"Traumprotokolle" (Theodor W. Adorno)

Aus Lexikon Traumkultur
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Die Traumprotokolle von Theodor W. Adorno (1903-1969) sind eine Sammlung von mehr als einhundert ausgewĂ€hlten Traumaufzeichnungen, die dieser in der Zeit zwischen Januar 1934 und April 1969 angefertigt hat. Adorno plante bereits zu Lebzeiten die Publikation einer Reihe von Traumprotokollen, u.a. um einen Überblick ĂŒber motivische ZusammenhĂ€nge seiner TrĂ€ume geben zu können (Gödde/Lonitz 2018, 88). Die Traumprotokolle halten persönliche Traumbilder und Traumsituationen Adornos fest, die sich sowohl psychoanalytisch deuten lassen wie auch im Kontext der Ă€ußeren LebensumstĂ€nde bzw. der Biografie Adornos, z. B. der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland, der Exilzeit zunĂ€chst in England (Oxford und London), den USA (New York und Los Angeles) und der RĂŒckkehr in das Nachkriegsdeutschland. Die Traumprotokolle sind allerdings aufgrund der „bewussten Auswahl“ und ihres komponierten „Arrangements“ auch als eine „eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse“ und eher als die „Selbstinszenierung emotionaler Befindlichkeiten“ des Autors zu verstehen als ein „sich gĂ€nzlich Offenbaren oder Preisgeben“ (MĂŒller-Doohm 2019, 19).


Entstehung und erste Veröffentlichungen

Adornos philosophisches und soziologisches Werk schließt, wie auch die Arbeiten anderer Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule, an die Tradition Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Karl Marx‘ und Sigmund Freuds an. Adorno maß vor dem Hintergrund der Denktradition Freuds dem TrĂ€umen und den Trauminhalten besondere Bedeutung bei. PlĂ€ne, seine Traumaufzeichnungen zu veröffentlichen, insbesondere drei „TrĂ€ume in Amerika“ (vom 30.12.1940, vom 22.05.1941 und aus dem Januar 1942) hielt Adorno im Laufe des Jahres 1942 fest (Reemtsma 2018, 91). Publiziert wurden die drei amerikanischen Traumprotokolle dann bereits im Oktober 1942 in der in New York erscheinenden deutschsprachigen Wochenzeitschrift Aufbau, welche vor allem die Gemeinschaft der in die USA immigrierten Deutschsprechenden adressierte (Halley 1997, 60; MĂŒller-Doohm 2019, 19). Adorno notierte zur Bedeutung von TrĂ€umen und dem Vorhaben, seine eigenen TrĂ€ume umfassend zu dokumentieren und ausgewĂ€hlte TrĂ€ume in einer umfangreicheren Sammlung zu publizieren, Anfang Januar 1956 folgende Gedanken (Gödde/Lonitz 2018, 88):

Gewisse Traumerfahrungen geben mir Anlaß zu vermuten, daß das Individuum den eigenen Tod als kosmische Katastrophe erlebt (T 88).
Unsere TrĂ€ume sind nicht nur als 'unsere' untereinander verbunden, sondern bilden auch ein Kontinuum, gehören einer einheitlichen Welt an, so etwa wie alle ErzĂ€hlungen von Kafka in 'Demselben' spielen. Je enger aber TrĂ€ume untereinander zusammenhĂ€ngen oder sich wiederholen, um so grĂ¶ĂŸer die Gefahr, daß wir sie von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können (T 88).

Eine erste grĂ¶ĂŸere Sammlung und Auswahl von neunzehn Traumprotokollen aus dem Zeitraum 1937 bis 1967 wurde 1986 postum in den von Rolf Tiedemann herausgegebenen Gesammelten Schriften veröffentlicht. Die Auswahl traf Adorno allerdings selbst bereits im Jahr 1968; er wĂ€hlte die neunzehn Traumprotokolle „aus einem umfangreichen Typoskriptkonvolut fĂŒr eine Publikation [
], die dann nicht zustande kam“ aus (Reemtsma 2018, 91). Die Freigabe zur Publikation der ausgewĂ€hlten Traumprotokolle hatte Adorno seinem Verleger Siegfried Unseld 1968 erteilt (MĂŒller-Doohm 2019, 19). Seine Auswahlkriterien fĂŒr hat Adorno selbst nicht expliziert. Halley stellt dazu die folgenden spannenden Fragen: „were these dreams typical, for instance, or representative of the others? Or might they have been livelier, more literary, clearer in visual imagery, less or more revealing, possibly even more or less embarrassing than those he chose to omit? Did the chosen dreams seem to him penetrable – their latent as well as manifest content available to an analyst? to an ordinary reader? to his friends and colleagues?“ (Halley 1997, 61).

Als Vorbemerkung zu der Auswahl der neunzehn Traumprotokolle formulierte Adorno selbst noch den folgenden Hinweis, welcher den Protokollen in den Gesammelten Schriften vorangestellt wurde (Adorno 2003, 572; T 88): „Die Traumprotokolle, aus einem umfangreichen Bestand ausgewĂ€hlt, sind authentisch. Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und fĂŒr die Publikation nur die empfindlichsten sprachlichen MĂ€ngel korrigiert. T.W.A.“

BezĂŒglich des „umfangreichen“ Bestandes notieren Gödde und Lonitz in der „Editorischen Nachbemerkung“ zur Separatausgabe von 2005: „‘Ein umfangreicher Bestand‘ meint nicht nur die große Zahl der in den NotizbĂŒchern aufbewahrten TrĂ€ume, sondern auch ein Konvolut, das aus diesen von Gretel Adorno diplomatisch getreu abgeschrieben wurde“ (Gödde/Lonitz 2018, 88). Das hier erwĂ€hnte „Konvolut“ bzw. die von Reemtsma als umfangreiches „Typoskriptkonvolut“ bezeichnete Sammlung von mehr als einhundert Traumaufzeichnungen (Reemtsma 2018, 91) ist die Grundlage der 2005 erstmals erschienenen Separatausgabe der Traumprotokolle. MĂŒller-Doohm spricht auch bezĂŒglich der dort publizierten grĂ¶ĂŸeren Auswahl, zu der Adorno ebenso keine Auswahlkriterien expliziert hat, von einem „geringen Teil“ der von Adorno tatsĂ€chlich notierten TrĂ€ume (MĂŒller-Doohm 2019, 19).

