"El Etnógrafo" (Jorge Luis Borges)

Aus Lexikon Traumkultur
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El Etnógrafo (dt. "Der Ethnograph") ist der Titel einer ca. eine DIN-A4 Seite umfassenden Kurzgeschichte (span. "cuento") des berühmten argentinischen Autors Jorge Luis Borges (1899-1986). Das Cuento erschien 1969 in der Erzählungssammlung Elogio de la sombra (dt. "Lob des Schattens"). Das Motiv des Traums spielt dabei eine wesentliche Rolle und verdeutlicht das Spannungsfeld von westlicher Wissenschaft und indigenem Geheimwissen.


Inhalt des Cuentos

In El Etnógrafo geht es um den Studenten Fred Murdock, der Teil einer indigenen Gesellschaft wird mit dem Ziel, diese und ihre Geheimnis zu studieren und anschließend die Ergebnisse in einer Doktorarbeit zu veröffentlichen. Doch im Laufe seiner Zeit dort macht er eine Entwicklung durch.


Analyse und Interpretation

Fred Murdocks "Abenteuer" wird eingangs als real geschehene Begebenheit präsentiert, von der der Erzähler in Texas gehört habe, die sich aber in einem anderen Bundesstaat abgespielt haben soll. Der Student ist also in das Umfeld der US-amerikanischen, westlichen universitären Wissenschaft einzuordnen. Er begibt sich zu einem indigenen Stamm mit dem Ziel, von den Stammesangehörigen als einer der Ihren akzeptiert und dann in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden. Nach Erreichung dieses Ziels will er zur Universität zurückzukehren und eine wissenschaftliche Arbeit darüber schreiben.

Während des Zeitraums von über zwei Jahren passt er sich an die Lebensweise der indígenas an, träumt gar in einer ihm ursprünglich fremden Sprache ("llegó a soñar en un idioma que no era el de sus padres"; "träumte schließlich in einer Sprache, die nicht die seiner Väter war"). Diese Anpassung wird aus der Perspektive der westlichen Zivilisation dargestellt, die Umstände werden als widrig, die fremden Gewohnheiten als seltsam beschrieben:

"Acostumbró su paladar a sabores ásperos, se cubrió con ropas extrañas, […] llegó a pensar de una manera que su lógica rechazaba."
("Er gewöhnte seinen Gaumen an rauhe Geschmäcke, trug sonderbare Kleider, […] und dachte sogar auf eine Weise, die seine Logik verwarf.")

Der Kontrast der Denkweisen und Gebräuche als ausgewachsene Zwei-Welten-Erfahrung wird bereits deutlich: Die indigene Denkweise steht im Gegensatz zur Logik. Doch klingt durch das Possessivpronomen "su" auch schon ein gewisser Perspektivenwechsel an. Zuvor waren die Geschmacksrichtungen noch unhinterfragt allgemein als rau bezeichnet worden, die Kleidung als seltsam. Doch nun wird markiert, dass es sich keineswegs um die Logik allgemein handelt, welche der indigenen Denkweise ablehnend gegenüber stehen würde, sondern vielmehr um die spezielle Logik dieser einen Figur Fred Murdock, die man mit der Logik der westlichen Wissenschaft, aus der er kommt, identifizieren kann. Murdocks Forschungsvorhaben bleibt jedoch vorerst intakt, er verfasst Notizen, ist in der Rolle von einer Art "Doppelagent". Diese Information wird eingeleitet durch die Angabe einer zeitlichen Begrenzung: "durante los primeros meses" ("während der ersten Monate"). Danach hört Murdock nicht nur auf, Notizen zu machen, sondern zerreißt sogar die bereits vorhandenen. Dafür werden zwei mögliche Gründe genannt: Vielleicht wollte er kein Misstrauen erregen oder brauchte die Notizen einfach nicht mehr.

Nach einer gewissen Zeit moralischer und physischer Übungen weist der "sacerdote", d.h. der religiöse bzw. spirituelle Anführer des Stammes, ihn an, sich an seine Träume zu erinnern und sie ihm direkt bei Tagesanbruch anzuvertrauen. Es ist die Rede davon, dass Murdock wiederholt in Vollmondnächten von Bisons träumt und das dem sacerdote erzählt. Direkt im Anschluss an diese Feststellung folgt, nur schwach abgetrennt durch ein Semikolon: "éste [el sacerdote] acabó por revelarle su doctrina secreta." ("dieser [der sacerdote] enthüllte ihm schließlich seine Geheimlehre"). Murdocks Träume und deren Inhalt, der lediglich durch das Motiv des Bisons bestimmt wird, sind also offenbar entscheidend für die Einweihung in das Geheimnis. Warum und inwiefern genau dieser Faktor so wichtig ist, wird nicht erklärt. Es erscheint aber naheliegend, dass das Bison als stark mit dem täglichen Leben der indígenas verbundenes Tier und die Kontinuität, mit der es in Murdocks Träumen auftritt, seine tiefgreifende Integration in die Lebens- und Denkweise des Stammes verdeutlichen, er sich daher als einer der Ihren für würdig erwiesen hat, das Geheimnis zu kennen.

Der Leser könnte nun erwarten, dass Murdock als voll integriertes Mitglied des Stammes das Interesse an der wissenschaftlichen Arbeit, das seine ursprüngliche Handlungsmotivation für den Aufbruch und die Integration in diese indigene Gesellschaft war, verloren habe und dort bliebe. Es heißt jedoch, eines Morgens – ohne dass eine genaue zeitliche Relationierung zum Zeitpunkt der Geheimnisenthüllung erfolgt – sei er, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden, gegangen.

