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== Zur Autorin ==
 
== Zur Autorin ==
 
Die von Sigmund Freud als „Versteherin par excellence“ (Briefwechsel 1960, 50) und von der Reformpädagogin Ellen Key (1849-1926) als „hervorragende Seherin in die feinen Nuancen einer Seele – besonders Frauenseele“ (Brief vom 16.04.1900; Wernz 1997, 31) beschriebene Philosophin, Autorin und erste Psychoanalytikerin Deutschlands hatte zahlreiche Interessen. So studierte sie als eine der ersten Studentinnen im Jahr 1880 in Zürich Allgemeine Religionsgeschichte, Dogmatik, Logik, Metaphysik und Philosophie (Wiesner-Bangard/Welsch 2002, 33), war mit Nietzsche, Rilke, Freud und namhaften Frauenrechtlerinnen befreundet und publizierte wissenschaftliche und erzählende Literatur von der Kindheitserzählung, über autobiografische Romane bis hin zu gesellschaftskritischen Erwachsenenerzählungen. Lange wurde sie auf den Status der „Muse“ einflussreicher Männer reduziert. Auch ihr wissenschaftliches und literarisches Vermächtnis wurde erst spät gewürdigt.
 
Die von Sigmund Freud als „Versteherin par excellence“ (Briefwechsel 1960, 50) und von der Reformpädagogin Ellen Key (1849-1926) als „hervorragende Seherin in die feinen Nuancen einer Seele – besonders Frauenseele“ (Brief vom 16.04.1900; Wernz 1997, 31) beschriebene Philosophin, Autorin und erste Psychoanalytikerin Deutschlands hatte zahlreiche Interessen. So studierte sie als eine der ersten Studentinnen im Jahr 1880 in Zürich Allgemeine Religionsgeschichte, Dogmatik, Logik, Metaphysik und Philosophie (Wiesner-Bangard/Welsch 2002, 33), war mit Nietzsche, Rilke, Freud und namhaften Frauenrechtlerinnen befreundet und publizierte wissenschaftliche und erzählende Literatur von der Kindheitserzählung, über autobiografische Romane bis hin zu gesellschaftskritischen Erwachsenenerzählungen. Lange wurde sie auf den Status der „Muse“ einflussreicher Männer reduziert. Auch ihr wissenschaftliches und literarisches Vermächtnis wurde erst spät gewürdigt.
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== Entstehungs- und Druckgeschichte ==
 
== Entstehungs- und Druckgeschichte ==
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Veröffentlicht wurde die Erzählung in dem Novellenzyklus ''Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen'' im Jahre 1902 in der J.G. Cotta’schen Buchhandlung. Vorangegangen war eine Zeitschriftenpublikation in der von F.W. Hackländer herausgegebenen ''Deutschen Roman-Bibliothek'' (1901). Wie Britta Benert, die Herausgeberin der neuen Standard-Edition, hervorhebt, weicht die Zeitschriftenfassung stark von der in der Novellensammlung publizierten Version ab (W 392 ff.). Gewidmet ist der Novellenzyklus der Cousine der Verfasserin, Emma Flörke, geb. Wilm, „zur Erinnerung an unsere Kindheit“.
 
Veröffentlicht wurde die Erzählung in dem Novellenzyklus ''Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen'' im Jahre 1902 in der J.G. Cotta’schen Buchhandlung. Vorangegangen war eine Zeitschriftenpublikation in der von F.W. Hackländer herausgegebenen ''Deutschen Roman-Bibliothek'' (1901). Wie Britta Benert, die Herausgeberin der neuen Standard-Edition, hervorhebt, weicht die Zeitschriftenfassung stark von der in der Novellensammlung publizierten Version ab (W 392 ff.). Gewidmet ist der Novellenzyklus der Cousine der Verfasserin, Emma Flörke, geb. Wilm, „zur Erinnerung an unsere Kindheit“.
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== Aufbau und Thematik der Novelle ==
 
== Aufbau und Thematik der Novelle ==
Geschildert wird die Reise der 16jährigen mutterlosen Deutschrussin Ljubow (dt. „Liebe“) Wassiliewna auf der Wolga von Nižnij Novgorod nach Astrachann, dem Vater entgegen. Wichtige Motive entstammen der Wolgareise der Autorin, die jedoch stromaufwärts stromabwärts verlief (W 393). Auf dem Mikrokosmos des Schiffes befindet sich Ljubow in der Obhut des Kapitäns und seiner Schwester. Der Name des Dampfschiffs „Zcar Saltan“ rekurriert auf das gleichnamige Märchen des russischen Romantikers Alexander Puschkin (1799-1837). Intertextuelle Verweise prägen auch weitere Partien der Novelle, insbesondere den ersten der beiden Träume Ljobows.
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Geschildert wird die Reise der 16jährigen mutterlosen Deutschrussin Ljubow (dt. „Liebe“) Wassiliewna auf der Wolga von Nižnij Novgorod nach Astrachann, dem Vater entgegen. Wichtige Motive entstammen der Wolgareise der Autorin, die jedoch stromaufwärts stromabwärts verlief (W 393). Auf dem Mikrokosmos des Schiffes befindet sich Ljubow in der Obhut des Kapitäns und seiner Schwester. Der Name des Dampfschiffs „Zcar Saltan“ rekurriert auf das gleichnamige Märchen des russischen Romantikers Alexander Puschkin (1799-1837). Intertextuelle Verweise prägen auch weitere Partien der Novelle, insbesondere den ersten der beiden Träume Ljubows.
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Eingangs schildert die Erzählerin das Zusammenspiel von Fluss und Natur, um von diesen poetisch anmutenden Eindrücken den Blick auf die junge Reisende zu richten. Transparent werden in dieser Naturwahrnehmung eine romantisch-verklärte Weltsicht, aber auch sexuelle Sehnsüchte, die etwa an der Beschreibung der Birke, die in der Russischen Kultur sinnbildlich für junge Frauen steht (vgl.: Schäfer/Leingang 2022), deutlich werden: „Urwaldbirken, heben ihre weißlichen Stämme in leuchtender Nacktheit aus dem Bade im Strom…“ (278). Diese sinnliche Wahrnehmung wird von einem nüchternen Zitat aus einem Reiseführer, mit dem sich die Protagonistin erstmals zu Wort meldet, kontrastiert. Die Polarisierung von sinnlicher Wahrnehmung und nüchterner Verlesung von Fakten, die Stadt Nischni Nowgorod betreffend, werden sodann auf den Körper der Figur übertragen, die aus der Erzählperspektive wie folgt beschrieben wird: „Die große, schöne, weiche Gestalt verkündete: „ich bin eine ausgewachsene Person, eine Dame bin ich!jedoch das runde Kindergesicht widersprach lebhaft.“ (280)
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Eingangs schildert die Erzählerin das Zusammenspiel von Fluss und Natur, um von diesen poetisch anmutenden Eindrücken den Blick auf die junge Reisende zu richten. Transparent werden in dieser Naturwahrnehmung eine romantisch-verklärte Weltsicht, aber auch sexuelle Sehnsüchte, die etwa an der Beschreibung der Birken, die in der Russischen Kultur sinnbildlich für junge Frauen steht (Schäfer/Leingang 2022): „Urwaldbirken, heben ihre weißlichen Stämme in leuchtender Nacktheit aus dem Bade im Strom“ (W 278). Diese sinnliche Wahrnehmung wird kontrastiert von einem nüchternen Zitat aus einem Reiseführer, mit dem sich die Protagonistin erstmals zu Wort meldet. Die Polarität von sinnlicher Wahrnehmung und nüchterner Verlesung von Fakten über die Stadt Nischni Nowgorod wird sodann auf den Körper der Figur übertragen, die aus der Erzählperspektive wie folgt beschrieben wird: „Die große, schöne, weiche Gestalt verkündete: ,ich bin eine ausgewachsene Person, eine Dame bin ich!' jedoch das runde Kindergesicht widersprach lebhaft“ (W 280).
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Während die Hauptfiguren der übrigen Novellen des Zyklus‘ im Zwischenland der Adoleszenz verharren, wird in Wolga ein Übergang zur Erwachsenenwelt vollzogen, der von einem gravierenden Gemütswandel begleitet wird. So bildet die Schifffahrt den Rahmen für eine weibliche Initiationsreise, die dem Dornröschen-Prinzip entspricht, da ein männlicher Initiator maßgeblich an der beschriebenen Entwicklung beteiligt ist.
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Während die Hauptfiguren der übrigen Novellen des Zyklus‘ im Zwischenland der Adoleszenz verharren, wird in ''Wolga'' ein Übergang zur Erwachsenenwelt vollzogen, der von einem gravierenden Gemütswandel begleitet ist. So bildet die Schifffahrt den Rahmen für eine weibliche Initiationsreise, die dem Dornröschen-Prinzip entspricht, da ein männlicher Initiator maßgeblich an der beschriebenen Entwicklung beteiligt ist.
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Das Schiff mit seinen unterschiedlichen Klassen kann als Heterotopie im Foucault’schen Sinn verstanden werden, wobei eine Besonderheit darin besteht, dass Ljubow sich frei zwischen den drei Klassen bewegen kann; wenngleich dies von Seiten des Kapitäns nicht gerne gesehen wird. Außerhalb dieser Heterotopie kennt sie nur den Mikrokosmos ihres Petersburger Pensionats sowie das Landhäuschens ihrer Tante in Pterhof. (Vgl.: 280) Die gesellschaftlichen Zwänge sind in diesem von Zeit und Ort losgelösten Raum weniger strikt als im heimischen Umfeld. Tatsächlich langweilt sie der Aufenthalt im Salon der 1. Klasse, wo ihr der etwa gleichaltrige Aristokratensohn Alescha Murawiew Avancen macht. Fasziniert ist sie viel eher von dem Fremden und Unbekannten, insbesondere dem erfahrenen Arzt Valdevenen, der während der Fahrt von einem Boot aus zusteigt und sich von dem jungen Mädchen angezogen fühlt. So wie sie sich an der Landschaft weidet, „erholen“ sich die Augen des Arztes, der eben noch Typhus und Skorbut behandelt hat, durch die Betrachtung der 16Jährigen: „Eine Erholung, so etwas anzuschauen. Wie selten sind Jugend, Schönheit, Gesundheit so harmonisch beisammen.“ (295) Die Novelle endet mit seiner Abreise, einem bedeutsamen Abschiedskuss und dem Versprechen, sie auf der Heimreise wiederzusehen und beisammenzubleiben.
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Das Schiff mit seinen unterschiedlichen Klassen kann als Heterotopie im Foucault’schen Sinn verstanden werden (Foucault 1993), wobei eine Besonderheit darin besteht, dass Ljubow sich frei zwischen den drei Klassen bewegen kann (wenngleich dies von Seiten des Kapitäns nicht gerne gesehen wird). Außerhalb dieser Heterotopie kennt sie nur den Mikrokosmos ihres Petersburger Pensionats sowie das Landhäuschens ihrer Tante in Pterhof (W 280). Die gesellschaftlichen Zwänge sind in diesem von Zeit und Ort losgelösten Raum weniger strikt als im heimischen Umfeld. Tatsächlich langweilt sie der Aufenthalt im Salon der 1. Klasse, wo ihr der etwa gleichaltrige Aristokratensohn Alescha Murawiew Avancen macht. Fasziniert ist sie viel eher von dem Fremden und Unbekannten, insbesondere dem erfahrenen Arzt Valdevenen, der während der Fahrt von einem Boot aus zusteigt und sich von dem jungen Mädchen angezogen fühlt. So wie sie sich an der Landschaft weidet, „erholen“ sich die Augen des Arztes, der eben noch Typhus und Skorbut behandelt hat, durch die Betrachtung der 16jährigen: „Eine Erholung, so etwas anzuschauen. Wie selten sind Jugend, Schönheit, Gesundheit so harmonisch beisammen“ (W295) Die Novelle endet mit seiner Abreise, einem bedeutsamen Abschiedskuss und dem Versprechen, sie auf der Heimreise wiederzusehen und beisammenzubleiben.
     

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