Zur Entwicklung des Typoskriptkonvoluts ist bekannt, dass Gretel Adorno die ausgewĂ€hlten handschriftlichen Notizen Adornos maschinenschriftlich erfasst hat, bevor dieser die erwĂ€hnten geringfĂŒgigen Korrekturen angebracht hat (Reemtsma 2018, 91). Gödde und Lonitz weisen auf zwei Transkriptionsfehler in der Ausgabe der Traumprotokolle in den Gesammelten Schriften hin (Gödde/Lonitz 2018, 89). Durch diese sind chronologische Verschiebungen bzw. eine leicht abweichende Reihenfolge in den Gesammelten Schriften im Vergleich zur Separatausgabe entstanden.


Adornos Traumprotokolle in der Separatausgabe

Die Traumprotokolle lassen sich jeweils mithilfe ihrer Überschriften, welche chronologisch sortiert sind und in der Regel Ort und Datum der jeweiligen Aufzeichnung festhalten, eindeutig identifizieren. Folgende Liste prĂ€sentiert sĂ€mtliche in der Separatausgabe publizierten Traumprotokolle und umfasst 109 EintrĂ€ge. Dies ist die Anzahl der jeweiligen TraumprotokollĂŒberschriften mit Ort und Datum. In fĂŒnf FĂ€llen notierte Adorno allerdings jeweils zwei TrĂ€ume verschiedenen Inhalts unter einer Überschrift bzw. zu einem Eintragsdatum: Oxford, 10. MĂ€rz 1937 (T 8), Los Angeles, 6. Oktober 1945 (T 47), Los Angeles, 14. MĂ€rz 1948 (T 54), Frankfurt, Ende Dezember 1959 (T 72) und 17. Dezember 1967 (T 85). Insofern liegen insgesamt die Protokolle von 114 verschiedenen TrĂ€umen vor:

Nr. Überschrift Beginn des Traumprotokolls Nachweis
1 Frankfurt, Januar 1934 Im Traum fuhr ich mit G. in einem großen, sehr komfortablen Autobus von Pontresina hinab ins Unterengadin. 
 T 7
2 Oxford, 9. Juni 1936 Traum: Agathe [Adornos Tante, die SĂ€ngerin und Pianistin Agathe Calvelli-Adorno] erschien mir und sagte vollends traurig: FrĂŒher, mein Kind, habe ich dir immer gesagt, wir werden uns nach dem Tod wiedersehen. 
 T 7
3a Oxford, 10. MĂ€rz 1937 Ich fand mich in Paris ohne alles Geld, wollte aber in ein besonders elegantes Bordell, die maison Drouot gehen (in Wirklichkeit ist HĂŽtel Drouot das berĂŒhmteste Auktionslokal fĂŒr alte Dinge). 
 T 8
3b Oxford, 10. MĂ€rz 1937 Ein anderer Traum, frĂŒher in der Nacht, bezog sich auf Agathe. Sie sagte: mein Kind, du darfst mir nicht böse sein, aber wenn ich zwei wirklich TĂ€ler besĂ€ĂŸe, wĂŒrde ich die ganze Musik von Schubert dafĂŒr geben. T 8
4 London 1937 (wĂ€hrend der Arbeit am „Versuch ĂŒber Wagner“) Der Traum hatte einen Titel: „Siegfrieds letztes Abenteuer“ oder „Siegfrieds letzter Tod“. 
 T 8 f.; ebenso in Adorno 2003, 572 f.
5 New York, November oder Dezember 1938 Ich trĂ€umte: Hölderlin hieß Hölderlin, weil er immer auf einer Holunderflöte spielte. T 10
6 New York, 30. Dezember 1940 Kurz vorm Erwachen: ich wohnte der Szene bei, die Baudelaires Gedicht „Don Juan aux Enfers“ – wohl nach einem Bilde Delacroix‘ – festhĂ€lt. 
 T 10 f.; ebenso in Adorno 2003, 573
7 New York, 8. Februar 1941 Ich war an Bord eines Schiffs, das von SeerÀubern geentert wurde. 
 T 11 f.
8 Los Angeles, 22. Mai 1941 Wir gingen, Agathe, meine Mutter und ich, auf einem Höhenweg von rötlicher Sandsteinfarbe, wie sie mir von Amorbach vertraut ist. 
 T 12 f.; ebenso in Adorno 2003, 574 f.
9 Los Angeles, 20. November 1941 In der ersten Nacht in Los Angeles trĂ€umte ich, ich sei in einem CafĂ© – in Paris? – mit einem MĂ€dchen losester Sitten verabredet gewesen. 
 T 13
10 Los Angeles, 1942 Am Untermainkai in Frankfurt geriet ich in den Aufmarsch einer arabischen Armee. 
 T 14; ebenso in Adorno 2003, 574
11 In einer der folgenden NĂ€chte Ich wohnte mit meiner Mutter einer AuffĂŒhrung der Meistersinger bei. 
 T 15
12 Los Angeles, Ende Mai 1942 Ich trÀumte, ich solle gekreuzigt werden. 
 T 16
13 Los Angeles, Anfang Juli 1942 Der Traum war – oder schien mir im RĂŒckblick – eine lange, ungemein verwickelte Detektivgeschichte, in die ich selber verwickelt war. 
 T 16 f.
14 Los Angeles, 13. September 1942 Wir waren am Nachmittag zu Schönbergs 68. Geburtstag eingeladen. 
 T 17-19
15 Los Angeles, 21. Oktober 1942 Mein Freund erzĂ€hlte mir, er habe nur eine musikalische Leidenschaft: Kontrabaß spielen. 
 T 19
16 Los Angeles, November 1942 Mit meinem Vater geriet ich in London in einen Fliegeralarm. 
 T 19 f.
17 In einer andern Nacht Ich unterhielt mich mit meiner Freundin X ĂŒber die erotischen KĂŒnste, deren ich sie fĂŒr mĂ€chtig hielt. 
 T 20 f.
18 Los Angeles, 25. November 1942 Mit Gretel und Max [Horkheimer] war ich, nach Hitlers Sturz, nach Frankfurt zurĂŒckgekehrt. 
 T 21-23
19 Los Angeles, Anfang Dezember 1942 Ich nahm an einem großen, ungemein anspruchsvollen Bankett teil. 
 T 23 f.; ebenso in Adorno 2003, 575 f.
20 Los Angeles, 10. Januar 1943 Ich besuchte ein amerikanisches Bordell. 
 T 25 f.
21 Los Angeles, 16. Januar 1943, frĂŒh morgens Ich lag mit zwei entzĂŒckenden Frauen im Bett. 
 T 26 f.
22 Los Angeles, 15. Februar 1943 Agathe erschien mir im Traum und sagte etwa: „Karl Kraus war doch der witzigste und geistreichste aller Schriftsteller. 
 T 27 f.; ebenso in Adorno 2003, 576
23 Los Angeles, 28. Februar 1943 Alexander Granach [deutsch-österreichischer Schauspieler; 1890-1945] veranstaltete in einem großen Saal – dem des Frankfurter Saalbaus? – eine Vorlesung aus seinem Novellen-Roman. 
 T 28-30
24 16. April 1943 NÀchsten Dienstag hat der alte Hahn seinen 85. Geburtstag. Ich trÀumte: Was kann man denn dem alten Hahn zum 85. Geburtstag schenken, etwas, wovon er etwas hat. 
 T 30
25 Los Angeles, 12. Mai 1943 Nach dem ersten Besuch von Luli draußen bei uns trĂ€umte ich: auf einer Gesellschaft etwas alkoholischen Wesens, die sich in mehreren RĂ€umen abspielte, stieß ich mit einem Ă€lteren, eleganten Herrn zusammen – sei es, daß ich in ihn hineinrannte, sei es daß ich ihm auf den Fuß trat. 
 T 30 f.
26 Sommer 1943 Vor einigen Wochen trĂ€umte ich, es hĂ€tte mich jemand gefragt: wie ist es nur möglich, daß jemand wie Sie so gern auf langweilige Gesellschaften geht! 
 T 31
27 Los Angeles, 22. November 1943 Ich las im Traum einen Aufsatz von Herwarth Walden [Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm; 1878-1941] im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, ĂŒber Shakespeare. 
 T 32
28 Eine Nacht vorher Auf einem Empfang bei einer Dame der Gesellschaft in L.A., mit Gretel und Norah. 
 T 32