Die mögliche Vermutung, dass der Protagonist nun wie geplant seine Doktorarbeit schreiben würde, wird jedoch sogleich widerlegt. Es wird beschrieben, dass er seinem Professor seine Entscheidung mitteilt, das Geheimnis nicht zu veröffentlichen. An dieser Stelle wechselt der Autor von einer heterodiegetischen Erzählweise zur direkten Rede. Als Grund für seine Entscheidung gibt der Protagonist an:

"En esas lejanías aprendí algo que no puedo decir." ("In diesen Einöden habe ich etwas gelernt, das ich nicht aussprechen kann.")

und als weiteren Grund:

"El secreto es precioso y […] ahora la ciencia, nuestra ciencia, me parece una mera frivolidad." ("das Geheimnis [ist] kostbar ist und […] mir [erscheint] jetzt die Wissenschaft, unsere Wissenschaft, als bloße Frivolität").

Durch den Perspektivenwechsel wird hier folglich zu einer Kritik der Wissenschaft gelangt, konkret der Wissenschaft wie sie ein "Wir", das der westlichen Kultur zuzuschreiben ist, vertritt. Das Ergründen von Geheimnissen, das Durch-Analysieren und Veröffentlichen, in gewisser Weise damit der Fortschritt, wie ihn die Aufklärung versteht, wird abgewertet im Vergleich zum Bewahren von Geheimnissen und dem individuellen Weg der Erkenntnis, den jeder selbst gehen muss:

"El secreto […] no vale lo que valen los caminos que me condujeron a él. Esos caminos hay que andarlos." ("Überdies ist das Geheimnis nicht wert, was die Wege wert sind, die mich zu ihm geführt haben. Diese Wege gilt es zu gehen.")

Das erinnert an den beliebten Aphorismus "Der Weg ist das Ziel".

Der Leser, der nun glauben mag, Murdock sei zur anderen Kultur und Sichtweise 'übergelaufen', wird erneut überrascht und verunsichert angesichts der Aussage, er werde (vielleicht) nicht zu dem Stamm zurückkehren. An dieser Stelle erfolgt eine weitere Aufwertung der Tragweite und Kraft des Geheimnisses:

"Lo que me enseñaron sus hombres [de la pradera] vale para cualquier lugar y para cualquier circunstancia." ("Was ihre [der Prärie] Männer mich gelehrt haben, gilt für alle Orte und alle Lebensumstände.")

Es handelt sich also um eine tiefe und universelle Erkenntnis. Ganz im Einklang mit dem Plädoyer für die Wahrung des Geheimnisses wird auch dem Leser nicht verraten, worin dieses Geheimnis nun eigentlich besteht.

Abschließend wird lapidar bemerkt, dass Murdock eine Hochzeit und eine Scheidung vollzogen habe und jetzt einer der Bibliothekare in Yale sei. Er kehrte also in die westliche Zivilisation zurück, machte Lebenserfahrungen wie so viele Menschen, die das Geheimnis nicht kennen, seine Ehe scheiterte ebenfalls und er befindet sich wieder im Arbeitsumfeld der westlichen Wissenschaft. Und doch, so könnte man ergänzen bzw. fragen, ist etwas anders.

Fazit

Der Traum in Borges' Cuento El Etnógrafo ist eingebettet in einen Zusammenprall von westlicher Wissenschaft und indigenem Geheimwissen.[1] Er ist Schlüsselelement und Indikator der spirituellen Reife und Zugehörigkeit, woraufhin der Ethnograph aus dem Titel Zugang zum Geheimnis des Stammes erhält. Durch einen Perspektivenwechsel entlarvt diese Erzählung die sich gerne als universell betrachtenden Spielregeln der westlichen Wissenschaftskultur als nur eine mögliche Weltsicht von mehreren, speziell in Kontrast gesetzt zu einer Weltsicht, die Geheimnisse bewahrt und sie je nach individueller Entwicklung offenbart. Folglich gewährt hier der Traum, wie so oft in der Literatur (vgl. etwa Gómez Trueba, 14, 56, 71, 82, 101), Zugang zu privilegierten Bereichen von Wissen und großen Wahrheiten – hier allerdings werden diese nicht traumimmanent erlangt und kommuniziert, sondern in der Wachrealität durch die Figur des sacerdote. Der Traum dient hier somit auch (mittelbar) einer Art Gegendiskurs zur westlichen, speziell durch den Geist der Aufklärung geprägten Weltsicht.


Nicole Häffner


Literatur

Ausgaben

  • Borges, Jorge Luis, El Etnógrafo. In: Ders., Elogio de la sombra. Buenos Aires: Emecé 1969, ##.
  • Borges, Jorge Luis: El Etnógrafo. In: Ders., Obras completas. Bd. 2: 1923-1972. Hg. von Carlos V. Frías. Buenos Aires: Emecé 1974, 989 f. (= zitierte Ausgabe).

Engl. Übersetzung: Borges, Jorge Luis: ##. In: Ders.: Collected Fictions. Übers. von Andrew Hurley. London: Penguin 1999, ###.

Dt. Übersetzung:

  • Borges, Jorge Luis, Der Ethnograph. In: Ders., Lob des Schattens. München: Hanser 1978, ###.
  • Borges, Jorge Luis, Der Ethnograph. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Bd. 12: Schatten und Tiger: Gedichte 1966-1972; Elogio de la sombra/Lob des Schattens; El oro de los tigres/Das Gold der Tiger. Übers. von Gisbert Haefs. München: Hanser 1994, 40 f. (= zitierte Ausgabe).


Forschungsliteratur


Anmerkungen

  1. Ein solcher Zusammenprall bzw. ein Sich-Kreuzen oder Sich-Begegnen von Kulturen ist im Werk von Jorge Luis Borges ein signifikanter Topos (vgl. Podetti).