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: <span style="color: #7b879e;">Erklang die Nacht... (Rilke 1955, Bd. 1, 88)</span>
 
: <span style="color: #7b879e;">Erklang die Nacht... (Rilke 1955, Bd. 1, 88)</span>
 
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In dem Gedicht, das aus zwei jambischen Vierzeilern im Kreuzreim besteht, geht es um eine nächtliche Begegnung zwischen dem lyrischen Ich und einer geliebten Person. Diese wird im Gedicht direkt vom lyrischen Ich angesprochen, um ihr rückblickend die Eindrücke von dieser Begegnung zwischen Traum- und Wachwelt mitzuteilen, die in der Nacht nach dem „Tag der weißen Chrysanthemen“ stattfand. Chrysanthemen gelten sowohl als Blumen, mit denen nach einer alten englischen Tradition ein Liebesgeständnis verbunden sein kann, als auch als solche, die insbesondere in der Farbe Weiß mit dem Tod und Trauerfeierlichkeiten assoziiert sind. Ob es sich bei dem „Tag der weißen Chrysanthemen“ innerhalb des Gedichtes um den Tag einer Trauerfeier oder gar um das christliche Fest Allerheiligen handelt, wird in der Literatur diskutiert. Themen und mitschwingende Emotionen des Gedichtes sind ein diffuses Bangen des lyrischen Ich vor der „schweren Pracht“ des angesprochenen Tages bzw. der Trauerfeier, der Tod sowie die Liebe zwischen den beiden Personen, die in der ersten Strophe noch mit dem „Nehmen der Seele“ assoziiert ist - einem zunächst scheinbar gewaltsamen Akt, der sich in der zweiten Strophe jedoch als tröstend und liebevoll erweist. Insbesondere gegen Ende herrscht im Gedicht eine positive, fast gelöste Stimmung vor, die zum „Erklingen der Nacht als Märchenweise“ zwischen Wachwelt und Traum hin- und herschwingt.
 
In dem Gedicht, das aus zwei jambischen Vierzeilern im Kreuzreim besteht, geht es um eine nächtliche Begegnung zwischen dem lyrischen Ich und einer geliebten Person. Diese wird im Gedicht direkt vom lyrischen Ich angesprochen, um ihr rückblickend die Eindrücke von dieser Begegnung zwischen Traum- und Wachwelt mitzuteilen, die in der Nacht nach dem „Tag der weißen Chrysanthemen“ stattfand. Chrysanthemen gelten sowohl als Blumen, mit denen nach einer alten englischen Tradition ein Liebesgeständnis verbunden sein kann, als auch als solche, die insbesondere in der Farbe Weiß mit dem Tod und Trauerfeierlichkeiten assoziiert sind. Ob es sich bei dem „Tag der weißen Chrysanthemen“ innerhalb des Gedichtes um den Tag einer Trauerfeier oder gar um das christliche Fest Allerheiligen handelt, wird in der Literatur diskutiert. Themen und mitschwingende Emotionen des Gedichtes sind ein diffuses Bangen des lyrischen Ich vor der „schweren Pracht“ des angesprochenen Tages bzw. der Trauerfeier, der Tod sowie die Liebe zwischen den beiden Personen, die in der ersten Strophe noch mit dem „Nehmen der Seele“ assoziiert ist - einem zunächst scheinbar gewaltsamen Akt, der sich in der zweiten Strophe jedoch als tröstend und liebevoll erweist. Insbesondere gegen Ende herrscht im Gedicht eine positive, fast gelöste Stimmung vor, die zum „Erklingen der Nacht als Märchenweise“ zwischen Wachwelt und Traum hin- und herschwingt.
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Zur persönlichen Auslegung und Verwendung des Gedichts durch Alban Berg in seinem Lied ''Traumgekrönt'' lassen sich zwei Briefe Bergs an seine spätere Ehefrau Helene heranziehen, anhand derer der Text eindeutig als Liebesgedicht interpretiert werden kann.<ref>Die Briefstellen sind zitiert nach Dopheide (1990, 235-236, eigentlich aus Berg 1965, 14 f.).</ref>
 
