen kann, ihn Dir zu erzählen. Es gibt ja sonst so wenig schöne, wenigstens erfreuliche Sachen, über die ich mit Dir reden könnte. […]“

Adorno/Benjamin 2005, 390-393; ein Ausschnitt des Traums in französischer Sprache auch in: GS VI, 540-542 T 60-66

Themen, Motive und Deutungen

Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist recht breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume mit Wortwitz oder ungewöhnlichen Wortbildungen (z. B. Nrn. 3, 5, 9), Träume vom Mond und den Sternen (z. B. Nrn. 6, 16, 17) oder auch erotische Trauminhalte (z. B. in Nrn. 27, 28, 33, 35) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z. B. in seinem Passagen-Werk: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608).

Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er in der Regel keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen und gleichzeitig spannende Fragen aufwerfen. So zeigt sich z. B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. der schließlich herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).

Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z. B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nrn. 12 und 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem in der Folgenacht stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“, T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des [Dienst-]Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.). Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).

Ebenso bildhaft inszeniert und aus der Menge der anderen Traumaufzeichnungen aufgrund verschiedener Merkmale besonders hervortretend ist der Traum Nr. 35 gemäß der obigen Liste, den Benjamin als Brief in französischer Sprache an Gretel Adorno adressierte und der Benjamins letzte bekanntgewordene Traumaufzeichnung darstellt (T 60-63, die deutschsprachige Übersetzung, T 63-66). Auffällig ist zunächst, dass Benjamin zu diesem Traum verschiedene Erläuterungen zur Einordnung des Traums und Kontextinformationen mitliefert. Des Weiteren ist die Traumaufzeichnung im Gegensatz zu den meisten anderen taggenau datiert (Lindner, T 149). Benjamin schickt dem eigentlichen Traumnotat im Brief folgendes voraus (T 63):

„Rêve du 11/12 octobre 1939 – Brief an Gretel Adorno. Meine Teuerste, ich hatte gestern nacht auf dem dürftigen Strohbett einen Traum von solcher Schönheit, daß ich dem Wunsch nicht widerstehen kann, ihn Dir zu erzählen. Es gibt ja sonst so wenig schöne, wenigstens erfreuliche Sachen, über die ich mit Dir reden könnte. – Er gehört zu der Art von Träumen, die ich vielleicht alle fünf Jahre einmal träume und die um das Motiv des „Lesens“ kreisen. Teddie [Gretels Ehemann Theodor W. Adorno] wird sich erinnern, welche Rolle dieses Motiv in meinen erkenntnistheoretischen Reflexionen spielt. Der Satz, den ich zum Ende des Traums deutlich ausgesprochen habe, wurde auf französisch gesagt, so daß ein doppelter Grund besteht, den Traum Dir in der gleichen Sprache mitzuteilen. Der Arzt Dausse, der mich im Traum begleitet, ist ein Freund von mir; er hat sich, als ich an Malaria erkrankt war, sehr um mich gekümmert.“

Dann folgt die eigentliche Traumaufzeichnung, in der sich das Traum-Ich gemeinsam mit dem Arzt Dausse zunächst in einer Gesellschaft mehrerer Personen befand. Die beiden verließen irgendwann diese Gesellschaft und gelangten zu einer Ausgrabungsstätte, an der sie „seltsame, fast ebenerdige Liegen“ (T 63) vorfanden, welche die Form und Größe von Särgen aufwiesen und aus Stein gefertigt erschienen. Das Traum-Ich kniete sich vorsichtig auf eine solche Liege und stellte fest, dass sie ähnlich weich wie ein Bett und mit „moosigen Flechten und Efeu“ (T 64) bedeckt war. Die Liegen waren paarweise aufgestellt und das Traum-Ich suchte für sich und den Arzt zwei Liegen aus, merkte dann allerdings, dass diese schon belegt waren. Daraufhin setzten die beiden ihren Weg in einen scheinbar künstlich angelegten Wald fort, bis sie eine Schiffsanlegestelle erreichten, an der sie „drei oder vier“ Frauen antrafen, mit denen der Arzt „zusammenlebte“. Das Traum-Ich schildert ein befremdendes Gefühl darüber, dass der Arzt ihm die Damen nicht vorstellte und dass weiterhin beim Ausziehen und Ablegen seines Strohhutes, den es von seinem Vater geerbt hatte, dieser einen großen Schlitz aufwies und „dessen Ränder dazu noch rotfarbige Spuren trugen“ (T 64), woraufhin man für das Traum-Ich einen Sessel herbeibrachte. Das Traum-Ich beobachtete kurz darauf eine der Damen an einem Tisch, die bezüglich eines seiner Manuskripte, welches sie vom Arzt erhalten hatte, „in graphologische Studien vertieft“ war. An dieser Stelle, die den Kern seines Traumnotates preisgibt, heißt es weiterhin (T 65-66):