29 Los Angeles, Anfang Januar 1944 Dieterle [William (Wilhelm) Dieterle, in die USA emigrierter Schauspieler und Regisseur; 1893-1972] hat ein StĂŒck geschrieben, das heißt: Backt HegellĂ€mmchen! T 32
30 Los Angeles, Ende MĂ€rz 1944 In einer Arena fand unter meinem Befehl, die Hinrichtung einer großen Anzahl von Nazis statt. 
 T 33
31 Los Angeles, 2. April 1944 Gretel sagte mir: „ich weiß nun, wer der neue Geliebte von Y ist. 
 T 33
32 Los Angeles, 8. Juni 1944 Ich trÀumte, Agathe und Maria erzÀhlten mir gemeinsam, in heller Begeisterung, die neueste Louische-Geschichte. 
 T 33
33 Los Angeles, 1. August 1944 Ich sollte wieder einmal – gleich dem Pierrot lunaire – hingerichtet werde. 
 T 34
34 Los Angeles, 10. August 1944 Mit Luise Rainer [deutsche Schauspielerin; 1910-2014] nahm ich an einer Art Presseball in Europa teil. 
 T 34 f.
35 Los Angeles, 26. August 1944 Ich trĂ€umte, ich rasierte mich mit einem ebenso einfachen wie merkwĂŒrdigen Apparat. 
 T 35 f.
36 Los Angeles, 3. September 1944 Ich konnte, ĂŒber traurigen und enttĂ€uschten Gedanken lange nicht einschlafen. Ein Auto raste am Haus vorbei, ich hörte noch das Knirschen der Bremsen, als es den San Vincente Boulevard erreichte. 
 T 36 f.
37 Berkeley, 17. Oktober 1944 NachtrĂ€glich von einer Postkarte an Gretel transcribiert. Ich befand mich in Gesellschaft mit mehreren Mitgliedern der Familie Guermantes: Oriane, Charlus und der Princesse [Figuren aus Marcel Prousts Roman Á la recherche du temps perdu]. 
 T 37
38 BruchstĂŒcke, Los Angeles, Oktober 1944 In einer großen Gesellschaft war Trotzky zugegen, Zentrum einer jĂŒngerhaften Gruppe, zu der er lebhaft dozierend und ziemlich autoritĂ€r sprach. 
 T 38
39 Los Angeles, 23. November 1944 Ein Satz: „Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts ist Lujche.“ T 38
40 Los Angeles, 20. Januar 1945 Wieder ein Bordelltraum. Er spielte in Paris. 
 T 38-41
41 Los Angeles, 31. MĂ€rz 1945 Nachdem durchs Radio die Aufforderung Eisenhowers zur Niederlegung der deutschen Waffen durchgegeben war, schlief ich nachmittags und trĂ€umte: ich war in SĂŒddeutschland, einem großen Erkerzimmer, das auf einen Marktplatz ging, in WĂŒrzburg oder Amorbach. 
 T 42
42 Los Angeles, 14. Juli 1945 Hinrichtungsszene. Ob die Opfer Faschisten oder Antifaschisten waren, blieb unklar. 
 T 43
43 Los Angeles, 17. August 1945 Ein sehr schwarzer Freitag. Vor Wochen hatte ich den Traum getrÀumt, und was ich trÀumte, schien mir so entscheidend, als hinge alles davon ab und als wÀre ich bis ins innerste Geheimnis der Vergeblichkeit der Existenz gedrungen. 
 T 44 f.
44 Nachtrag zu diesem Traum HĂ€ufig trĂ€umte ich etwas sehr Verwandtes ĂŒber Paris. Ich gehe weit draußen am linken Seineufer spazieren. 
 T 45
45 Los Angeles, 19. September 1945 Mein Vater fragte mich: weißt du auch, woher der Name Dreyfus kommt. 
 T 46
46a Los Angeles, 6. Oktober 1945 Zwei TrĂ€ume, die aufeinander folgten. L.L. hatte ein zweites Kind, ein Töchterchen. 
 T 46 f.
46b Los Angeles, 6. Oktober 1945 Der zweite, viel wirrere Traum: es sollte eine Art akademische Feier fĂŒr einen Historiker oder Politiker stattfinden. 
 T 47 f.
47 Los Angeles, 14. Oktober 1945 Es war eine kleine Gesellschaft bei Dieterles, hufeisenartig gedeckt, so daß in der Mitte ein ziemlich großer Raum frei blieb. 
 T 48 f.
48 Los Angeles, 29. Oktober 1945 Besuch bei Anatole France [frz. Schriftsteller; 1844-1924]. Ein Ă€ußerst eleganter Fahrstuhl – schwarz wie Ebenholz – brachte mich zu dessen Zimmer, oder Bureau. 
 T 50 f.
49 Los Angeles, 4. Februar 1946 In einer offenbar mit Krankheit zusammenhĂ€ngenden, schweren Beklemmung. Ich nahm am Abschied Lavals [vermutlich Pierre Laval, wegen Kollaboration hingerichteter frz. Politiker; 1883-1945] vor seiner Hinrichtung teil, in einer grĂ¶ĂŸeren Gruppe. 
 T 51 f.
50 Berkeley, 24. MĂ€rz 1946 In der Nacht, die der entscheidenden Auseinandersetzung mit Charlotte voranging, hatte ich einen Traum. Im Erwachen hielt ich dessen letzte Worte fest: „Ich bin der MĂ€rtyrer des GlĂŒcks.“ T 52
51 Los Angeles, 18. Februar 1948 Ich besĂ€ĂŸe ein voluminöses illustriertes Prachtwerk ĂŒber den Surrealismus, und der Traum war nichts anderes als die genaue Vorstellung einer der Illustrationen. 
 T 52 f.; ebenso Adorno 2003, 576 f.
52a Los Angeles, 14. MĂ€rz 1948 Ich hatte am Abend recht viel getrunken und wußte, daß ich auf den Sonntag mich ausschlafen konnte. So war es eine traumreiche Nacht. 
 T 53
52b Los Angeles, 14. MĂ€rz 1948 Viel bedenklicher ein zweiter Traum. Mir war ein Kind, ein etwa zwölfjĂ€hriger, entzĂŒckender Knabe, zur Folter zur VerfĂŒgung gestellt. 
 T 54
53 Los Angeles, 26. September 1948 Wir waren bei Sch. zum Essen eingeladen, das auf einer schmalen Terrasse vor dem Haus stattfand. 
 T 54 f.
54 Los Angeles, September 1948 In der Emigration trÀumte ich immer wieder, mit Variationen: es war zuhause in Oberrad, schon unterm Hitlerregime. 
 T 55 f.