Zur persönlichen Auslegung und Verwendung des Gedichts durch Alban Berg in seinem Lied ''Traumgekrönt'' lassen sich zwei Briefe Bergs an seine spätere Ehefrau Helene heranziehen, anhand derer der Text eindeutig als Liebesgedicht interpretiert werden kann.<ref>Die Briefstellen sind zitiert nach Dopheide (1990, 235-236, eigentlich aus Berg 1965, 14 f.).</ref>
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Brief vom 15. August 1907:
   
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: <span style="color: #7b879e;>„Verehrte Helene! Was war das gestern für ein Tag! Es war um die Mittagszeit, ich komponierte grad, es fehlten nur mehr einige Takte zur Vollendung: da brachte man mir Deinen Brief! „Endlich“, jubelte es in mir – – ich wollte ihn öffnen, da fiel mein Blick auf das Lied, und da kam’s wie eine Selbstzüchtigung über mich – uneröffnet legte ich Deinen Brief weg, so unglaublich es klingen mag – und vollendete pochenden Herzens das Lied: Das war der Tag der weißen Chrysanthemen […].</span>
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: <span style="color: #7b879e;>Verehrte Helene! Was war das gestern für ein Tag! Es war um die Mittagszeit, ich komponierte grad, es fehlten nur mehr einige Takte zur Vollendung: da brachte man mir Deinen Brief! „Endlich“, jubelte es in mir – – ich wollte ihn öffnen, da fiel mein Blick auf das Lied, und da kam’s wie eine Selbstzüchtigung über mich – uneröffnet legte ich Deinen Brief weg, so unglaublich es klingen mag – und vollendete pochenden Herzens das Lied: Das war der Tag der weißen Chrysanthemen (Brief vom 15. August 1907).</span>
 
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Brief (ohne Datum) aus dem Herbst 1907:
   
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: <span style="color: #7b879e;>„Wahrlich, Helene, Teuerste, Liebste: Mir bangte fast vor der Pracht des gestrigen Glücks – – Ich habe Dich geküßt! Ich mußte meine Lippen mit den Deinigen vereinigen, den so gebot eine Macht in mir […] / So lieb ich Dich!! Einzige – – – / Fassungslos, wie trunken wankte ich nachhaus, das eine nur fühlend, wie Deine holde Hand meine Seele streichelte – in Seligkeit wiegend – und auf den Lippen den herrlichsten der Küsse heimwärts tragend – – ‚Und leis‘ wie eine Märchenweise – Erklang die Nacht.‘“</span>
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: <span style="color: #7b879e;>Wahrlich, Helene, Teuerste, Liebste: Mir bangte fast vor der Pracht des gestrigen Glücks – – Ich habe Dich geküßt! Ich mußte meine Lippen mit den Deinigen vereinigen, den so gebot eine Macht in mir […] / So lieb ich Dich!! Einzige – – – / Fassungslos, wie trunken wankte ich nachhaus, das eine nur fühlend, wie Deine holde Hand meine Seele streichelte – in Seligkeit wiegend – und auf den Lippen den herrlichsten der Küsse heimwärts tragend – – „Und leis‘ wie eine Märchenweise – Erklang die Nacht“ (undatierter Brief aus dem Herbst 1907).</span>
 
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Diesen Ausführungen folgend liegt Bergs Vertonung somit Rilke intendierte Darstellung einer „Liebesnacht“ zugrunde, deren Stimmung zwischen Wach- und Traumwelt sowie in neuromantischer Manier zwischen Liebe und Tod oszilliert. Dopheide (1990, 237) schreibt dazu treffend:
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Diesen Ausführungen folgend liegt Bergs Vertonung somit Rilke intendierte Darstellung einer „Liebesnacht“ zugrunde, deren Stimmung zwischen Wach- und Traumwelt sowie in neuromantischer Manier zwischen Liebe und Tod oszilliert. Dopheide schreibt dazu treffend:
 
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: <span style="color: #7b879e;>„Durch seinen ‚Empfindungsinhalt‘ und seinen ursprünglichen Titel Liebesnacht steht das Gedicht in einer Tradition von Liebesgedichten, die die Nacht als Zeit der Liebe besingen. […] In der zweiten Strophe erinnert vieles an die Romantik, die Formel „lieb und leise“ z. B. an das Volkslied. Worte und Bilder der ersten Strophe aber und die sich aus und an ihnen entwickelnden Assoziationen führen in die Vorstellungswelt der Jahrhundertwende: der Neuromantik und des Jugendstils. Das Bild „Tag der weißen Chrysanthemen“ z. B. öffnet einen atmosphärischen Raum, in dem Lichtfülle und schon ersterbendes Licht (Herbst), Lebensfülle – vielleicht schon Überfülle („schwere Pracht“ – und Todesgedanken („weiße Chrysanthemen“) sich verbinden, einander durchdringen. Ein solcher Tag ist ein Tag von noch hinreißender und doch schon müder, todgetroffener Schönheit.</span>
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: <span style="color: #7b879e;>„Durch seinen ‚Empfindungsinhalt‘ und seinen ursprünglichen Titel Liebesnacht steht das Gedicht in einer Tradition von Liebesgedichten, die die Nacht als Zeit der Liebe besingen. […] In der zweiten Strophe erinnert vieles an die Romantik, die Formel „lieb und leise“ z. B. an das Volkslied. Worte und Bilder der ersten Strophe aber und die sich aus und an ihnen entwickelnden Assoziationen führen in die Vorstellungswelt der Jahrhundertwende: der Neuromantik und des Jugendstils. Das Bild „Tag der weißen Chrysanthemen“ z. B. öffnet einen atmosphärischen Raum, in dem Lichtfülle und schon ersterbendes Licht (Herbst), Lebensfülle – vielleicht schon Überfülle („schwere Pracht“) – und Todesgedanken („weiße Chrysanthemen“) sich verbinden, einander durchdringen. Ein solcher Tag ist ein Tag von noch hinreißender und doch schon müder, todgetroffener Schönheit“ (Dopheide 1990, 237).</span>
 
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Adorno (2003c, 387) betont darüber hinaus, „wie edel dies Ich in Traumgekrönt sein Glück begehrt, noch vertrauend auf Erfüllung, ehe es in die Lyrik von Schlaf und Tod als in ein Land sich versenkt, wohin keine mehr ‚lieb und leise‘ eintritt, an die im Traum gedacht war.“
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Adorno betont darüber hinaus, „wie edel dies Ich in Traumgekrönt sein Glück begehrt, noch vertrauend auf Erfüllung, ehe es in die Lyrik von Schlaf und Tod als in ein Land sich versenkt, wohin keine mehr ‚lieb und leise‘ eintritt, an die im Traum gedacht war“ (Adorno 2003c, 387)
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An Rilkes Text hat Berg bei seiner Komposition eine Veränderung vorgenommen. In der zweiten Verszeile streicht er „schweren“ und schreibt: „mir bangte fast vor seiner Pracht“, was mit Bergs musikalischer Vertonung der psychologischen Vorgänge um das „bange Gefühl“ begründet werden kann (Dopheide 1990, 239-240). Im Folgenden werden nun insbesondere traumrelevante musikalische Aspekte betrachtet.
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An Rilkes Text hat Berg bei seiner Komposition eine Veränderung vorgenommen. In der zweiten Verszeile streicht er „schweren“ und schreibt: „mir bangte fast vor seiner Pracht“, was mit seiner Vertonung der psychologischen Vorgänge um das „bange Gefühl“ begründet werden kann (Dopheide 1990, 239-240). Im Folgenden werden nun insbesondere traumrelevante musikalische Aspekte betrachtet.
       
==Traumrelevante analytische Betrachtungen zur Musik==
 
==Traumrelevante analytische Betrachtungen zur Musik==
Das bezüglich des Textes festgestellte Schweben zwischen Wach- und Traumwelt greift Alban Berg auch hinsichtlich der Musik auf, mit der er das Rilke-Gedicht vertont. Vorausgesetzt, man fasst Träume als etwas Erzählbares auf, dann weisen Träume typischerweise Charakteristika auf, die in traumartigen erzählenden Kunstwerken aufgegriffen werden können, um eine Traumästhetik umzusetzen (vgl. hierzu und im Folgenden Kreuzer 2014, 82-89). Auf der stofflich-inhaltlichen Ebene handelt es sich dabei z. B. um plötzliche Ortswechsel oder Zeitsprünge („räumliche und zeitliche Relativität“), die „Instabilität von Identitäten“ bei Subjekten oder Objekten, d. h. z. B. das Auftreten von Metamorphosen bei Menschen, Tieren oder Dingen, die „Aufhebung von Natur- oder Kausalgesetzen“ oder das Auftreten von „logischen Brüchen und Irritationen“. Auf der darstellerisch-formalen Ebene handelt es sich um „Diskontinuitäten in der Entfaltung des Geschehens“, „fehlende Kohärenz in der Darstellung“, „unzuverlässiges und unentscheidbares Erzählen“ sowie eine mögliche „Multiperspektivität“ einer Traumerzählung, die als ein „Spezialfall formaler Diskontinuitäten sowie fehlender Kohärenz von Traumdarstellungen“ angesehen werden kann (Kreuzer 2014, 87-88). Alban Berg bedient sich bei der Vertonung des Rilke-Gedichtes verschiedener dieser Eigenschaften von Traumdarstellungen und setzt diese musikalisch um.
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Das bezüglich des Textes festgestellte Schweben zwischen Wach- und Traumwelt greift Alban Berg auch in der Musik auf. Fasst man Träume als etwas Erzählbares auf, dann weisen sie typischerweise Charakteristika auf, die in traumartigen erzählenden Kunstwerken aufgegriffen werden können, um eine Traumästhetik umzusetzen (vgl. Kreuzer 2014, 82-89). Auf der stofflich-inhaltlichen Ebene handelt es sich dabei z.B. um plötzliche Ortswechsel oder Zeitsprünge („räumliche und zeitliche Relativität“), die „Instabilität von Identitäten“ bei Subjekten oder Objekten, d.h. z.B. das Auftreten von Metamorphosen bei Menschen, Tieren oder Dingen, die „Aufhebung von Natur- oder Kausalgesetzen“ oder das Auftreten von „logischen Brüchen und Irritationen“. Auf der darstellerisch-formalen Ebene handelt es sich um „Diskontinuitäten in der Entfaltung des Geschehens“, „fehlende Kohärenz in der Darstellung“, „unzuverlässiges und unentscheidbares Erzählen“ sowie eine mögliche „Multiperspektivität“ einer Traumerzählung, die als ein „Spezialfall formaler Diskontinuitäten sowie fehlender Kohärenz von Traumdarstellungen“ angesehen werden kann (Kreuzer 2014, 87-88). Alban Berg bedient sich bei der Vertonung des Rilke-Gedichtes verschiedener dieser Eigenschaften von Traumdarstellungen und setzt diese musikalisch um.
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Bezüglich der äußeren Form gestaltet Berg seine Vertonung kongruent zur einfachen zweistrophigen Anlage des Rilke-Gedichtes (Balduf-Adams 2008, 274). Das Lied umfasst 30 Takte und ist ungefähr in der Mitte, genauer gesagt in Takt 14, in zwei Teile aufgeteilt (A + A’), wobei die Musik des zweiten Teils (A’) eine Variation der Musik des ersten Teils (A) darstellt und der zweite Teil (A’) durch eine angefügte Coda etwas länger ist als der erste (Stenzl 1991, 84). Beide Teile sind nochmals, ebenso ungefähr in der Mitte, in zwei verschiedene Unterabschnitte unterteilt (A --> a+b, A’ --> a’+b’). Diese formalen Abschnitte werden von Berg insbesondere durch Tempoangaben zu Beginn der Abschnitte sowie durch die an die Enden der Abschnitte gestellten ''ritardandi'' markiert. Die folgende Formübersicht stammt aus der empfehlenswerten musikalischen Analyse des Stückes aus der Dissertationsschrift von Lisa A. Lynch zu Alban Bergs frühen Liedern aus dem Jahr 2014, die insbesondere auf die Motivik, die Harmonik, die Bewegtheit der Klavierpassagen sowie die Beschaffenheit der Gesangsphrasen fokussiert ist (Lynch 2014).
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Bezüglich der äußeren Form gestaltet Berg seine Vertonung kongruent zur einfachen zweistrophigen Anlage des Rilke-Gedichtes (Balduf-Adams 2008, 274). Das Lied umfasst 30 Takte und ist ungefähr in der Mitte, genauer gesagt in Takt 14, in zwei Teile aufgeteilt (A + A’), wobei die Musik des zweiten Teils (A’) eine Variation der Musik des ersten Teils (A) darstellt und der zweite Teil (A’) durch eine angefügte Coda etwas länger ausfällt als der erste (Stenzl 1991, 84). Beide Teile sind nochmals, ebenfalls ungefähr in der Mitte, in zwei verschiedene Unterabschnitte unterteilt (A --> a+b, A’ --> a’+b’). Diese formalen Abschnitte werden von Berg insbesondere durch Tempoangaben zu Beginn der Abschnitte sowie durch die an die Enden der Abschnitte gestellten ''ritardandi'' markiert. Die folgende Formübersicht stammt aus der empfehlenswerten musikalischen Analyse des Stückes aus der Dissertation von Lisa A. Lynch, die insbesondere auf die Motivik, die Harmonik, die Bewegtheit der Klavierpassagen sowie die Beschaffenheit der Gesangsphrasen fokussiert ist (Lynch 2014).
    
[[Datei:1 Berg Traumgekroent.jpg|rahmenlos|1000x1000px]]
 
[[Datei:1 Berg Traumgekroent.jpg|rahmenlos|1000x1000px]]
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Abbildung 1: Form von Traumgekrönt, in Anlehnung an Lynch 2014, 62 (mit mehreren Korrekturen bezüglich der Taktzahlen).
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Abbildung 1: Form von ''Traumgekrönt'', in Anlehnung an Lynch 2014, 62 (mit mehreren Korrekturen bezüglich der Taktzahlen).
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Gemäß der Analyse von Lynch zeigt sich, dass innerhalb des Stückes ein ständiges Abwechseln, gar ein Wechselspiel, hinsichtlich verschiedener musikalischer Gestaltungsparameter stattfindet, wie z. B. bzgl. des vorherrschenden harmonischen Zentrums, der verwendeten musikalischen Motive, bzgl. des Vorherrschens von diatonischer im Gegensatz zu chromatischer Harmonik (vgl. dazu auch Butu 2020, 211) oder auch bzgl. der Bewegtheit des Notensatzes im Klavier sowie die Länge der Phrasen im Gesangsvortrag. Mit diesem Wechselspiel, das verschiedene musikalische Materialien betrifft, bildet Alban Berg das Schweben zwischen Wach- und Traumwelt, welche auch den Rilke-Text bestimmt, analog musikalisch ab. Beispielsweise ist im Hinblick auf die Motivik das, „was in der ersten Strophe zu den ersten beiden Versen der Hauptstimme Begleitung war, [.] zu Beginn der zweiten [Strophe] Gesang [wird] – und umgekehrt“ (Stenzl 1991, 84), das im Folgenden noch näher betrachtete ''Motiv a''. Alban Berg kann so das bereits erwähnte Wechselspiel zwischen den ,Welten‘ anhand der Verwendung nahezu identischen musikalischen Materials in ,der jeweils anderen Welt‘ herbeiführen, was gleichzeitig durch die unvermittelten Übergänge einen traumartigen Klangeindruck, d. h. eine musikalische Traumästhetik erzeugen kann, aber gleichzeitig auch durch die konsequente Handhabung des musikalischen Materials die notwendige Kohärenz innerhalb des Stückes herstellt. Die hier verfolgte Grundidee, moderne Kunstwerke aus einer Traumlogik zu begründen und den Traum als ein Prinzip der formalen Gestaltung moderner Kunst einzusetzen, geht auf Charles Baudelaire zurück und spielt nicht nur in der modernen Dichtung und Literatur, wie z. B. bei Lautréamont oder Lewis Carroll (Lenk 1976), sondern auch in der modernen Musik eine Rolle (Stenzl 1991, 64-65; Stenzl 1996, 129). Das oben bereits angedeutete Wechselspiel im Umgang mit dem musikalischen Material in Alban Bergs ''Traumgekrönt'' entspricht ebendieser Idee, Formelemente der Musik traumartig zu konfigurieren und so den musikalischen Effekt des Hin- und Herwechselns zwischen Traum- und Wachwelt musikalisch zu fassen.
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Gemäß der Analyse von Lynch zeigt sich, dass innerhalb des Stückes ein ständiges Abwechseln, gar ein Wechselspiel, hinsichtlich verschiedener musikalischer Gestaltungsparameter stattfindet, z.B. bezüglich des vorherrschenden harmonischen Zentrums, der verwendeten musikalischen Motive, des Vorherrschens von diatonischer im Gegensatz zu chromatischer Harmonik (vgl. dazu auch Butu 2020, 211) oder auch der Bewegtheit des Notensatzes im Klavier sowie die Länge der Phrasen im Gesangsvortrag. Mit diesem Wechselspiel, das verschiedene musikalische Materialien betrifft, bildet Alban Berg das Schweben zwischen Wach- und Traumwelt, das auch den Rilke-Text bestimmt, analog musikalisch ab. Beispielsweise ist im Hinblick auf die Motivik das, „was in der ersten Strophe zu den ersten beiden Versen der Hauptstimme Begleitung war, [.] zu Beginn der zweiten [Strophe] Gesang [wird] – und umgekehrt“ (Stenzl 1991, 84), das im Folgenden noch näher betrachtete ''Motiv a''. Alban Berg kann so das bereits erwähnte Wechselspiel zwischen den ,Welten‘ anhand der Verwendung nahezu identischen musikalischen Materials in ,der jeweils anderen Welt‘ herbeiführen, was gleichzeitig durch die unvermittelten Übergänge einen traumartigen Klangeindruck, d. h. eine musikalische Traumästhetik erzeugen kann, aber gleichzeitig auch durch die konsequente Handhabung des musikalischen Materials die notwendige Kohärenz innerhalb des Stückes herstellt. Die hier verfolgte Grundidee, moderne Kunstwerke aus einer Traumlogik zu begründen und den Traum als ein Prinzip der formalen Gestaltung moderner Kunst einzusetzen, geht auf Charles Baudelaire zurück und spielt nicht nur in der modernen Dichtung und Literatur, wie z. B. bei Lautréamont oder Lewis Carroll (Lenk 1976), sondern auch in der modernen Musik eine Rolle (Stenzl 1991, 64-65; Stenzl 1996, 129). Das oben bereits angedeutete Wechselspiel im Umgang mit dem musikalischen Material in Alban Bergs ''Traumgekrönt'' entspricht eben dieser Idee, Formelemente der Musik traumartig zu konfigurieren und so den musikalischen Effekt des Hin- und Herwechselns zwischen Traum- und Wachwelt musikalisch zu fassen.
    
In ''Traumgekrönt'', einer der letzten Kompositionen Bergs, die vorwiegend durch Dur-Moll-Tonalität geprägt sind (Archibald 1995, 100), herrscht, obwohl Berg mit den vom ihm notierten Vorzeichen die Tonart ''g-Moll'' signalisiert, weder eine eindeutige Tonart, noch ein klares tonales Zentrum vor (Lynch 2014, 5). Das Stück ist zwischenzeitlich sowohl deutlich von chromatischen Entwicklungen als auch von der Verwendung von Ganztonleitern bestimmt und oszilliert zwischen verschiedenen Tonarten (u. a. ''g-Moll'', ''Fes-'' bzw. ''F-Dur'', ''a-Moll'' etc., vgl. für Details Lynch 2014, 62), ohne jedoch eine Tonart stark bzw. klar und deutlich, z. B. durch eindeutige Kadenzen zur Tonika, zu bestätigen. Diese harmonische Ambiguität und der somit musikalisch simulierte Schwebezustand korrespondieren ebenso mit Anlage und Inhalt von Rilkes traumartigem Gedicht (Lynch 2014, 61).
 
In ''Traumgekrönt'', einer der letzten Kompositionen Bergs, die vorwiegend durch Dur-Moll-Tonalität geprägt sind (Archibald 1995, 100), herrscht, obwohl Berg mit den vom ihm notierten Vorzeichen die Tonart ''g-Moll'' signalisiert, weder eine eindeutige Tonart, noch ein klares tonales Zentrum vor (Lynch 2014, 5). Das Stück ist zwischenzeitlich sowohl deutlich von chromatischen Entwicklungen als auch von der Verwendung von Ganztonleitern bestimmt und oszilliert zwischen verschiedenen Tonarten (u. a. ''g-Moll'', ''Fes-'' bzw. ''F-Dur'', ''a-Moll'' etc., vgl. für Details Lynch 2014, 62), ohne jedoch eine Tonart stark bzw. klar und deutlich, z. B. durch eindeutige Kadenzen zur Tonika, zu bestätigen. Diese harmonische Ambiguität und der somit musikalisch simulierte Schwebezustand korrespondieren ebenso mit Anlage und Inhalt von Rilkes traumartigem Gedicht (Lynch 2014, 61).
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Ein weiterer, musikalisch bedeutsamer Bezugspunkt, welcher die traumartige Anlage des Stücks bestimmt, liegt in der Motivik, die sich insgesamt aus wenigen musikalischen Keimzellen entwickelt (Adorno 2003e, 106; Dopheide 1990, 238f., Lynch 2014, 61 und 104; Butu 2020, 211,). Von besonderer Bedeutung ist ein kurzes viertöniges Motiv, welches direkt zu Beginn des Stücks im Klavier erklingt. Berg verwendet diese wenigen zentralen Motive in zahlreichen unterschiedlichen Variationen und Formen, was zu einer intensiven motivischen Sättigung und hohen musikalischen Dichte des Stückes führt (Lynch 2014, 13), weshalb es auch als „kompositorisch wohl reifste[s] und geformteste[s]“ der frühen Lieder Bergs gilt (Adorno 2003e, 105-106). Adorno sieht das Lied außerdem als „in der Auseinandersetzung mit Schönbergs Kammersymphonie, als weit geförderte Vorstudie zur Sonate“ (Adorno 2003c, 386), Bergs als op. 1 ausgezeichnete Klaviersonate. Später präzisiert Adorno hinsichtlich der motivischen Arbeit im Stück (2003d, 470):
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Ein weiterer, musikalisch bedeutsamer Bezugspunkt, welcher die traumartige Anlage des Stücks bestimmt, liegt in der Motivik, die sich insgesamt aus wenigen musikalischen Keimzellen entwickelt (Adorno 2003e, 106; Dopheide 1990, 238f., Lynch 2014, 61 und 104; Butu 2020, 211,). Von besonderer Bedeutung ist ein kurzes viertöniges Motiv, welches direkt zu Beginn des Stücks im Klavier erklingt. Berg verwendet diese wenigen zentralen Motive in zahlreichen unterschiedlichen Variationen und Formen, was zu einer intensiven motivischen Sättigung und hohen musikalischen Dichte des Stückes führt (Lynch 2014, 13), weshalb es auch als „kompositorisch wohl reifste[s] und geformteste[s]“ der frühen Lieder Bergs gilt (Adorno 2003e, 105-106). Adorno sieht das Lied außerdem als „in der Auseinandersetzung mit Schönbergs Kammersymphonie, als weit geförderte Vorstudie zur Sonate“ (Adorno 2003c, 386), Bergs als op. 1 ausgezeichnete Klaviersonate. Später präzisiert Adorno hinsichtlich der motivischen Arbeit im Stück :
    
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: <span style="color: #7b879e;>„Das Rilke-Lied ''Traumgekrönt'' ist das reifste Stück der Sammlung [der sieben frühen Lieder], technisch mit der Verarbeitung thematischer Reste und Modelle, den vielfachen, äußerst ökonomischen Vergrößerungen und Verkleinerungen bereits an der Erfahrung von Schönbergs Kammersymphonie gewachsen, dabei mit Glanz und Staunen einer Jünglingswelt im Ton, die musikalisch selten je sich fand.</span>
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: <span style="color: #7b879e;>„Das Rilke-Lied ''Traumgekrönt'' ist das reifste Stück der Sammlung [der sieben frühen Lieder], technisch mit der Verarbeitung thematischer Reste und Modelle, den vielfachen, äußerst ökonomischen Vergrößerungen und Verkleinerungen bereits an der Erfahrung von Schönbergs Kammersymphonie gewachsen, dabei mit Glanz und Staunen einer Jünglingswelt im Ton, die musikalisch selten je sich fand“ (Adorno 2003d, 470).</span>
 
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