„Mich versetzte diese Begutachtung in einige Unruhe, weil ich fürchtete, meine intimen Vorlieben könnten auf diese Weise entdeckt werden. Ich ging näher heran. Was ich erblickte, war ein mit bildlichen Zeichnungen gemustertes Stück Stoff. Hinsichtlich schriftgraphischer Elemente konnte ich einzig die oberen Partien des Buchstabens ‚d‘ genau erkennen. Sie verrieten in ihrer Langgezogenheit einen extremen Hang zur Spiritualität. Dieser Teil des Buchstabens war darüber hinaus mit einem kleinen blaugesäumten Segel ausgestattet, und dieses Segel blähte sich über dem Stoffmuster, als sei es von einer Brise erfaßt. Das war das einzige, was ich „lesen“ konnte – das übrige bestand aus undeutlichen Wellen- und Wolkenmotiven. Das Gespräch konzentrierte sich für kurze Zeit auf diese Handschrift. Ob es hierzu klare Meinungen gab, habe ich nicht in Erinnerung. Demgegenüber ist mir ganz gewiß, daß ich unvermittelt dazu wörtlich auf französisch sagte: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Ich hatte noch kaum diese Worte gesprochen, als etwas Beunruhigendes geschah. Unter den Frauen gab es, wie ich bemerkte, eine sehr schöne, die im Bett lag. Als sie meine Erklärung vernahm, machte sie blitzartig eine kleine Bewegung. Sie lüftete einen kleinen Zipfel des Deckbetts, in das sie eingehüllt war. In weniger als einer Sekunde hatte sie diese Geste vollzogen. Dies geschah nicht, um mich ihren Körper sehen zu lassen, sondern um mir das Muster ihres Bettlakens zu zeigen, das der Bilderschrift entsprechen sollte, die ich Jahre zuvor als Geschenk für Dausse „geschrieben“ haben mußte. Ich bin ganz sicher, daß die Dame diese Bewegung zu mir hin gemacht hat. Aber daß ich dies wußte, beruhte auf einer Vision, einer Art zweiter Wahrnehmung. Denn meine Augen blickten anderswohin, und ich sah nichts von dem, was das für mich so flüchtig aufgedeckte Bettlaken hätte zeigen können.“

Nach Abschluss dieser Traumbeschreibung erläutert Benjamin schließlich in seinem Brief an Gretel Adorno: „Nachdem ich diesen Traum gehabt hatte, konnte ich stundenlang nicht wieder einschlafen. Nämlich vor Glück. Ich schreibe Dir, um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen“ (T 66).

Benjamins erklärt zu Beginn der Traumaufzeichnung, dass der Traum „um das Motiv des Lesens“ kreise. Zudem ist bezüglich der Situation, in der er diesen Traum notierte, festzuhalten, dass er sich zu dieser Zeit nicht nur im französischen Exil, sondern auch mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem französischen Internierungslager, dem Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles im Département Niévre, befand (Derrida 2002) und plante, bei der nächstmöglichen Gelegenheit in die USA zu flüchten (Lindner, T 149). Im Traum begegnet dem Traum-Ich eine alte, von ihm selbst erstellte Handschrift. Diese kann er im Traum zweimal, d. h. in zwei verschiedenen Situationen, erkennen, nämlich als „ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff“, das von einer Dame „graphologisch“ studiert wird, sowie als Betttuch, das sichtbar wird, als eine in einem Bett liegende, „sehr schöne“ Frau ihre Bettdecke kurzzeitig anhebt (Lindner, T 150). Bezüglich der Textinhalte des Manuskriptes, welches das Traum-Ich zu sehen bekommt, kann es nur ein einziges Zeichen (Lindner, T 150), nämlich das „obere Ende des Buchstabens ,d'". erkennen, an dem ein kleines blaugesäumtes und sich im Wind blähendes Segel angebracht ist. Lindner stellt fest, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstzitat Benjamins handelt: „Mehrere der erkenntnistheoretischen Notate aus der Passagenarbeit zum Begriff der „Rettung“ kreisen um die Metapher vom „Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs“. Der in einer fast ausweglosen Extremsituation Denkende will diesen Wind nutzen. ‚Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.‘ ([GS] V, 591)“ (Lindner, T 150). Vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Selbstzitates ergebe sich Benjamins am Ende des Traums und nach dem Aufwachen empfundenes Glück also aus der Hoffnung auf Rettung aus seiner ausweglosen Situation, dem Hinweis im Traum, dass sich seine Segel mit Wind füllen und ihm ein Ausweg in Aussicht gestellt wird.

Eine andere mögliche Lesart des Traumes beziehungsweise einen anderen, etwas weniger hoffnungsvollen Interpretationsansatz stellte Jacques Derrida vor, in dessen Rahmen insbesondere die Mehrdeutigkeit des Begriffs „fichu“ eine zentrale Rolle spielt. In seiner Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, den Derrida am 22. September 2001 in Frankfurt erhielt (Derrida 2002), konzentrierte sich Derrida insbesondere auf den von Benjamin in französischer Sprache geäußerten Satz: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Derrida erläutert darin, dass „le fichu“ zwar in seiner „augenfälligsten Bedeutung“ den „Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag“, bezeichnet, das Adjektiv „fichu“ hingegen „das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist“ bedeuten kann. Derrida spekuliert in der beschriebenen Traumsituation, in der Benjamin lediglich den oberen Teil des Buchstabens „d“ erkennen kann, welcher „mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen“ war und vom Wind erfasst wurde, über eine andere Selbstreferenzierung Benjamins, der persönliche Briefe häufig mit seinem mit dem Buchstaben „d“ beginnenden und von ihm in verschiedenen Kontexten verwendeten Pseudonym „Detlef“ signierte. „Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“, ganz im Sinne einer geträumten „poetische[n] und vorausdeutende[n] Hieroglyphe“ (Derrida 2002). Der ungewöhnliche Umstand, dass Benjamin darauf bestand, den Traum in französischer Sprache aufzuschreiben, unterstützt Derridas Lesart zwar, da diese Interpretation nur ohne eine Übersetzung des zentralen und in französischer Sprache mehrdeutigen Wortes „fichu“ tatsächlich zugänglich ist, wie Derrida selbst argumentiert (Derrida 2002). Allerdings steht diese Auslegung inhaltlich dem von Benjamin geäußerten Glückgefühl zumindest teilweise entgegen. Dies wäre wiederum aber nicht der Fall, wenn Benjamin sein Glück allein aus der geheimnisvollen Vielschichtigkeit dieses spannenden Traumes gezogen und er den wenig hoffnungsvollen prognostischen Inhalt ignoriert hätte. Beide Auslegungen erscheinen zumindest plausibel und vor dem Hintergrund, dass neben anderen angebotenen Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutig zu favorisierende Interpretation hervorsticht, bleibt diese Traumaufzeichnung, wie so oft bei Benjamin, ein faszinierendes, ambivalentes und schillerndes Gebilde, das verschiedene mögliche Zugänge anbieten kann und sich der Eindeutigkeit entzieht.

Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichtlichkeit des Traums bis zur traumpolitischen Konzeption des Erwachens aus dem 19. Jahrhundert“ (Lindner, T 136). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven anbieten.

Constantin Houy


Literatur

Ausgaben

  • Walter Benjamin: Träume. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Burkhardt Lindner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008 (zitiert als: T).

Übersetzungen:

  • Walter Benjamin: Rêves. Übers. von Christophe David. Paris: Gallimard 2009.
  • Walter Benjamin: Sueños. Übers. von Juan Barjay und Joaquín Chamorro Mielke. Madrid: Abada Editores 2011.
  • Walter Benjamin: Sogni. Roma: Castelvecchi 2016.
  • Walter Benjamin: Dreams. Berlin: Bierke 2017.

Weitere Primärliteratur

  • Adorno, Gretel/Walter Benjamin: Briefwechsel. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.
  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018.
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band II: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 7. Aufl. 2019 (GS II).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp 6. Aufl. 2020 (GS IV).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 9. Aufl. 2020 (GS V).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI: Fragmente, Autobiographische Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 6. Aufl. 2020 (GS VI).
  • Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1985 [zuerst 1928].

Forschungsliteratur

  • Allerkamp, Andrea: Erwachen als historische Grenzerfahrung. Rudolf Leonhards und Walter Benjamins Traum-Theorien. In: Sarah Schmidt/Gerard Raulet (Hg.), Wissen in Bewegung. Theoriebildung unter dem Fokus von Entgrenzung und Grenzziehung. Berlin: LIT 2014, 115-129.
  • Allerkamp, Andrea: Vom Traumkitsch zur Traumkritik. Benjamins kritische Theorie des Erwachens. In: Andrea Allerkamp/Pablo Valdivia Orozco/Sophie Witt (Hg.), Gegen/Stand der Kritik. Zürich, Berlin: Diaphanes 2015, 91-104.
  • Bretas, Aléxia: Träume – Os sonhos de Walter Benjamin. In: Cadernos Walter Benjamin 2 (2009) 1, 1-11; online (27.08.2021).
  • Bubel, Sylvester: Poetiken der Epiphanie in der europäischen Moderne. Studien zu Joyce, Proust, Benjamin und Ponge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Cultural Dream Studies 7).
  • Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
  • Derrida, Jacques: Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, in: Le Monde diplomatique, Nr. 6647 (11.01.2002), 12. https://monde-diplomatique.de/artikel/!1131776, letzter Abruf: 04.04.2022.
  • Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
  • Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.
  • Humphreys, Franziska: Without Image — Refuge of all Images. On some of Walter Benjamin’s Dream Narratives. In: Orbis Litterarum 74 (2019), 32-43
  • Lindner, Burkhardt: Anmerkungen. In: T 128-134.
  • Lindner, Burkhardt: Benjamin als Träumer und Theoretiker des Traums. In: T 135-168.
  • Maeding, Linda: Zwischen Traum und Erwachen. Walter Benjamins Surrealismus-Rezeption. In: Revista de Filología Alemana 20 (2012) 1, 11-28.
  • Müller-Doohm, Stefan: Traumprotokolle. In: Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2019, 19-22.
  • Schiffermüller, Isolde: Benjamins Traum vom Lesen [T Nr. 35]. In: Peter Kofler/Ulrich Stadler (Hg.), Lesen, schreiben, edieren. Über den Umgang mit Literatur. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 2016, 64-79.
  • Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.
  • Sharvit, Gilad: Exile and Tradition. Benjamin’s Fichu Dream [T Nr. 35], Scholem’s Divine Law, and Kafka’s Village. In: The Germanic Review 92 (2017), 280–300.
  • Weidmann, Heiner: Erwachen/Traum. In: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, Bd. 1, 341-362

Materialien



Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Houy, Constantin: "Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2021; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumaufzeichnungen%22_(Walter_Benjamin).