55 Los Angeles, 1. Oktober 1948 Ein Ball oder Fest, doch schien es mir, ich befÀnde mich allein auf der TanzflÀche. 
 T 56 f.
56 Los Angeles, 6. Dezember 1948 Um 8.20 wurde ich durchs Schellen eines Rechtsanwalts geweckt, wegen unserer eviction. Ich war mitten im Traum. Wir waren in einer kleinen sĂŒddeutschen oder hessischen Stadt, parkten das Auto in der Hauptstraße, ich ging in die Nebenstraße, fand ein unbeschreiblich schönes altes Rathaus. 
 T 57
57 Frankfurt, Sommer 1952 Ich gehörte einem Gremium an, das entscheiden sollte, ob die barocken Texte mancher ChorĂ€le so exzentrisch seien, daß sie heute nicht lĂ€nger mehr gesungen werden könnten. 
 T 58
58 Frankfurt, 24. Januar 1954 Ferdinand Kramer [vermutlich der Archtiekt F. Kramer, 1898-1985] habe sich ganz der Malerei zugewandt und eine neue Gattung erfunden, die „praktikable Malerei“. 
 T 58; ebenso in Adorno 2003, 577
59 Frankfurt, Januar 1954 Ich hörte Hitlers unverkennbare Stimme aus Lautsprechern tönen mit einer Ansprache: „Da gestern meine einzige Tochter einem tragischen UnglĂŒcksfall zum Opfer gefallen ist, so ordne ich zur SĂŒhne an, daß heute sĂ€mtliche ZĂŒge entgleisen.“ 
 T 59; ebenso in Adorno 2003, 577
60 Hamburg, Mai 1954 Traum in einer Nacht, in der ich glaubte, meine Adern anschwellen und verhĂ€rten zu fĂŒhlen bis zum Platzen. Irgendwelche kleinen und ekelhaften Tiere verĂŒbten Unfug. 
 T 59
61 30. Juli 1954 Ich trĂ€umte von L. Sie saß mir sehr elegant, aber totenblaß gegenĂŒber. 
 T 59 f.
62 Locarno, 30. August 1954 Der heilige Carl BorromÀus [1538-1584] habe versucht, dem Gekreuzigten in den After zu kriechen. 
 T 60 f.
63 Frankfurt, 10. September 1954 Ich trÀumte, ich hÀtte an einer theologischen Diskussion teilgenommen, auch Tillich [der protestantische Theologe Paul Tillich; 1886-1965] war dabei. 
 T 61
64 20. MĂ€rz 1955 Ich spielte, wie als kleines Kind, Klavier auf einer Tischplatte. 
 T 61 f.
65 1. April 1955 Dem eigentlichen Traum voran ging ein etwas wirrer ĂŒber besonders schöne alte HĂ€user in Paris oder Wien. 
 T 62 f.
66 16. Juni 1955 Zwei riesige schwarze Triceratopse [Dinosaurier], wie aus Plastics, wĂŒtende, mir unsympathische und schauerliche Tiere. 
 T 63
67 5. September 1955 Das Leben ist der Mythos. 
 T 63
68 Stuttgart, September 1955 In einer der NĂ€chte in S. trĂ€umte ich: die qualvollste Hinrichtungsart – offenbar mir bestimmt – wĂ€re es, bis zum Kopf in Wasser zu stehen und gleichzeitig geröstet zu werden. 
 T 64
69 Frankfurt, Ende Oktober 1955 Ich sollte – wohl als Schauspieler – an einer AuffĂŒhrung des Wallenstein mitwirken, nicht auf der BĂŒhne, aber in einem Film - oder Fernsehprogramm. 
 T 64; ebenso in Adorno 2003, 577 f.
70 Frankfurt, 12. November 1955 Ich trĂ€umte, ich mĂŒsse das soziologische Diplomexamen machen. 
 T 65; ebenso in Adorno 2003, 578
71 28. November 1955 Ich hatte einen fĂŒrchterlichen Krach mit meiner Mutter, die gesagt hatte, sie wĂ€re nicht verpflichtet, mich materiell zu erhalten. 
 T 66
72 9. Januar 1956 Ich erinnere mich an einen Komplex: In einer mittleren Großstadt fuhr ich vom Bahnhof in ein bestimmtes Viertel, auf einem Weg, der mir sehr bekannt schien. 
 T 66
73 24. Januar 1956 Nach einem Tag von jĂ€her Hoffnung und tiefster Depression: Ich war im Freien, unter einem unbeschreiblich schwarz und wild bewölkten Himmel. 
 T 66 f.
74 Frankfurt, 18. November 1956 Ich trĂ€umte von einer fĂŒrchterlichen Hitzekatastrophe. 
 T 67; ebenso in Adorno 2003, 578
75 Frankfurt, 9. Mai 1957 Mit G. hörte ich in einem Konzert ein großes Vokalwerk – wohl mit Chor. 
 T 67; ebenso in Adorno 2003, 579
76 7. Juni 1957 Ich trÀumte, ich wÀre in einem KZ. 
 T 68
77 25. Juni 1957 Ich sollte wieder einmal gekreuzigt werden. 
 T 68
78 Sils-Maria, 23. August 1957 In der Aula der UniversitÀt sollte ein Konzert stattfinden, doch war es gar nicht die Aula sondern ein rot verblichener Musiksalon. 
 T 68 f.
79 Sils-Maria, 21. August 1958 Im Museumskonzert in Frankfurt. Es sollte das Violinkonzert von Brahms gespielt werden, aber von dem Pianisten Serkin. 
 T 69 f.
80 Mitte September 1958 Tagesrest: ich war vom Direktor meines Gymnasiums, jetzt Freiherr vom Stein-Schule, eingeladen worden, etwas zur Festschrift beim Anlaß ihres 50-jĂ€hrigen Bestehens beizusteuern. Traum: bei einer Zeremonie wurde mir feierlich die musikalische Gesamtleitung des Gymnasiums ĂŒbertragen. 
 T 70
81 28. Januar 1959 Ich war in einem kleinen runden sehr hohen Raum. Weniger Personen saßen im Kreis: die MĂ€chtigsten der Welt. 
 T 71
82a Frankfurt, Ende Dezember 1959 Hinrichtungstraum. Enthauptung. Nicht entschieden, ob mir der Kopf abgeschlagen, ob ich guillotiniert werden sollte, doch streckte ich ihn wohl, um still zu halten, in eine Rille. 
 T 71
82b Frankfurt, Ende Dezember 1959 Ich muß im Schlaf einen starken Drang zum Urinieren gefĂŒhlt haben. 
 T 72
83 16. Juni 1960 In der Nacht vor der Abreise [nach Wien] trĂ€umte ich: daß ich von der metaphysischen Hoffnung nicht ablassen mag, ist gar nicht, weil ich so sehr am Leben hinge, sondern weil ich mit G. erwachen möchte. T 72 f.
84 Wien, 26. Juni 1960 In der vorletzten Nacht trÀumte ich: es hÀtte an einem Tag tiefste Nacht geherrscht, zum ersten Mal seit Erschaffung der Welt wÀre die Sonne nicht aufgegangen. 
 T 73
85 Frankfurt, 10 Oktober 1960 Kracauer [der Soziologe Siegfried Kracauer; 1889-1966] erschien mir: Mein Lieber, ob wir BĂŒcher schreiben, ob sie gut oder schlecht sind, ist doch ganz gleichgĂŒltig. 
 T 73; ebenso in Adorno 2003, 579
86 Frankfurt, 13. April 1962 Ich sollte ein Examen machen, mĂŒndliche PrĂŒfung in Geographie, allein aus einer großen Zahl von Examinanden; wohl in der UniversitĂ€t. 
 T 74-76; ebenso in Adorno 2003, 579-581
87 Frankfurt, 18. September 1962 Ich hielt ein Exemplar der gedruckten Passagenarbeit von [Walter] Benjamin in HĂ€nden, sei es, daß er sie doch vollendet, sei es, daß ich sie aus den EntwĂŒrfen rekonstruiert hatte. 
 T 76; Adorno 2003, 581
88 18. Oktober 1963 Kurz vor seinem Tod lernte ich Jean Cocteau [frz. Schriftsteller und Regisseur; 1889-11.10.1963] kennen. 
 T 77
89 Baden-Baden, 25. MĂ€rz 1964 Ein Psychotherapeut wollte in einem sehr großen Hotel einen Vortrag aus seinem Sachgebiet ĂŒber Schubert halten. 
 T 77
90 Frankfurt, 19. Juli 1964 Ich trĂ€umte, Scholem [Gershom Scholem, deutsch-österreichischer Religionshistoriker; 1897-1982] habe mir eine altnordische Sage erzĂ€hlt. 
 T 78
91 Sils-Maria, 4. September 1964 (Kurz vorm Erwachen) Ich hatte einen sechsstĂŒndigen Schulaufsatz ĂŒber Goethe zu schreiben. 
 T 78
92 22. Dezember 1964 Einladung bei dem Konsul Schubert, aber nicht in dessen Prunkvilla, sondern in einer eher bescheidenen bĂŒrgerlichen Etagenwohnung, etwa wie die meines Onkels Louis auf der Eschersheimer Landstraße. 
 T 79
93 Frankfurt, Dezember 1964 Die Welt sollte untergehen. Ich befand mich in frĂŒhester MorgendĂ€mmerung, in grauem Halbdunkel, unter einer grĂ¶ĂŸeren Menschenmenge auf einer Art Rampe, am Horizont HĂŒgel. 
 T 79 f.; ebenso in Adorno 2003, 581
94 Frankfurt, Juli 1965 Mein Arzt hatte mir ein paar Furunkel aufgeschnitten. Ich trÀumte, er hÀtte ihnen auf einer Rechnung Namen gegeben. 
 T 80
95 Frankfurt, Juli 1965 Kolisch [Rudolf Kolisch, Violinist; 1896-1978] forderte mich auf, zur Hinrichtung eines Bekannten im elektrischen Stuhl mitzukommen, als eine Art Ehrung fĂŒr den Delinquenten und zugleich als Protestaktion. 
 T 80 f.
96 Frankfurt, 22. MĂ€rz 1966 Ich trĂ€umte, [der Verleger] Peter Suhrkamp [1891-1959] habe ein großes kulturkritisches Buch geschrieben – auf plattdeutsch. 
 T 81; ebenso in Adorno 2003, 581
97 MĂ€rz 1966 In einer FakultĂ€tssitzung wurde ich gebeten, hinauszugehen, weil ĂŒber mich gesprochen wĂŒrde. 
 T 82
98 Rom, Oktober 1966 In Rom in einem großen schönen Hotelzimmer, mit Gretel. Mit Schrecken bemerkte ich, daß im Haus nahe gegenĂŒber, in einem Giebeldreieck, zahllose Wesen versammelt waren, zwischen Lumpenproletarieren und Mißgeburten, etwa auch kahle Köpfe direkt mit Fangarmen, genau wie ich sie einmal als auf dem Boden mich bedrohende getrĂ€umt hatte. 
 T 82
99 Frankfurt, Februar 1967 Ich wollte meinen juristischen Doktor machen, hatte mir auch ein Thema ausgedacht, von dem mir schien, daß es mir gemĂ€ĂŸ sei. 
 T 83; ebenso in Adorno 2003, 581 f.
100 MĂ€rz 1967 TrĂ€ume von Toten, in denen man das GefĂŒhl hat, daß sie einen um Hilfe bitten. 
 T 83
101 14. April 1967 A. sagte mir: ich bin jetzt 30 Jahre alt, aber ich sehe 28 Jahre jĂŒnger aus. T 83
102 Crans, 12. August 1967 Ich trĂ€umte, ich sei mit meiner 87 jĂ€hrigen Mutter zusammen. Sie war, auch geistig, recht gut im Schuß, nur maßlos eigensinnig. 
 T 84
103 27. November 1967 Ich fĂŒhlte mich sehr schlecht. Aufgewacht mit einem Sprichwort, das mir sehr tiefsinnig schien: „Nur wenn die Hunde scharf sind, sind die Einwohner treu.“ T 84
104a 17. Dezember 1967 Ich hatte eine unbeschreiblich schöne und elegante Geliebte, sie erinnerte an A. [Adornos Geliebte Arlette Pielmann; 1937-1978], hatte aber etwas von der Dame der großen Gesellschaft, ich war ĂŒberaus stolz auf sie. 
 T 84 f.
104b 17. Dezember 1967 Der Mond sollte auf die Erde fallen. 
 T 85
105 MĂŒnchen, 28. Oktober 1968 Am Eingang zu einem Konzert traf ich mit grĂ¶ĂŸter Freude, aber auch großem Erstaunen, Steuermann [vermutlich der amerikanische Pianist Eduard Steuermann; 1892-1964]; denn ich wußte, er war tot. 
 T 85
106 Recklinghausen, 16. MĂ€rz 1969 A. kam in tiefster Nacht zu mir ins Bett. 
 T 86
107 29. MĂ€rz 1969 Ich trĂ€umte, ich hĂ€tte – nach zwei Monaten des Schweigens – einen Brief von A. bekommen. 
 T 86
108 Baden-Baden, 11. April 1969 Ich ging nachts ĂŒber eine sehr großstĂ€dtische Straße, vielleicht den KurfĂŒrstendamm. 
 T 86
109 Baden-Baden, 12. April 1969 Ich besprach mit A. den Plan, mit ihr gemeinsam mir das Leben zu nehmen. 
 T 87

Es sind keine PlÀne Adornos bekannt, die mit dieser Sammlung vorgelegten Traumprotokolle in irgendeiner Art zu kommentieren oder eigene Deutungsversuche anzubieten (Reemtsma 2018, 93).

Themen, Motive und Deutungen

In Adornos Traumprotokollen treten verschiedene Themen und Motive in unterschiedlichen Typen von TrĂ€umen auf, oft in Form von Alp- oder AngsttrĂ€umen oder zuweilen auch erotischen TrĂ€umen. HĂ€ufige Themen und Motive sind u.a. Hinrichtungen (zum Beispiel die eigene, diejenige von Bekannten oder auch Hinrichtungen anderer unter eigenem Befehl), Bordellbesuche, Examen bzw. PrĂŒfungen, Wortspiele und kreative Sprachschöpfungen, Spott und Hohn, WunscherfĂŒllung und Versagung im Zusammenhang mit seiner Mutter und seiner Tante Agathe („zweite Mutter“), „TrĂ€ume von Toten, in denen man das GefĂŒhl hat, daß sie einen um Hilfe bitten“, Dinosaurier (insb. Triceratops und Ankylosaurus), ĂŒbermĂ€ĂŸiger Harndrang, Folter, Konzentrationslager, Weltuntergang und Naturkatastrophen (z. B. eine Hitzekatastrophe) oder der Tod seines Freundes und Kompositionslehrers Alban Berg (Halley 1997, 61; Stephan 2008, 9; SchĂŒnemann 2012; Reemtsma 2018, 111 ff.; MĂŒller-Doohm 2019, 19-22).

WĂ€hrend Reemtsma im Nachwort zur Separatausgabe der Traumprotokolle Sinn und Unsinn des psychoanalytischen Deutens der Traumprotokolle diskutiert („Doch welcher Art wĂ€re die Deutungskunst, die hier die normativen Vorgaben machen sollte? Die Psychoanalyse, die jedem, auch dem, der sich wer-weiß-was-fĂŒr-Vorstellungen davon macht, als erste einfĂ€llt, wĂ€re gerade, und zwar auf Grund ihrer eigenen technischen Verfahrensregeln, durchaus nicht zustĂ€ndig. Die psychoanalytische Deutung eines Traums ist ein dialogischer Prozeß zwischen zwei Menschen, in dem die Mitteilung der Assoziationen desjenigen, der den Traum berichtet, eine entscheidende Rolle spielt“; Reemtsma 2018, 108), werden die TrĂ€ume Adornos in verschiedenen BeitrĂ€gen dennoch unter BerĂŒcksichtigung psychoanalytischer AnsĂ€tze detaillierter gedeutet.

Exemplarisch wird im Folgenden ein Beitrag von LeithĂ€user nĂ€her betrachtet. Dieser analysiert ausfĂŒhrlich zwei Traumprotokolle Adornos mithilfe eines „psychoanalytisch orientierten tiefenhermeneutischen“ Textinterpretationsansatzes basierend auf der „Freudschen Deutungsmethode, wie er sie in der Traumdeutung und den Vorlesungen zur EinfĂŒhrung in die Psychoanalyse sowie Neue Folge der Vorlesung erörtert hat“ (LeithĂ€user 2007, 1, 8). LeithĂ€user zielt insbesondere darauf ab, den „gesellschaftlichen Gehalt“ von Adornos TrĂ€umen herauszuarbeiten. Es handelt sich dabei um die TrĂ€ume Nr. 12 (Los Angeles, Ende Mai 1942: „Ich trĂ€umte, ich solle gekreuzigt werden“; LeithĂ€user 2007, 9-17) und Nr. 91 (Sils-Maria, 4. September 1964: „(Kurz vorm Erwachen) Ich hatte einen sechsstĂŒndigen Schulaufsatz ĂŒber Goethe zu schreiben“; LeithĂ€user 2007, 17-22).

BezĂŒglich des ersten untersuchten Traums, einem Hinrichtungstraum, arbeitet LeithĂ€user unter anderem mögliche Deutungen zu den Ängsten Adornos, insbesondere seiner Todesangst im nationalsozialistischen Deutschland auf der Grundlage von enthaltenen Symbolen des beschriebenen „Kreuzigungsszenarios“ heraus: „Kreuz“ und „Hakenkreuz“, „Spaziergang durch Bockenheim“ und „Passionsweg Christi“, „Bockenheimer Warte“ und „Golgatha“ (LeithĂ€user 2007, 12), „Kreuzigung“ und „Hinrichtung, Mord, Vernichtung“ (LeithĂ€user 2007, 16). Außerdem betont er dabei zwei zentrale Mechanismen der Traumarbeit nach Freud, die bestimmend fĂŒr den „manifesten Trauminhalt“ seien: die „Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder“ und „die Ersetzung ins Gegenteil“ (LeithĂ€user 2007, 13).

In der Deutung des zweiten untersuchten Traums, eines PrĂŒfungstraums, beschreibt LeithĂ€user die Unsicherheit und Ängste Adornos, ob er fĂ€hig sei, „die Aufgabe ĂŒberhaupt zu bewĂ€ltigen“ (LeithĂ€user 2007, 20), einen sechsstĂŒndigen Schulaufsatz ĂŒber Goethe zu schreiben. Adorno schreibt dazu: „Sogleich war mir bewusst, dass ich einen Komplex auszusuchen hatte und zwar den zentralen. [
] WĂ€hrend der Arbeit ergriff mich die Angst, ob ich in der zur VerfĂŒgung stehenden Zeit ĂŒberhaupt fertig werden könnte, und ob irgendein Lehrer fĂ€hig sei, den Aufsatz zu verstehen, so daß ich eine schlechte Note bekĂ€me. Vor lauter Angst wachte ich auf“ (T 78). Die „Traumarbeit“ Adornos greife hier „zum Mittel der Verschiebung“ und „verschiebt die UnfĂ€higkeit auf die Lehrer“ (LeithĂ€user 2007, 20), was aber in diesem Traum misslinge und Adornos ĂŒberwĂ€ltigende Ängste nicht davon abbringen kann, ihn „vor lauter Angst“ aufzuwecken.

Die publizierte Sammlung von Adornos Traumprotokollen ermöglicht nicht nur aufgrund ihres Umfangs weitere Deutungen und Interpretationen. Die vorliegende Literatur geht bisher nur auf einen ĂŒberschaubaren Teil der aufgezeichneten TrĂ€ume in detaillierter Form ein, weshalb sowohl fĂŒr die Traum- als auch fĂŒr die Adorno-Forschung noch erhebliches Erkenntnispotential aus der Betrachtung von Adornos Traumprotokollen vorliegt.


Constantin Houy

Literatur

Ausgaben

  • Adorono, Theodor W.: TrĂ€ume in Ameika. Drei Protokolle. In: Aufbau 8 (1942) 40, 17 (erste Teilpublikation).
  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 20.2: Vermischte Schriften II. Aesthetica Miscellanea. Band 20.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 572-582 (Teilpublikation).
  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 (Erstausgabe).
  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018 (zitiert als T)

Übersetzungen:

  • Adorno, Theodor W.: Dream Notes. Übers. von Rodney Livingstone. Cambridge: Polity Press 2007.
  • Adorno, Theodor W.: Mes rĂȘves. Übers. von Olivier Mannoni. Paris: Stock 2007.
  • Adorno, Theodor W.: Sui sogni. Hg. von Michele Ranchetti. Übers. von Alessandro Cecchi. Torino: Bollati Boringhieri 2007.
  • Adorno, Theodor W.: Sueños. Übers. von Alfredo Brotons Muñoz. Madrid: Ediciones Akal 2014.

Rezensionen

  • Moser, Ulrich: [Sammelrezension]. In: Psyche – Zeitschrift fĂŒr Psychoanalyse 66 (2012) 9/10, 1031-1034.
  • MĂŒller-Doohm, Stefan: Lachend aufgewacht: Gefressen werden tut gar nicht weh. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.2005, 33; online.

Forschungsliteratur

  • Fukuda, Daisuke: Epiphanies of the Other in Adorno’s Nightmares. The Sinthome in Traumprotokolle. In: Savoirs et Clinique 25 (2018) 2, 34-42.; frz. als: Épiphanies de l'Autre dans les cauchemars de Theodor W. Adorno. La lecture du sinthome dans les Traumprotokolle. In: Savoirs et Clinique 25 (2019) 1, 34-42.
  • Garcia Alves JĂșnior, Douglas: Os sonhos de Adorno. In: Argumentos 8 (2016) 16, 21-28.
  • Gödde, Christoph/Henri Lonitz: Editorische Nachbemerkung. In: T 2018, 88 f.
  • Gritzner, Karoline: Thoughts Which Do Not Understand Themselves. On Adorno's Dream Notes. In: Will Daddario/Karoline Gritzner (Hg.): Adorno and Performance. London: Palgrave Macmillan 2014, 38-52.
  • Halley, Anne: Theodor W. Adorno’s Dream Transcripts. In: The Antioch Review 55 (1997) 1, 57-74 (bezogen auf die Teilpublikation in Gesammelte Werke; Einleitung, Übersetzung und erlĂ€uternde Anmerkungen).
  • LeithĂ€user, Thomas: Adornos TrĂ€ume. In: Journal fĂŒr Psychologie 15 (2007) 3, 1-24.
  • MĂŒller-Doohm, Stefan: Traumprotokolle. In: Richard Klein/Johann Kreuzer/Ders. (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2019, 19-22.
  • Reemtsma, Jan Philipp: Nachwort. In: T 2018, 91-120.
  • SchĂŒnemann, Axel: "Das ist gar nicht er selbst" – Theodor W. Adorno trĂ€umt den Weltuntergang (Werner Heisenberg kommentiert). 2012; online.
  • Stephan, Inge: Einleitung. Literatur – Traum – Film. In: Zeitschrift fĂŒr Germanistik 18 (2008), 7-10.
  • Jean-Christophe Valtat, RĂȘves de mĂ©dias, mĂ©dias du rĂȘve. In: Mirta Cimmino/Maria Teresa de Palma/Isabella del Monte (Hg.), Dormir, transcrire, crĂ©er. Le rĂȘve littĂ©raire Ă  travers les genres, les domaines et les Ă©poques; RILUNE — Revue des littĂ©ratures europĂ©ennes 12 (2008), 37–53; online.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Houy, Constantin: "Traumprotokolle" (Theodor W. Adorno). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2021; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno).