"Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin)

Aus Lexikon Traumkultur
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Die Traumaufzeichnungen von Walter Benjamin (1892-1940) sind eine von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von mehr als dreißig verschiedenen ausgewählten Traumnotaten bzw. -berichten Benjamins mit Träumen aus den Jahren 1928 bis 1939. Diese Sammlung stellt den ersten Teil des bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Walter Benjamin: Träume“ dar (Benjamin 2008, 9-66) und „enthält in erreichbarer Vollständigkeit und zeitlicher Folge Benjamins Niederschriften eigener Träume“ (Lindner in Benjamin 2008b, 136). Sie ermöglicht einen Einblick in Walter Benjamins Träume, die ein breit gestreutes inhaltliches Spektrum aufweisen (Lindner in Benjamin 2008b, 145) und häufig auch auf Biographisches verweisen, ohne dabei aber ein „verborgenes Psychogramm“ oder bisher Unbekanntes „über seine Beziehungen zu ihm nahestehenden Personen“ preiszugeben (Lindner in Benjamin 2008b, 144). Zugleich dienen die Traumaufzeichnungen Benjamin als konstruktive Ressource zur bildhaften Entfaltung seines traumtheoretischen Denkens und seiner traumbezogenen Reflexionen (Bretas 2009, 1).


Walter Benjamin als Träumer

Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kunst-, Literatur- und Kulturkritiker sowie Publizist, dessen Werk, das auch aufgrund seines konstruktiv-fragmentarischen Charakters (Schöttker 1999, 9) und der anschaulichen sowie bildhaften Darstellungen seiner Gedanken häufig als so eigenwillig wie brillant betrachtet wird (Friedlander 2012, 7ff. und 48ff.), sowohl im wissenschaftlichen als auch im kulturellen Bereich bis heute einen weitreichenden Einfluss ausübt. Benjamin hat neben seinen eigenen Beiträgen, z. B. zur Geschichtsphilosophie, zur Kunst- und Literaturkritik etc., auch Werke von Balzac, Baudelaire und Proust aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Er zählte zum erweiterten Mitgliederkreis der sogenannten Frankfurter Schule, u. a. aufgrund seiner Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung, seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, seines erheblichen Einflusses auf die Kritische Theorie und deren Entwicklung sowie aufgrund seiner Freundschaft und des intensiven Austauschs mit Theodor W. Adorno, der gemeinsam mit Benjamins langjährigem Freund Gershom Scholem nach dem zweiten Weltkrieg Benjamins Werke veröffentlicht hat. Außerdem waren der inhaltliche Austausch und die freundschaftliche Beziehung zu Bertold Brecht von erheblicher Bedeutung für Benjamins Schaffen.

Obwohl Benjamin in dem 1925 verfassten Text „Traumkitsch. Glosse zum Surrealismus“ folgendes feststellte (Benjamin 2008, 72-75, das folgende Zitat 72-73, GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428):

„Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale.“,

so träumte er doch selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner in Benjamin 2008b, 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert. (Adorno 2018, 88, Lindner in Benjamin 2008b, 137, siehe dazu auch den Lexikoneintrag zu Adornos Traumprotokollen: http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno)). Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner in Benjamin 2008b, 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text „Frühstücksstube“ in der Sammlung „Einbahnstraße“ beschrieben (Benjamin 2008, 77-78, auch in GS IV, 85-86, eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Lindner in Benjamin 2008b, 138-141):

„Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tiefen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gegenwärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf.“

Gemäß dieser Position hat Benjamin seine persönlichen Traumbilder und Traumsituationen beschrieben. Im Vergleich zu Adorno, dessen umfassende Sammlung von Traumprotokollen „aufgrund der bewussten Auswahl als eine eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse angesehen werden kann“ (Müller-Doohm 2019, 19), erfüllen Benjamins Traumaufzeichnungen weniger den Zweck des persönlichen sich Darstellens, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt und Materialsammlung zur Entfaltung seines grundlegenden traumtheoretischen Denkens (Bretas 2009, 1).


Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen Benjamins

Benjamin publizierte manche seiner Traumaufzeichnungen separat oder als Teile einzelner Werke. Außerdem ist bekannt, dass er die eigenständige Publikation einer Sammlung von Traumaufzeichnungen anstrebte, die allerdings nicht zustande kam (Lindner in Benjamin 2008b, 137f.). Die von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von Benjamins Traumaufzeichnungen (Lindner in Benjamin 2008b, 136) wurde nicht als textkritische Edition konzipiert (Lindner in Benjamin 2008a, 128). Grundlagen der ausgewählten Texte, bei denen sich zu Lebzeiten publizierte und nachgelassene Beiträge mischen, sind insbesondere die bei Suhrkamp herausgegebenen „Gesammelten Schriften“ Benjamins (GS), die ebenfalls bei Suhrkamp erschienene sechsbändige Ausgabe der „Briefe“ Benjamins, andere Quellen wie Ignaz Ježowers „Das Buch der Träume“ (1928) sowie bisher nicht publizierte Manuskripte, die im Walter Benjamin Archiv (WBA) in Berlin aufbewahrt werden. In der Sammlung wurden zu einigen Traumaufzeichnungen (z. B. „Ein Gespenst“ oder „Der Mond“) verschiedene publikationswürdige Versionen, z. B. auch eine Entwurfsfassung (von „Der Mond“), aufgenommen (Lindner in Benjamin 2008a, 129-130)). Diese unterschiedlichen Fassungen, z. B. die alternativen Enden der Traumaufzeichnung „Ein Gespenst“, lassen unterschiedliche Deutungen zu und können so die traumbezogene Benjamin-Forschung erheblich bereichern (siehe Abschnitt 4).


Benjamins Traumaufzeichnungen im Band „Träume“

Folgende Übersicht präsentiert sämtliche Traumaufzeichnungen Benjamins in der von Burkhart Lindner zusammengestellten Ausgabe (Benjamin 2008, 9-66) und umfasst 35 Einträge. Die Nachweise in der folgenden Liste wurden ggf. an die aktuelle Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ (GS), sowie die aktuelle Ausgabe der anderen referenzierten Quellen angepasst, weichen aber nur geringfügig von den Verweisen Lindners ab. Zuweilen wurden auch zusätzliche Referenzen ergänzt, wenn eine Traumaufzeichnung in weiteren, bisher noch nicht zitierten Werken auffindbar ist.


Nr. Werk Titel der Aufzeichnung Beginn der Traumaufzeichnung Nachweis im Ursprungswerk Nachweis in 'Träume'
1 Ježower, Ignaz: 'Das Buch der Träume' (1928) '- Im Traum – es sind nun schon drei bis vier Tage, daß ich ihn träumte, und er verläßt mich nicht – hatte ich eine Landstraße im dunkelsten Dämmerlicht vor mir. […] Ježower 1985, 268-269 Benjamin 2008, 9
2 Oxford, 9. Juni 1936 Traum: Agathe erschien mir und sagte vollends traurig: Früher, mein Kind, habe ich dir immer gesagt, wir werden uns nach dem Tod wiedersehen. … Adorno 2018, 7
3a Oxford, 10. März 1937 Ich fand mich in Paris ohne alles Geld, wollte aber in ein besonders elegantes Bordell, die maison Drouot gehen (in Wirklichkeit ist Hôtel Drouot das berühmteste Auktionslokal für alte Dinge). … Adorno 2018, 8
3b Oxford, 10. März 1937 Ein anderer Traum, früher in der Nacht, bezog sich auf Agathe. Sie sagte: mein Kind, du darfst mir nicht böse sein, aber wenn ich zwei wirklich Täler besäße, würde ich die ganze Musik von Schubert dafür geben. Adorno 2018, 8
4 London 1937 (während der Arbeit am „Versuch über Wagner“) Der Traum hatte einen Titel: „Siegfrieds letztes Abenteuer“ oder „Siegfrieds letzter Tod“. … Adorno 2018, 8-9; ebenso in Adorno 2003, 572-573
5 New York, November oder Dezember 1938 Ich träumte: Hölderlin hieß Hölderlin, weil er immer auf einer Holunderflöte spielte. Adorno 2018, 10
6 New York, 30. Dezember 1940 Kurz vorm Erwachen: ich wohnte der Szene bei, die Baudelaires Gedicht „Don Juan aux Enfers“ – wohl nach einem Bilde Delacroix‘ – festhält. … Adorno 2018, 10-11; ebenso in Adorno 2003, 573
7 New York, 8. Februar 1941 Ich war an Bord eines Schiffs, das von Seeräubern geentert wurde. … Adorno 2018, 11-12
8 Los Angeles, 22. Mai 1941 Wir gingen, Agathe, meine Mutter und ich, auf einem Höhenweg von rötlicher Sandsteinfarbe, wie sie mir von Amorbach vertraut ist. … Adorno 2018, 12-13; ebenso in Adorno 2003, 574-575
9 Los Angeles, 20. November 1941 In der ersten Nacht in Los Angeles träumte ich, ich sei in einem Café – in Paris? – mit einem Mädchen losester Sitten verabredet gewesen. … Adorno 2018, 13
10 Los Angeles, 1942 Am Untermainkai in Frankfurt geriet ich in den Aufmarsch einer arabischen Armee. … Adorno 2018, 14; ebenso in Adorno 2003, 574
11 In einer der folgenden Nächte Ich wohnte mit meiner Mutter einer Aufführung der Meistersinger bei. … Adorno 2018, 15
12 Los Angeles, Ende Mai 1942 Ich träumte, ich solle gekreuzigt werden. … Adorno 2018, 16
13 Los Angeles, Anfang Juli 1942 Der Traum war – oder schien mir im Rückblick – eine lange, ungemein verwickelte Detektivgeschichte, in die ich selber verwickelt war. … Adorno 2018, 16-17
14 Los Angeles, 13. September 1942 Wir waren am Nachmittag zu Schönbergs 68. Geburtstag eingeladen. … Adorno 2018, 17-19
15 Los Angeles, 21. Oktober 1942 Mein Freund erzählte mir, er habe nur eine musikalische Leidenschaft: Kontrabaß spielen. … Adorno 2018, 19
16 Los Angeles, November 1942 Mit meinem Vater geriet ich in London in einen Fliegeralarm. … Adorno 2018, 19-20
17 In einer andern Nacht Ich unterhielt mich mit meiner Freundin X über die erotischen Künste, deren ich sie für mächtig hielt. … Adorno 2018, 20-21
18 Los Angeles, 25. November 1942 Mit Gretel und Max war ich, nach Hitlers Sturz, nach Frankfurt zurückgekehrt. … Adorno 2018, 21-23
19 Los Angeles, Anfang Dezember 1942 Ich nahm an einem großen, ungemein anspruchsvollen Bankett teil. … Adorno 2018, 23-24; ebenso in Adorno 2003, 575-576
20 Los Angeles, 10. Januar 1943 Ich besuchte ein amerikanisches Bordell. … Adorno 2018, 25-26
21 Los Angeles, 16. Januar 1943, früh morgens Ich lag mit zwei entzückenden Frauen im Bett. … Adorno 2018, 26-27
22 Los Angeles, 15. Februar 1943 Agathe erschien mir im Traum und sagte etwa: „Karl Kraus war doch der witzigste und geistreichste aller Schriftsteller. … Adorno 2018, 27-28; ebenso in Adorno 2003, 576
23 Los Angeles, 28. Februar 1943 Alexander Granach veranstaltete in einem großen Saal – dem des Frankfurter Saalbaus? – eine Vorlesung aus seinem Novellen-Roman. … Adorno 2018, 28-30
24 16. April 1943 Nächsten Dienstag hat der alte Hahn seinen 85. Geburtstag. Ich träumte: Was kann man denn dem alten Hahn zum 85. Geburtstag schenken, etwas, wovon er etwas hat. … Adorno 2018, 30
25 Los Angeles, 12. Mai 1943 Nach dem ersten Besuch von Luli draußen bei uns träumte ich: auf einer Gesellschaft etwas alkoholischen Wesens, die sich in mehreren Räumen abspielte, stieß ich mit einem älteren, eleganten Herrn zusammen – sei es, daß ich in ihn hineinrannte, sei es daß ich ihm auf den Fuß trat. … Adorno 2018, 30-31
26 Sommer 1943 Vor einigen Wochen träumte ich, es hätte mich jemand gefragt: wie ist es nur möglich, daß jemand wie Sie so gern auf langweilige Gesellschaften geht! … Adorno 2018, 31
27 Los Angeles, 22. November 1943 Ich las im Traum einen Aufsatz von Herwarth Walden im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, über Shakespeare. … Adorno 2018, 32
28 Eine Nacht vorher Auf einem Empfang bei einer Dame der Gesellschaft in L.A., mit Gretel und Norah. … Adorno 2018, 32
29 Los Angeles, Anfang Januar 1944 Dieterle hat ein Stück geschrieben, das heißt: Backt Hegellämmchen! Adorno 2018, 32
30 Los Angeles, Ende März 1944 In einer Arena fand unter meinem Befehl, die Hinrichtung einer großen Anzahl von Nazis statt. … Adorno 2018, 33
31 Los Angeles, 2. April 1944 Gretel sagte mir: „ich weiß nun, wer der neue Geliebte von Y ist. … Adorno 2018, 33
32 Los Angeles, 8. Juni 1944 Ich träumte, Agathe und Maria erzählten mir gemeinsam, in heller Begeisterung, die neueste Louische-Geschichte. … Adorno 2018, 33
33 Los Angeles, 1. August 1944 Ich sollte wieder einmal – gleich dem Pierrot lunaire – hingerichtet werde. … Adorno 2018, 34
34 Los Angeles, 10. August 1944 Mit Luise Rainer nahm ich an einer Art Presseball in Europa teil. … Adorno 2018, 34-35
35 Los Angeles, 26. August 1944 Ich träumte, ich rasierte mich mit einem ebenso einfachen wie merkwürdigen Apparat. … Adorno 2018, 35-36
36 Los Angeles, 3. September 1944 Ich konnte, über traurigen und enttäuschten Gedanken lange nicht einschlafen. Ein Auto raste am Haus vorbei, ich hörte noch das Knirschen der Bremsen, als es den San Vincente Boulevard erreichte. … Adorno 2018, 36-37
37 Berkeley, 17. Oktober 1944 Nachträglich von einer Postkarte an Gretel transcribiert. Ich befand mich in Gesellschaft mit mehreren Mitgliedern der Familie Guermantes: Oriane, Charlus und der Princesse. … Adorno 2018, 37
38 Bruchstücke, Los Angeles, Oktober 1944 In einer großen Gesellschaft war Trotzky zugegen, Zentrum einer jüngerhaften Gruppe, zu der er lebhaft dozierend und ziemlich autoritär sprach. … Adorno 2018, 38
39 Los Angeles, 23. November 1944 Ein Satz: „Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts ist Lujche.“ Adorno 2018, 38
40 Los Angeles, 20. Januar 1945 Wieder ein Bordelltraum. Er spielte in Paris. … Adorno 2018, 38-41
41 Los Angeles, 31. März 1945 Nachdem durchs Radio die Aufforderung Eisenhowers zur Niederlegung der deutschen Waffen durchgegeben war, schlief ich nachmittags und träumte: ich war in Süddeutschland, einem großen Erkerzimmer, das auf einen Marktplatz ging, in Würzburg oder Amorbach. … Adorno 2018, 42
42 Los Angeles, 14. Juli 1945 Hinrichtungsszene. Ob die Opfer Faschisten oder Antifaschisten waren, blieb unklar. … Adorno 2018, 43
43 Los Angeles, 17. August 1945 Ein sehr schwarzer Freitag. Vor Wochen hatte ich den Traum geträumt, und was ich träumte, schien mir so entscheidend, als hinge alles davon ab und als wäre ich bis ins innerste Geheimnis der Vergeblichkeit der Existenz gedrungen. … Adorno 2018, 44-45
44 Nachtrag zu diesem Traum Häufig träumte ich etwas sehr Verwandtes über Paris. Ich gehe weit draußen am linken Seineufer spazieren. … Adorno 2018, 45
45 Los Angeles, 19. September 1945 Mein Vater fragte mich: weißt du auch, woher der Name Dreyfus kommt. … Adorno 2018, 46
46a Los Angeles, 6. Oktober 1945 Zwei Träume, die aufeinander folgten. L.L. hatte ein zweites Kind, ein Töchterchen. … Adorno 2018, 46-47
46b Los Angeles, 6. Oktober 1945 Der zweite, viel wirrere Traum: es sollte eine Art akademische Feier für einen Historiker oder Politiker stattfinden. … Adorno 2018, 47-48
47 Los Angeles, 14. Oktober 1945 Es war eine kleine Gesellschaft bei Dieterles, hufeisenartig gedeckt, so daß in der Mitte ein ziemlich großer Raum frei blieb. … Adorno 2018, 48-49
48 Los Angeles, 29. Oktober 1945 Besuch bei Anatole France. Ein äußerst eleganter Fahrstuhl – schwarz wie Ebenholz – brachte mich zu dessen Zimmer, oder Bureau. … Adorno 2018, 50-51
49 Los Angeles, 4. Februar 1946 In einer offenbar mit Krankheit zusammenhängenden, schweren Beklemmung. Ich nahm am Abschied Lavals vor seiner Hinrichtung teil, in einer größeren Gruppe. … Adorno 2018, 51-52
50 Berkeley, 24. März 1946 In der Nacht, die der entscheidenden Auseinandersetzung mit Charlotte voranging, hatte ich einen Traum. Im Erwachen hielt ich dessen letzte Worte fest: „Ich bin der Märtyrer des Glücks.“ Adorno 2018, 52
51 Los Angeles, 18. Februar 1948 Ich besäße ein voluminöses illustriertes Prachtwerk über den Surrealismus, und der Traum war nichts anderes als die genaue Vorstellung einer der Illustrationen. … Adorno 2018, 52-53; ebenso Adorno 2003, 576-577
52a Los Angeles, 14. März 1948 Ich hatte am Abend recht viel getrunken und wußte, daß ich auf den Sonntag mich ausschlafen konnte. So war es eine traumreiche Nacht. … Adorno 2018, 53
52b Los Angeles, 14. März 1948 Viel bedenklicher ein zweiter Traum. Mir war ein Kind, ein etwa zwölfjähriger, entzückender Knabe, zur Folter zur Verfügung gestellt. … Adorno 2018, 54
53 Los Angeles, 26. September 1948 Wir waren bei Sch. zum Essen eingeladen, das auf einer schmalen Terrasse vor dem Haus stattfand. … Adorno 2018, 54-55
54 Los Angeles, September 1948 In der Emigration träumte ich immer wieder, mit Variationen: es war zuhause in Oberrad, schon unterm Hitlerregime. … Adorno 2018, 55-56
55 Los Angeles, 1. Oktober 1948 Ein Ball oder Fest, doch schien es mir, ich befände mich allein auf der Tanzfläche. … Adorno 2018, 56-57
56 Los Angeles, 6. Dezember 1948 Um 8.20 wurde ich durchs Schellen eines Rechtsanwalts geweckt, wegen unserer eviction. Ich war mitten im Traum. Wir waren in einer kleinen süddeutschen oder hessischen Stadt, parkten das Auto in der Hauptstraße, ich ging in die Nebenstraße, fand ein unbeschreiblich schönes altes Rathaus. … Adorno 2018, 57
57 Frankfurt, Sommer 1952 Ich gehörte einem Gremium an, das entscheiden sollte, ob die barocken Texte mancher Choräle so exzentrisch seien, daß sie heute nicht länger mehr gesungen werden könnten. … Adorno 2018, 58
58 Frankfurt, 24. Januar 1954 Ferdinand Kramer habe sich ganz der Malereizugewandt und eine neue Gattung erfunden, die „praktikable Malerei“. … Adorno 2018, 58; ebenso in Adorno 2003, 577
59 Frankfurt, Januar 1954 Ich hörte Hitlers unverkennbare Stimme aus Lautsprechern tönen mit einer Ansprache: „Da gestern meine einzige Tochter einem tragischen Unglücksfall zum Opfer gefallen ist, so ordne ich zur Sühne an, daß heute sämtliche Züge entgleisen.“ … Adorno 2018, 59; ebenso in Adorno 2003, 577
60 Hamburg, Mai 1954 Traum in einer Nacht, in der ich glaubte, meine Adern anschwellen und verhärten zu fühlen bis zum Platzen. Irgendwelche kleinen und ekelhaften Tiere verübten Unfug. … Adorno 2018, 59
61 30. Juli 1954 Ich träumte von L. Sie saß mir sehr elegant, aber totenblaß gegenüber. … Adorno 2018, 59-60
62 Locarno, 30. August 1954 Der heilige Carl Borromäus habe versucht, dem Gekreuzigten in den After zu kriechen. … Adorno 2018, 60-61
63 Frankfurt, 10. September 1954 Ich träumte, ich hätte an einer theologischen Diskussion teilgenommen, auch Tillich war dabei. … Adorno 2018, 61
64 20. März 1955 Ich spielte, wie als kleines Kind, Klavier auf einer Tischplatte. … Adorno 2018, 61-62
65 1. April 1955 Dem eigentlichen Traum voran ging ein etwas wirrer über besonders schöne alte Häuser in Paris oder Wien. … Adorno 2018, 62-63
66 16. Juni 1955 Zwei riesige schwarze Triceratopse, wie aus Plastics, wütende, mir unsympathische und schauerliche Tiere. … Adorno 2018, 63
67 5. September 1955 Das Leben ist der Mythos. … Adorno 2018, 63
68 Stuttgart, September 1955 In einer der Nächte in S. träumte ich: die qualvollste Hinrichtungsart – offenbar mir bestimmt – wäre es, bis zum Kopf in Wasser zu stehen und gleichzeitig geröstet zu werden. … Adorno 2018, 64
69 Frankfurt, Ende Oktober 1955 Ich sollte – wohl als Schauspieler – an einer Aufführung des Wallenstein mitwirken, nicht auf der Bühne, aber in einem Film - oder Fernsehprogramm. … Adorno 2018, 64; ebenso in Adorno 2003, 577-578
70 Frankfurt, 12. November 1955 Ich träumte, ich müsse das soziologische Diplomexamen machen. … Adorno 2018, 65; ebenso in Adorno 2003, 578
71 28. November 1955 Ich hatte einen fürchterlichen Krach mit meiner Mutter, die gesagt hatte, sie wäre nicht verpflichtet, mich materiell zu erhalten. … Adorno 2018, 66
72 9. Januar 1956 Ich erinnere mich an einen Komplex: In einer mittleren Großstadt fuhr ich vom Bahnhof in ein bestimmtes Viertel, auf einem Weg, der mir sehr bekannt schien. … Adorno 2018, 66
73 24. Januar 1956 Nach einem Tag von jäher Hoffnung und tiefster Depression: Ich war im Freien, unter einem unbeschreiblich schwarz und wild bewölkten Himmel. … Adorno 2018, 66-67
74 Frankfurt, 18. November 1956 Ich träumte von einer fürchterlichen Hitzekatastrophe. … Adorno 2018, 67; ebenso in Adorno 2003, 578
75 Frankfurt, 9. Mai 1957 Mit G. hörte ich in einem Konzert ein großes Vokalwerk – wohl mit Chor. … Adorno 2018, 67; ebenso in Adorno 2003, 579
76 7. Juni 1957 Ich träumte, ich wäre in einem KZ. … Adorno 2018, 68
77 25. Juni 1957 Ich sollte wieder einmal gekreuzigt werden. … Adorno 2018, 68
78 Sils-Maria, 23. August 1957 In der Aula der Universität sollte ein Konzert stattfinden, doch war es gar nicht die Aula sondern ein rot verblichener Musiksalon. … Adorno 2018, 68-69
79 Sils-Maria, 21. August 1958 Im Museumskonzert in Frankfurt. Es sollte das Violinkonzert von Brahms gespielt werden, aber von dem Pianisten Serkin. … Adorno 2018, 69-70
80 Mitte September 1958 Tagesrest: ich war vom Direktor meines Gymnasiums, jetzt Freiherr vom Stein-Schule, eingeladen worden, etwas zur Festschrift beim Anlaß ihres 50-jährigen Bestehens beizusteuern. Traum: bei einer Zeremonie wurde mir feierlich die musikalische Gesamtleitung des Gymnasiums übertragen. … Adorno 2018, 70
81 28. Januar 1959 Ich war in einem kleinen runden sehr hohen Raum. Weniger Personen saßen im Kreis: die Mächtigsten der Welt. … Adorno 2018, 71
82a Frankfurt, Ende Dezember 1959 Hinrichtungstraum. Enthauptung. Nicht entschieden, ob mir der Kopf abgeschlagen, ob ich guillotiniert werden sollte, doch streckte ich ihn wohl, um still zu halten, in eine Rille. … Adorno 2018, 71
82b Frankfurt, Ende Dezember 1959 Ich muß im Schlaf einen starken Drang zum Urinieren gefühlt haben. … Adorno 2018, 72
83 16. Juni 1960 In der Nacht vor der Abreise [nach Wien] träumte ich: daß ich von der metaphysischen Hoffnung nicht ablassen mag, ist gar nicht, weil ich so sehr am Leben hinge, sondern weil ich mit G. erwachen möchte. Adorno 2018, 72-73
84 Wien, 26. Juni 1960 In der vorletzten Nacht träumte ich: es hätte an einem Tag tiefste Nacht geherrscht, zum ersten Mal seit Erschaffung der Welt wäre die Sonne nicht aufgegangen. … Adorno 2018, 73
85 Frankfurt, 10 Oktober 1960 Kracauer erschien mir: Mein Lieber, ob wir Bücher schreiben, ob sie gut oder schlecht sind, ist doch ganz gleichgültig. … Adorno 2018, 73; ebenso in Adorno 2003, 579
86 Frankfurt, 13. April 1962 Ich sollte ein Examen machen, mündliche Prüfung in Geographie, allein aus einer großen Zahl von Examinanden; wohl in der Universität. … Adorno 2018, 74-76; ebenso in Adorno 2003, 579-581
87 Frankfurt, 18. September 1962 Ich hielt ein Exemplar der gedruckten Passagenarbeit von Benjamin in Händen, sei es, daß er sie doch vollendet, sei es, daß ich sie aus den Entwürfen rekonstruiert hatte. … Adorno 2018, 76; Adorno 2003, 581
88 18. Oktober 1963 Kurz vor seinem Tod lernte ich Jean Cocteau kennen. … Adorno 2018, 77
89 Baden-Baden, 25. März 1964 Ein Psychotherapeut wollte in einem sehr großen Hotel einen Vortrag aus seinem Sachgebiet über Schubert halten. … Adorno 2018, 77
90 Frankfurt, 19. Juli 1964 Ich träumte, Scholem habe mir eine altnordische Sage erzählt. … Adorno 2018, 78
91 Sils-Maria, 4. September 1964 (Kurz vorm Erwachen) Ich hatte einen sechsstündigen Schulaufsatz über Goethe zu schreiben. … Adorno 2018, 78
92 22. Dezember 1964 Einladung bei dem Konsul Schubert, aber nicht in dessen Prunkvilla, sondern in einer eher bescheidenen bürgerlichen Etagenwohnung, etwa wie die meines Onkels Louis auf der Eschersheimer Landstraße. … Adorno 2018, 79
93 Frankfurt, Dezember 1964 Die Welt sollte untergehen. Ich befand mich in frühester Morgendämmerung, in grauem Halbdunkel, unter einer größeren Menschenmenge auf einer Art Rampe, am Horizont Hügel. … Adorno 2018, 79-80; ebenso in Adorno 2003, 581
94 Frankfurt, Juli 1965 Mein Arzt hatte mir ein paar Furunkel aufgeschnitten. Ich träumte, er hätte ihnen auf einer Rechnung Namen gegeben. … Adorno 2018, 80
95 Frankfurt, Juli 1965 Kolisch forderte mich auf, zur Hinrichtung eines Bekannten im elektrischen Stuhl mitzukommen, als eine Art Ehrung für den Delinquenten und zugleich als Protestaktion. … Adorno 2018, 80-81
96 Frankfurt, 22. März 1966 Ich träumte, Peter Suhrkamp habe ein großes kulturkritisches Buch geschrieben – auf plattdeutsch. … Adorno 2018, 81; ebenso in Adorno 2003, 581
97 März 1966 In einer Fakultätssitzung wurde ich gebeten, hinauszugehen, weil über mich gesprochen würde. … Adorno 2018, 82
98 Rom, Oktober 1966 In Rom in einem großen schönen Hotelzimmer, mit Gretel. Mit Schrecken bemerkte ich, daß im Haus nahe gegenüber, in einem Giebeldreieck, zahllose Wesen versammelt waren, zwischen Lumpenproletarieren und Mißgeburten, etwa auch kahle Köpfe direkt mit Fangarmen, genau wie ich sie einmal als auf dem Boden mich bedrohende geträumt hatte. … Adorno 2018, 82
99 Frankfurt, Februar 1967 Ich wollte meinen juristischen Doktor machen, hatte mir auch ein Thema ausgedacht, von dem mir schien, daß es mir gemäß sei. … Adorno 2018, 83; ebenso in Adorno 2003, 581-582
100 März 1967 Träume von Toten, in denen man das Gefühl hat, daß sie einen um Hilfe bitten. … Adorno 2018, 83
101 14. April 1967 A. sagte mir: ich bin jetzt 30 Jahre alt, aber ich sehe 28 Jahre jünger aus. Adorno 2018, 83
102 Crans, 12. August 1967 Ich träumte, ich sei mit meiner 87 jährigen Mutter zusammen. Sie war, auch geistig, recht gut im Schuß, nur maßlos eigensinnig. … Adorno 2018, 84
103 27. November 1967 Ich fühlte mich sehr schlecht. Aufgewacht mit einem Sprichwort, das mir sehr tiefsinnig schien: „Nur wenn die Hunde scharf sind, sind die Einwohner treu.“ Adorno 2018, 84
104a 17. Dezember 1967 Ich hatte eine unbeschreiblich schöne und elegante Geliebte, sie erinnerte an A., hatte aber etwas von der Dame der großen Gesellschaft, ich war überaus stolz auf sie. … Adorno 2018, 84-85
104b 17. Dezember 1967 Der Mond sollte auf die Erde fallen. … Adorno 2018, 85
105 München, 28. Oktober 1968 Am Eingang zu einem Konzert traf ich mit größter Freude, aber auch großem Erstaunen, Steuermann; denn ich wußte, er war tot. … Adorno 2018, 85
106 Recklinghausen, 16. März 1969 A. kam in tiefster Nacht zu mir ins Bett. … Adorno 2018, 86
107 29. März 1969 Ich träumte, ich hätte – nach zwei Monaten des Schweigens – einen Brief von A. bekommen. … Adorno 2018, 86
108 Baden-Baden, 11. April 1969 Ich ging nachts über eine sehr großstädtische Straße, vielleicht den Kurfürstendamm. … Adorno 2018, 86
109 Baden-Baden, 12. April 1969 Ich besprach mit A. den Plan, mit ihr gemeinsam mir das Leben zu nehmen. … Adorno 2018, 87

Es sind keine Pläne Adornos bekannt, die mit dieser Sammlung vorgelegten Traumprotokolle in irgendeiner Art zu kommentieren oder eigene Deutungsversuche anzubieten (Reemtsma in Adorno 2018, 93).


Themen, Motive und Deutungen

In Adornos Traumprotokollen treten verschiedene Themen und Motive in unterschiedlichen Typen von Träumen auf, häufig in Form von Alp- oder Angstträumen oder zuweilen auch libidinösen Träumen. Häufige Themen und Motive sind, u. a. Hinrichtungen (zum Beispiel die eigene, diejenige von Bekannten oder auch Hinrichtungen anderer unter eigenem Befehl), Bordellbesuche, Examen bzw. Prüfungen, Wortspiele und kreative Sprachschöpfungen, Spott und Hohn, Wunscherfüllung und Versagung im Zusammenhang mit seiner Mutter und seiner Tante Agathe („zweite Mutter“), „Träume von Toten, in denen man das Gefühl hat, daß sie einen um Hilfe bitten“, Dinosaurier (insb. Triceratops und Ankylosaurus), übermäßiger Harndrang, Folter, Konzentrationslager, Weltuntergang und Naturkatastrophen (z. B. eine Hitzekatastrophe) oder der Tod seines Freundes und Kompositionslehrers Alban Berg (Halley 1997, 61; Stephan 2008, 9; Schünemann 2012; Reemtsma in Adorno 2018, 111ff.; Müller-Doohm 2019, 19-22).

Während Reemtsma im Nachwort zur Separatausgabe der Traumprotokolle Sinn und Unsinn des psychoanalytischen Deutens der Traumprotokolle diskutiert („Doch welcher Art wäre die Deutungskunst, die hier die normativen Vorgaben machen sollte? Die Psychoanalyse, die jedem, auch dem, der sich wer-weiß-was-für-Vorstellungen davon macht, als erste einfällt, wäre gerade, und zwar auf Grund ihrer eigenen technischen Verfahrensregeln, durchaus nicht zuständig. Die psychoanalytische Deutung eines Traums ist ein dialogischer Prozeß zwischen zwei Menschen, in dem die Mitteilung der Assoziationen desjenigen, der den Traum berichtet, eine entscheidende Rolle spielt“, Reemtsma in Adorno 2018, 108ff.), werden die Träume Adornos in verschiedenen Beiträgen dennoch unter Berücksichtigung psychoanalytischer Ansätze detaillierter gedeutet.

Exemplarisch wird im Folgenden ein Beitrag von Leithäuser näher betrachtet. Leithäuser analysiert ausführlich zwei Traumprotokolle Adornos mithilfe eines „psychoanalytisch orientierten tiefenhermeneutischen“ Textinterpretationsansatzes basierend auf der „Freudschen Deutungsmethode, wie er sie in der ‚Traumdeutung‘ und den ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse‘ sowie ‚Neue Folge der Vorlesung‘ erörtert hat.“ (Leithäuser 2007, 1 bzw. 8). Leithäuser zielt insbesondere darauf ab, den „gesellschaftlichen Gehalt“ von Adornos Träumen herauszuarbeiten. Es handelt sich dabei um die Träume Nr. 12 (Los Angeles, Ende Mai 1942: „Ich träumte, ich solle gekreuzigt werden.“, Leithäuser 2007, 9-17) und Nr. 91 (Sils-Maria, 4. September 1964: „(Kurz vorm Erwachen) Ich hatte einen sechsstündigen Schulaufsatz über Goethe zu schreiben.“, Leithäuser 2007, 17-22).

Bezüglich des ersten untersuchten Traums, einem Hinrichtungstraum, arbeitet Leithäuser unter anderem mögliche Deutungen zu den Ängsten Adornos, insbesondere seiner Todesangst im nationalsozialistischen Deutschland auf der Grundlage von enthaltenen Symbolen des beschriebenen „Kreuzigungsszenarios“ heraus: „Kreuz“ und „Hakenkreuz“, „Spaziergang durch Bockenheim“ und „Passionsweg Christi“, „Bockenheimer Warte“ und „Golgatha“ (Leithäuser 2007, 12), „Kreuzigung“ und „Hinrichtung, Mord, Vernichtung“ (Leithäuser 2007, 16). Außerdem betont er dabei zwei zentrale Mechanismen der Traumarbeit nach Freud, die bestimmend für den „manifesten Trauminhalt“ sind: die „Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder“ und „die Ersetzung ins Gegenteil“ (Leithäuser 2007, 13).

In der Deutung des zweiten untersuchten Traums, eines Prüfungstraums, beschreibt Leithäuser die Unsicherheit und Ängste Adornos, ob er fähig sei, „die Aufgabe überhaupt zu bewältigen“ (Leithäuser 2007, 20), einen sechsstündigen Schulaufsatz über Goethe zu schreiben. Adorno schreibt dazu: „Sogleich war mir bewusst, dass ich einen Komplex auszusuchen hatte und zwar den zentralen. […] Während der Arbeit ergriff mich die Angst, ob ich in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt fertig werden könnte, und ob irgendein Lehrer fähig sei, den Aufsatz zu verstehen, so daß ich eine schlechte Note bekäme. Vor lauter Angst wachte ich auf.“ (Adorno 2018, 78). Die „Traumarbeit“ Adornos greife hier „zum Mittel der Verschiebung“ und „verschiebt die Unfähigkeit auf die Lehrer“ (Leithäuser 2007, 20), was aber in diesem Traum misslinge und Adornos überwältigende Ängste nicht davon abbringen kann, ihn „vor lauter Angst“ aufzuwecken.

Die publizierte Sammlung von Adornos Traumprotokollen ermöglicht nicht nur aufgrund ihres Umfangs weitere spannende Deutungen und Interpretationen. Die vorliegende Literatur geht bisher nur auf einen überschaubaren Teil der aufgezeichneten Träume in detaillierter Form ein, weshalb sowohl für die Traum- als auch für die Adorno-Forschung noch erhebliches Erkenntnispotential aus der Betrachtung von Adornos Traumprotokollen vorliegt.

Constantin Houy

Literatur

Ausgaben

Deutsche Erstausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.

Übersetzungen:

Englische Ausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Dream Notes. Edited by Christoph Gödde and Henri Lonitz. Afterword by Jan Philipp Reemtsma. Translated by Rodney Livingstone. Cambridge, UK: Polity Press 2007.

Französische Ausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Mes rêves. Edité par Christoph Gödde et Henri Lonitz. Postfacier de Jan Philipp Reemtsma. Traduit de l’allemand par Olivier Mannoni. Paris: Stock 2007.

Italienische Ausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Sui sogni. A cura di M. Ranchetti. Tradotto da A. Cecchi. Torino: Bollati Boringhieri 2007.

Spanische Ausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Sueños. Madrid: Ediciones Akal 2014.

Verwendete Taschenbuchausgabe:

  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018.

Verwendete Ausgabe aus der Reihe der „Gesammelten Schriften“:

  • Adorno, Theodor W.: Vermischte Schriften II. Aesthetica Miscellanea. Band 20.2. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.


Forschungsliteratur und weitere zitierte Literatur

  • Fukuda, Daisuke: Epiphanies of the Other in Adorno’s nightmares. The sinthome in Traumprotokolle. In: Savoirs et Clinique 25 (2018) 2, 34-42., sowie die später datierte bzw. erschienene französische Übersetzung mit folgenden bibliographischen Angaben: Fukuda, Daisuke: Épiphanies de l'Autre dans les cauchemars de Theodor W. Adorno. La lecture du sinthome dans les Traumprotokolle. In: Savoirs et Clinique 25 (2019) 1, 34-42.
  • Garcia Alves Júnior, Douglas: Os sonhos de Adorno. In: Argumentos 8 (2016) 16, 21-28.
  • Gödde, Christoph und Lonitz, Henri: Editorische Nachbemerkung. In: Adorno, Theodor W. (2018): Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018, 88-89.
  • Gritzner, Karoline: Thoughts Which Do Not Understand Themselves: On Adorno's Dream Notes. In: Daddario, Will und Gritzner, Karoline (Hrsg.): Adorno and Performance. London: Palgrave Macmillan 2014, 38-52.
  • Halley, Anne: Theodor W. Adorno’s Dream Transcripts. In: The Antioch Review 55 (1997) 1, 57-74.
  • Leithäuser, Thomas: Adornos Träume. In: Journal für Psychologie 15 (2007) 3, 1-24.
  • Müller-Doohm, Stefan: Traumprotokolle. In: Klein, Richard; Kreuzer, Johann; Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2019, 19-22.
  • Reemtsma, Jan Philipp: Nachwort. In: Adorno, Theodor W. (2018): Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018, 91-120.
  • Schünemann, Axel: "Das ist gar nicht er selbst" – Theodor W. Adorno träumt den Weltuntergang (Werner Heisenberg kommentiert). 2012. Online (letzter Abruf: 15.07.2021): http://www.axel-schuenemann.de/texte/heisenbergkommentiert.pdf
  • Stephan, Inge: Einleitung. Literatur – Traum – Film. Zeitschrift für Germanistik 18 (2008) 1, 7-10.

Rezensionen


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Houy, Constantin: "Traumprotokolle" (Theodor W. Adorno). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2021; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno).