"La Reprise" (Alain Robbe-Grillet): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
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==Die Stadt als Traum im Nouveau roman==
 
==Die Stadt als Traum im Nouveau roman==
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Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller ErzĂ€hlformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenĂŒberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor (1926-2016) derjenige, der die Stadt am stĂ€rksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind ErzĂ€hlungen eines Urbanen zwischen RealitĂ€t und Imagination. Hinter der vermeintlich realen OberflĂ€che von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginĂ€ren Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frĂŒhem Roman ''Les Gommes'' (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt. So wird der in Hong Kong spielende Roman ''La Maison de rendez-vous'' (1965) mit einem Traumbild eröffnet (Robbe-Grillet 1965, 11) und die in ''Projet pour une rĂ©volution Ă  New York'' (1970) geschilderten, filmĂ€hnlich gestalteten Szenen scheinen dem TraumimaginĂ€ren zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt trĂ€umen – und werden zugleich selbst getrĂ€umt: „vous ĂȘtes rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen StadterzĂ€hlungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films ''L’AnnĂ©e derniĂšre Ă  Marienbad'') stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner StĂ€dte enthalten „Blindfelder" (vgl. KĂŒchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In ''La Reprise'' legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fĂŒnfzig Jahre nach dem Erscheinen von ''Les Gommes'', die Gesamtheit seiner imaginierten StĂ€dte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins ĂŒbereinander (Calle-Gruber 2001, 616). Dabei ist nicht nur die Stadt ein Ort des Traums, sondern die gesamte ErzĂ€hlung wird von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert.
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Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller ErzĂ€hlformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenĂŒberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor (1926-2016) derjenige, der die Stadt am stĂ€rksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind ErzĂ€hlungen eines Urbanen zwischen RealitĂ€t und Imagination. Hinter der vermeintlich realen OberflĂ€che von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginĂ€ren Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frĂŒhem Roman ''Les Gommes'' (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt.<ref>Zum Zusammenhang von Stadt und Traum vgl. auch Oster 2022. </ref> So wird der in Hong Kong spielende Roman ''La Maison de rendez-vous'' (1965) mit einem Traumbild eröffnet (Robbe-Grillet 1965, 11) und die in ''Projet pour une rĂ©volution Ă  New York'' (1970) geschilderten, filmĂ€hnlich gestalteten Szenen scheinen dem TraumimaginĂ€ren zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt trĂ€umen – und werden zugleich selbst getrĂ€umt: „vous ĂȘtes rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen StadterzĂ€hlungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films ''L’AnnĂ©e derniĂšre Ă  Marienbad'') stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner StĂ€dte enthalten „Blindfelder" (KĂŒchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In ''La Reprise'' legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fĂŒnfzig Jahre nach dem Erscheinen von ''Les Gommes'', die Gesamtheit seiner imaginierten StĂ€dte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins ĂŒbereinander (Calle-Gruber 2001, 616). Die Spezifik dieses Bildes im Spannungsfeld von realer StadtoberflĂ€che, intertextuellen Verweisen auf andere Stadtdarstellungen Robbe-Grillets und Imagination des Urbanen kommt insbesondere dadurch zustande, dass die gesamte ErzĂ€hlung von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert wird.  
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Die EindrĂŒcke von Robins „rĂȘveuses spĂ©culations“ (R 11) entspringen keinem markierten Traum. Stattdessen stehen die gesamte Wahrnehmung der Figur und mit ihr das daraus hervorgehende ErzĂ€hlen in seiner UnzuverlĂ€ssigkeit vom Prolog an unter den Vorzeichen eines oneirischen Erlebens. Der Prozess des TrĂ€umens tritt dabei immer wieder in Beziehung zu anderen Modi der Erfahrung.
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Die EindrĂŒcke von Robins „rĂȘveuses spĂ©culations“ (R 11) entspringen keinem markierten Traum. Stattdessen stehen die gesamte Wahrnehmung der Figur und mit ihr das daraus hervorgehende ErzĂ€hlen in seiner UnzuverlĂ€ssigkeit vom Prolog an unter den Vorzeichen eines oneirischen Erlebens. Es steht im Dienst einer Poetik der Sinnverschiebung, die sich nicht nur in ''La Reprise'' als zentral fĂŒr Robbe-Grillets Werk erweist. Die Auflösung der Grenze von Wirklichkeit und Traum bzw. Imagination, die den spĂ€ten Roman von Beginn an prĂ€gt, fĂŒhrt ins Zentrum von Robbe-Grillets Vorstellung von Literatur: „L’Ɠuvre moderne, au contraire, se prĂ©sente comme un espace non balisĂ©, traversĂ© dans des directions diverses par des sens multiples et changeants; et, dans cette circulation du sens Ă  travers l’Ɠuvre, le sens lui-mĂȘme est moins important que le fait qu’il circule, glisse, se modifie“ (Fano 1976, 176). Der Sinn und die Logik der ErzĂ€hlung sollen nicht eindeutig festgelegt sein, sondern sich aus der Bewegung und der bestĂ€ndigen Verschiebung immer anders konstituieren (Steurer 2016, 366). Indem in ''La Reprise'' ĂŒber weite Teile des Romans nicht sicher bestimmt werden kann, ob gerade getrĂ€umt oder im Wachzustand gehandelt wird, erhĂ€lt diese Sinnverschiebung eine besondere Form der Anschauung. Der Prozess des TrĂ€umens tritt dabei immer wieder in Beziehung zu anderen Modi der Erfahrung.
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===Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie===
 
===Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie===
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Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman ''Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints'' beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon LecƓur se rĂ©veilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar“ (Robbe-Grillet 1981, 78). Der im Schlaf erfahrene Albtraum LecƓurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich ĂŒber den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in ''Djinn'' angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in ''La Reprise'' ausgebaut und erscheint dort als strukturbildendes Element: Jedes der fĂŒnf Kapitel, die scheinbar fĂŒnf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka zutage, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darĂŒber, ob die Figuren Dinge trĂ€umen oder in der RealitĂ€t erleben (Goumegou 2011, 216 f.). LĂ€sst sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des TraumphĂ€nomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in ''La Reprise'' auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin getrĂ€umt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „je m’endors aussitĂŽt, d’un profond sommeil sans rĂȘve“ (R 42). Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nĂ€mlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „PremiĂšre journĂ©e“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch frĂŒher situiert ist (Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende DoppelgĂ€nger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen - eine Variante der TraumerzĂ€hlung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel lĂ€nger als angenommen geschlafen hat (vgl. R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, Ă€hnlich wie Kreuzer das fĂŒr Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als RealitĂ€t identifizierbar ist.<ref>Vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119.</ref> Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der UnzuverlĂ€ssigkeit. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se rĂ©veille“ (R 70); „se rĂ©veille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106); „HR se rĂ©veille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunĂ€chst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:  
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Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman ''Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints'' beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon LecƓur se rĂ©veilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar“ (Robbe-Grillet 1981, 78). Der im Schlaf erfahrene Albtraum LecƓurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich ĂŒber den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in ''Djinn'' angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in ''La Reprise'' ausgebaut und erscheint dort als strukturbildendes Element: Jedes der fĂŒnf Kapitel, die scheinbar fĂŒnf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka zutage, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darĂŒber, ob die Figuren Dinge trĂ€umen oder in der RealitĂ€t erleben (Goumegou 2011, 216 f.). LĂ€sst sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des TraumphĂ€nomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in ''La Reprise'' auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin getrĂ€umt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „je m’endors aussitĂŽt, d’un profond sommeil sans rĂȘve“ (R 42). Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nĂ€mlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „PremiĂšre journĂ©e“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch frĂŒher situiert ist (Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende DoppelgĂ€nger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen - eine Variante der TraumerzĂ€hlung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel lĂ€nger als angenommen geschlafen hat (R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, Ă€hnlich wie Kreuzer das fĂŒr Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als RealitĂ€t identifizierbar ist.<ref>Vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119.</ref> Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der UnzuverlĂ€ssigkeit und der LĂŒckenhaftigkeit. Die TextĂ€sthetik von Robbe-Grillets Gesamtwerk beruht in besonderem Maße auf dem Spiel mit – teilweise auch typographisch sichtbaren – Leerstellen. Als Orte der Uneindeutigkeit sind sie wesentliche Bestandteile seiner „circulation du sens“. Auch die Leerstellen, die daraus entstehen, dass der Ort von Schlafen und Wachen ebenso unbestimmbar ist wie der RealitĂ€ts- oder Traumbezug des Erlebten, fungieren als Indizien und Gestaltungsmomente dieser Sinnverschiebung. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se rĂ©veille“ (R 70); „se rĂ©veille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106); „HR se rĂ©veille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunĂ€chst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:  
  
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
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Die InkohĂ€renz der Traumwelt, in der die Einzelsequenzen in keiner abschließenden logischen Beziehung zueinander stehen, beschreibt die Struktur des Romans selbst als Spiel mit der UnzuverlĂ€ssigkeit von ErzĂ€hler und ErzĂ€hlung sowie der Chronologie der Ereignisse (Schneider 2005, 149; Steurer 2021, 326). Der Roman erhĂ€lt auf diese Art ZĂŒge einer (alb-)traumhaften Erfahrungswelt, die Robin, wie das Lesepublikum, in einem „brouillard onirique" (R 172) zurĂŒcklĂ€sst. Die Szenen des (vermeintlichen) Erwachens sind dabei nicht nur als TrĂ€ume interpretierbar, sondern werden am fĂŒnften Tag selbst zu Trauminhalten: „HR rĂȘve qu’il se rĂ©veille en sursaut dans la chambre sans fenĂȘtre des anciens enfants von BrĂŒcke“ (R 195). Erst ein zweites Erwachen fĂŒhrt, zumindest scheinbar, in die RealitĂ€t zurĂŒck: „Je me suis alors rĂ©veillĂ© pour de bon, mais dans la chambre numĂ©ro 3, Ă  l’hĂŽtel des AlliĂ©s“ (R 196).
 
Die InkohĂ€renz der Traumwelt, in der die Einzelsequenzen in keiner abschließenden logischen Beziehung zueinander stehen, beschreibt die Struktur des Romans selbst als Spiel mit der UnzuverlĂ€ssigkeit von ErzĂ€hler und ErzĂ€hlung sowie der Chronologie der Ereignisse (Schneider 2005, 149; Steurer 2021, 326). Der Roman erhĂ€lt auf diese Art ZĂŒge einer (alb-)traumhaften Erfahrungswelt, die Robin, wie das Lesepublikum, in einem „brouillard onirique" (R 172) zurĂŒcklĂ€sst. Die Szenen des (vermeintlichen) Erwachens sind dabei nicht nur als TrĂ€ume interpretierbar, sondern werden am fĂŒnften Tag selbst zu Trauminhalten: „HR rĂȘve qu’il se rĂ©veille en sursaut dans la chambre sans fenĂȘtre des anciens enfants von BrĂŒcke“ (R 195). Erst ein zweites Erwachen fĂŒhrt, zumindest scheinbar, in die RealitĂ€t zurĂŒck: „Je me suis alors rĂ©veillĂ© pour de bon, mais dans la chambre numĂ©ro 3, Ă  l’hĂŽtel des AlliĂ©s“ (R 196).
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===GetrÀumte Erinnerung, erinnerte TrÀume===
 
===GetrÀumte Erinnerung, erinnerte TrÀume===
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: <span style="color: #7b879e;">Au cours de son sommeil (et donc dans une temporalitĂ© diffĂ©rente), l’un de ses cauchemars les plus frĂ©quents s’est dĂ©roulĂ© une fois enore, de façon correcte, sans le rĂ©veiller: le petit Henri devait ĂȘtre ĂągĂ©, tout au plus, d’une dizaine d’annĂ©es (R 68).
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: <span style="color: #7b879e;">Au cours de son sommeil (et donc dans une temporalitĂ© diffĂ©rente), l’un de ses cauchemars les plus frĂ©quents s’est dĂ©roulĂ© une fois enore, de façon correcte, sans le rĂ©veiller: le petit Henri devait ĂȘtre ĂągĂ©, tout au plus, d’une dizaine d’annĂ©es. Il lui a fallu demander au rĂ©pĂ©titeur l’autorisation de quitter la salle d’étude pour assouvir un menu besoin urgent. Il erre maintenant Ă  travers les cours de rĂ©crĂ©ation abandonnĂ©es, il longe des prĂ©aux Ă  arcades et d’interminables couloirs dĂ©serts, il monte des escaliers, dĂ©bouche sur d’autres couloirs, ouvre inutilement de multiples portes. Personne, nulle part, n’est lĂ  pour le renseigner, et il ne retrouve aucun des endroits propices dissĂ©minĂ©s dans la gigantesque Ă©cole (est-ce le lycĂ©e Buffon?). Il pĂ©nĂštre Ă  la fin, par hasard, dans sa propre salle de classe et il constate aussitĂŽt que sa place habituelle, d’ailleurs prescrite et qu’il vient de quitter quelques instants plus tĂŽt (de longs instants?), est Ă  prĂ©sent occupĂ©e par un autre garçon du mĂȘme Ăąge, un nouveau sans doute car il ne le reconnaĂźt pas. Mais, en l’observant avec plus d’attention, le jeune Henri s’aperçoit que l’autre lui ressemble beaucoup, sans que cela l’étonne outre mesure. Les visages de ses camarades se tournent l’un aprĂšs l’autre vers la porte, pour considĂ©rer avec une Ă©vidente dĂ©sapprobation l’intrus qui est demeurĂ© sur le seuil, ne sachant plus oĂč aller: il n’y a pas un banc de libre dans toute l’étude... Seul l’usurpateur reste penchĂ© sur son pupitre, oĂč il poursuit avec application la rĂ©daction de sa composition française, d’une trĂšs petite Ă©criture, fine et rĂ©guliĂ©re, sans une rature (R 68 f.).
  
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: <span style="color: #7b879e;">WÀhrend seines Schlafs (und also in einer anderen Zeitlichkeit) lief wieder einmal einer seiner hÀufigsten AlptrÀume ab, auf korrekte Art, ohne ihn zu wecken: der kleine Henri war wohl allerhöchstens zehn Jahre alt (W 65).</span>
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: <span style="color: #7b879e;">WĂ€hrend seines Schlafs (und also in einer anderen Zeitlichkeit) lief wieder einmal einer seiner hĂ€ufigsten AlptrĂ€ume ab, auf korrekte Art, ohne ihn zu wecken: der kleine Henri war wohl allerhöchstens zehn Jahre alt. Er mußte den Aufseher um Erlaubnis bitten, den Arbeitsraum verlassen zu dĂŒrfen, um ein dringendes kleines GeschĂ€ft zu verrichten. Er irrt jetzt durch die verlassenen Schulhöfe, entlang an ĂŒberdachten Pausenhallen mit Arkaden und durch endlose leere Flure, geht Treppen hinauf, stĂ¶ĂŸt auf andere Flure, öffnet sinnlos zahlreiche TĂŒren. Nirgendwo ist jemand, um ihm Auskunft zu geben, und er findet keines der in der riesigen Schule (ist es das LycĂ©e Buffon?) verstreuten Örtchen. Am Ende kommt er zufĂ€llig in sein eigenes Klassenzimmer und stellt sogleich fest, daß sein gewohnter, ihm ĂŒbrigens zugewiesener Platz, den er eine Weile zuvor (eine lange Weile?) verlassen hat, jetzt von einem Jungen im gleichen Alter besetzt ist, wahrscheinlich einem Neuen, denn er erkennt ihn nicht. Als er ihn aber aufmerksamer betrachtet, merkt der junge Henri, ohne daß ihn das ĂŒbermĂ€ĂŸig erstaunt, daß der andere ihm sehr Ă€hnlich sieht. Die Gesichter seiner Kameraden wenden sich nacheinander zur TĂŒr, um mit offensichtlicher Mißbilligung den Eindringling zu mustern, der auf der Schwelle stehengeblieben ist und nicht mehr weiß, wohin er gehen soll: im ganzen Arbeitsraum ist keine Bank frei... Nur der Usurpator bleibt ĂŒber sein Pult gebeugt, wo er eifrig an seinem französischen Aufsatz weiterschreibt, mit einer sehr kleinen, feinen und regelmĂ€ĂŸigen Schrift ohne Verbesserungen (W 65 f.).</span>
 
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Robin trĂ€umt einen wiederkehrenden „rĂȘve rĂ©current des cabinets introuvables“ (R 71), in dem sein kindliches Ich verzweifelt nach den ToilettenrĂ€umen sucht. Indem der Schlaf als „andere Zeitlichkeit" bezeichnet wird, erhĂ€lt umgekehrt auch die Vergangenheit eine traumartige Dimension. Dazu passt ebenso, dass der Agent vermeintliche Erinnerungsbilder an einer anderen Stelle als Traumreste, „rĂ©sidus flottants d’un morceau de rĂȘve“ (R 115), identifiziert. Sowohl in ihrer Fragmentstruktur als auch in der Ziellosigkeit der Bewegung spiegeln die „herumschwebenden Überbleibsel eines Traumabschnitts“ (R 110), so die deutsche Übersetzung, die Orientierungslosigkeit Robins wie die labyrinthische Anlage des Romans wider. Sie stellen damit den Gesamttext unter das Vorzeichen einer getrĂ€umten Erfahrung.  
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Robin trĂ€umt einen wiederkehrenden „rĂȘve rĂ©current des cabinets introuvables“ (R 71), in dem sein kindliches Ich verzweifelt nach den ToilettenrĂ€umen sucht. Die Destabilisierung, die auch das (scheinbare) Wacherleben des Agenten prĂ€gt, wird in den Trauminhalt ĂŒberfĂŒhrt: Seine Suche wird als Irrfahrt bezeichnet, er weiß nicht, wie lange er ĂŒberhaupt den Arbeitsraum verlassen hat, und sieht sich bei der RĂŒckkehr einer weiteren DoppelgĂ€ngerfigur gegenĂŒbergestellt. Auch die akkurate Schrift des DoppelgĂ€ngers ist eine Anspielung auf Robin selbst, der als Erwachsener den Bericht seiner eigenen Mission in einer „petite Ă©criture fine, et sans rature“ (R 31) festhĂ€lt. Indem der Schlaf als „andere[n] Zeitlichkeit“ bezeichnet wird, erhĂ€lt im Traum die Vergangenheit eine oneirische Dimension. Gleichzeitig wird der Traumbericht als ErzĂ€hlform dadurch unterlaufen, dass auf ihn nicht unmittelbar eine Szene des Erwachens folgt. Stattdessen schließt sich eine Fußnote an, in der die zweite ErzĂ€hlstimme den Traumbericht als „prĂ©texte assez artificiel d’un rĂ©cit de rĂȘve“ (R 69) zu entlarven versucht. Der Traum, so wird hier suggeriert, sei eine bloße Erfindung Robins. Das Tempus schreibt den Traumbericht zugleich in die Uneindeutigkeit der Zuordnung zu einer der beiden Welten ein: Nur der Beginn des Berichts ist im Imparfait bzw. PassĂ© composĂ© verfasst, wĂ€hrend alle folgenden Ereignisse im PrĂ€sens wiedergegeben und in einem unbestimmten „maintenant“ situiert werden. In der SimultaneitĂ€t der möglichen Lesarten – Bericht seines tatsĂ€chlichen Traumes, absichtsvoll erfundener Traumbericht, Erinnerung an die Kindheit, verfremdetes Erleben des erwachsenen Agenten in Berlin – trĂ€gt auch der berichtete Traum zur „circulation du sens“ bei. Dazu passt ebenso, dass der Agent vermeintliche Erinnerungsbilder an einer anderen Stelle als Traumreste, „rĂ©sidus flottants d’un morceau de rĂȘve“ (R 115) identifiziert. Sowohl in ihrer Fragmentstruktur als auch in der Ziellosigkeit der Bewegung spiegeln die „herumschwebende[n] Überbleibsel eines Traumabschnitts“ (R 110), so die deutsche Übersetzung, die Orientierungslosigkeit Robins wie die labyrinthische Anlage des Romans wider und stellen den Gesamttext unter das Vorzeichen einer getrĂ€umten Erfahrung.  
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===Das Material der TrÀume===
 
===Das Material der TrÀume===
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Robbe-Grillets u.a. von Roland Barthes beschriebene ObjektĂ€sthetik (Barthes 1978) und seine Faszination fĂŒr MaterialitĂ€tsfragen schlagen sich in auch innerhalb des Traumdiskurses in ''La Reprise'' nieder. Ein wiederkehrendes Objekt, das keinem Handlungsstrang bzw. keiner Figur konkret zugeordnet werden kann, ist ein eleganter Damenschuh. Als „chaussure de bal Ă  haut talon“ (R 75) oder „fin soulier noir Ă  haut talon“ (R 119) taucht er an diversen Stellen des Romans auf (vgl. auch R 112, 159, 187, 190, 194, 195, 208), insbesondere in den an TrĂ€ume grenzenden Erinnerungen. DarĂŒber hinaus ist er vor allem in den Szenen prĂ€sent, in denen die Vergewaltigung des MĂ€dchens Gigi geschildert wird – ob diese Darstellungen der fiktionalen RealitĂ€t angehören oder Fantasien bzw. TrĂ€ume Robins sind, bleibt in der Schwebe. Auf Gigi verweist zudem die „poupĂ©e martyrisĂ©e sort[ie] tout droit d’un rĂȘve d’enfant“ (R 210) als aus einem Traum stammendes Objekt.  
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Robbe-Grillets u.a. von Roland Barthes beschriebene ObjektĂ€sthetik (Barthes 1978) und seine Faszination fĂŒr MaterialitĂ€tsfragen schlagen sich in auch innerhalb des Traumdiskurses in ''La Reprise'' nieder. Ein wiederkehrendes Objekt, das keinem Handlungsstrang bzw. keiner Figur konkret zugeordnet werden kann, ist ein eleganter Damenschuh. Als „chaussure de bal Ă  haut talon“ (R 75) oder „fin soulier noir Ă  haut talon“ (R 119) taucht er an diversen Stellen des Romans auf (R 112, 159, 187, 190, 194, 195, 208), insbesondere in den an TrĂ€ume grenzenden Erinnerungen. DarĂŒber hinaus ist er vor allem in den Szenen prĂ€sent, in denen die Vergewaltigung des MĂ€dchens Gigi geschildert wird – ob diese Darstellungen der fiktionalen RealitĂ€t angehören oder Fantasien bzw. TrĂ€ume Robins sind, bleibt in der Schwebe. Auf Gigi verweist zudem die „poupĂ©e martyrisĂ©e sort[ie] tout droit d’un rĂȘve d’enfant“ (R 210) als aus einem Traum stammendes Objekt.  
  
 
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklĂ€rlicherweise zwei Markierungen enthĂ€lt. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur“ (R 71). Die Karte signalisiert eine Verzerrung der RealitĂ€t im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren SchwellenrĂ€umen und „Garanten des Kippens in SphĂ€ren des ImaginĂ€ren und Traumanalogen“ (KĂŒchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
 
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklĂ€rlicherweise zwei Markierungen enthĂ€lt. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur“ (R 71). Die Karte signalisiert eine Verzerrung der RealitĂ€t im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren SchwellenrĂ€umen und „Garanten des Kippens in SphĂ€ren des ImaginĂ€ren und Traumanalogen“ (KĂŒchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
  
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Von zentraler Bedeutung fĂŒr die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre FiktivitĂ€t hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem ImaginĂ€ren und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte KlappbrĂŒcke (R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet bezeichnet die KlappbrĂŒcke und die TĂŒr als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-Ă€sthetischen Schaffens (Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmĂ€ĂŸiges Pflaster und ist von „pavĂ©s disjoints“ (R 58) ĂŒberzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints'', sondern weisen darĂŒber hinaus zurĂŒck auf Marcel Prousts ''À la recherche du temps perdu'' (Steurer 2021, 335 f.): Im letzten Band des Romans bleibt Marcel im Hof des HĂŽtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hĂ€ngen (Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, Ă€hnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt ĂŒber die unebenen Steine in eine andere Dimension. WĂ€hrend aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavĂ©s disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der RealitĂ€t oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von BrĂŒcke in RĂ€umen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des GebĂ€udes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extĂ©rieures de la maison sur le canal“ (R 164). InkompatibilitĂ€t und InkohĂ€renz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen StrĂ€ngen, die die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und RealitĂ€t ansiedeln.
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Von zentraler Bedeutung fĂŒr die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre FiktivitĂ€t hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem ImaginĂ€ren und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte KlappbrĂŒcke (R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet bezeichnet die KlappbrĂŒcke und die TĂŒr als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-Ă€sthetischen Schaffens, das auf der unaufhörlichen Verschiebung des Sinns beruht: „La porte, le pont tournant, ce sont peut-ĂȘtre
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des objets qui ne sont pas lĂ  par hasard, mais parce qu’ils sont essentiels dans cette fonction de circulation du sens qui m’aurait obsĂ©dĂ© depuis mon plus
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jeune Ăąge“ (Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmĂ€ĂŸiges Pflaster und ist von „pavĂ©s disjoints“ (R 58) ĂŒberzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints'', sondern weisen darĂŒber hinaus zurĂŒck auf Marcel Prousts ''À la recherche du temps perdu'' (Steurer 2021, 335 f.): Im letzten Band des Romans bleibt Marcel im Hof des HĂŽtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hĂ€ngen (Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, Ă€hnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt ĂŒber die unebenen Steine in eine andere Dimension. WĂ€hrend aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavĂ©s disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der RealitĂ€t oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von BrĂŒcke in RĂ€umen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des GebĂ€udes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extĂ©rieures de la maison sur le canal“ (R 164). InkompatibilitĂ€t und InkohĂ€renz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen StrĂ€ngen, die die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und RealitĂ€t ansiedeln.
  
  
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* Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rĂȘve. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
 
* Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rĂȘve. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
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* Fano, Michel: IV. L’ordre musical chez Alain Robbe-Grillet. Le discours sonore dans ses films. In: Jean Ricardou (Hg.): Robbe-Grillet. Colloque de Cerisy. Paris: Union GĂ©nĂ©rale d’Éditions 1976. Bd. 1, 173-186.
  
 
* Goumegou, Susanne: Surrealistisch oder kafkaesk? Zur Traumpoetik Roger Caillois’ und dem Problem literarischer Traumhaftigkeit im 20. Jahrhundert. In: Dies./Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 195-225.
 
* Goumegou, Susanne: Surrealistisch oder kafkaesk? Zur Traumpoetik Roger Caillois’ und dem Problem literarischer Traumhaftigkeit im 20. Jahrhundert. In: Dies./Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 195-225.
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* KĂŒchler, Kerstin: „Blindfelder“ – StadtlektĂŒren bei Robbe-Grillet. In: Volker Roloff/Scarlett Winter/Christian von Tschilschke (Hg.): Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust. TĂŒbingen: Stauffenburg 2011, 161-172.
 
* KĂŒchler, Kerstin: „Blindfelder“ – StadtlektĂŒren bei Robbe-Grillet. In: Volker Roloff/Scarlett Winter/Christian von Tschilschke (Hg.): Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust. TĂŒbingen: Stauffenburg 2011, 161-172.
  
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* Oster, Patricia: RĂȘver la ville „Fourmillante citĂ©. CitĂ© pleine de rĂȘves“ (Baudelaire – Rimbaud – Calvino – Nolan). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.), Typologizing the Dream/Le rĂȘve du point de vue typologique. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2022 (Cultural Dream Studies 5), 565–582.
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* Oster, Patricia: RĂȘver la ville: „Fourmillante citĂ©. CitĂ© pleine de rĂȘves“ (Baudelaire – Rimbaud – Calvino – Nolan). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Typologizing the Dream/Le rĂȘve du point de vue typologique. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2022 (Cultural Dream Studies 5), 565–582.
  
 
* Porter, Laurence M.: The Dream. Framing and Function in French Literature. In: Tom Conner (Hg.): Dreams in French Literature. The Persistent Voice. Amsterdam: Rodopi 1995, 105-122.
 
* Porter, Laurence M.: The Dream. Framing and Function in French Literature. In: Tom Conner (Hg.): Dreams in French Literature. The Persistent Voice. Amsterdam: Rodopi 1995, 105-122.
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* Steurer, Hannah: „Circulation du sens am pont tournant“. Die BrĂŒcke als Denkfigur bei Alain Robbe-Grillet. In: Julia Lichtenthal/Sabine Narr-Leute/Hannah Steurer (Hg.): Le Pont des Arts. Festschrift fĂŒr Patricia Oster zum 60. Geburtstag. Paderborn: Fink 2016, 365-384.
 
* Steurer, Hannah: „Circulation du sens am pont tournant“. Die BrĂŒcke als Denkfigur bei Alain Robbe-Grillet. In: Julia Lichtenthal/Sabine Narr-Leute/Hannah Steurer (Hg.): Le Pont des Arts. Festschrift fĂŒr Patricia Oster zum 60. Geburtstag. Paderborn: Fink 2016, 365-384.
  
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* Steurer, Hannah: Tableaux de Berlin. Französische Blicke auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2021.
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* Steurer, Hannah: Tableaux de Berlin. Französische Blicke auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2021 (Neues Forum fĂŒr Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 58).
  
 
* Steurer, Hannah: Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet. In: Giulia Lombardi/Simona Oberto/Paul Strohmaier (Hg.): Rekonstruktion, Imagination, GedĂ€chtnis. Ästhetik und Poetik der Ruinen. Berlin: de Gruyter 2022, 335-357.
 
* Steurer, Hannah: Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet. In: Giulia Lombardi/Simona Oberto/Paul Strohmaier (Hg.): Rekonstruktion, Imagination, GedĂ€chtnis. Ästhetik und Poetik der Ruinen. Berlin: de Gruyter 2022, 335-357.
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Aktuelle Version vom 23. Juli 2022, 10:59 Uhr

Alain Robbe-Grillet (1922-2008), einer der bedeutendsten Vertreter des Nouveau roman, veröffentlicht 2001 mit La Reprise einen letzten Roman, dessen Titel programmatisch als Wiederaufnahme und Abschluss seines Gesamtwerks lesbar ist. Innerhalb der von Fragmentarisierung und UnzuverlĂ€ssigkeit des ErzĂ€hlens geprĂ€gten Anlage des Romans fĂ€llt dem Traum als Strategie der Destabilisierung eine entscheidende Rolle fĂŒr die Ausgestaltung von Robbe-Grillets Stadtdiskurs zu.


Die Stadt als Traum im Nouveau roman

Als Ort der Entfremdung erweckt die Stadt von Beginn an das Interesse der Nouveaux romanciers, die ab den 1950er Jahren den Ruinen einer vom Krieg zerstörten Welt die Zerstörung traditioneller ErzĂ€hlformen in einer Ästhetik des Fragments und der Desorientierung gegenĂŒberstellen. Innerhalb der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die im Umfeld des Pariser Verlags Minuit dem Nouveau roman zugerechnet werden, ist Alain Robbe-Grillet neben Michel Butor (1926-2016) derjenige, der die Stadt am stĂ€rksten in den Blick nimmt. Fast alle von ihm verfassten Romane sind ErzĂ€hlungen eines Urbanen zwischen RealitĂ€t und Imagination. Hinter der vermeintlich realen OberflĂ€che von Metropolen wie Paris, New York, Hong Kong oder Berlin verbirgt sich der Zusammenhang ein und derselben imaginĂ€ren Stadt. Sie wird ausgehend von der namenlosen und labyrinthartig angelegten Stadt in Robbe-Grillets frĂŒhem Roman Les Gommes (1953) entwickelt. Immer wieder bewegt sie sich im Zeichen einer Traumerfahrung, die scheinbar erlebte Ereignisse als potentiell traumhaft einstuft und auch die Stadtlandschaft in einen Schwellenraum von Traum und Wirklichkeit einschreibt.[1] So wird der in Hong Kong spielende Roman La Maison de rendez-vous (1965) mit einem Traumbild eröffnet (Robbe-Grillet 1965, 11) und die in Projet pour une rĂ©volution Ă  New York (1970) geschilderten, filmĂ€hnlich gestalteten Szenen scheinen dem TraumimaginĂ€ren zu entstammen: „Non, dis-je. Vous avez rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1970, 16). Die Stadt und die Menschen in der Stadt trĂ€umen – und werden zugleich selbst getrĂ€umt: „vous ĂȘtes rĂȘvĂ©" (Robbe-Grillet 1981, 108). Wach- und Traum- bzw. Imaginationszustand sind in diesen StadterzĂ€hlungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Robbe-Grillet konstruiert seine Texte (und Filme, so im Drehbuch des 1961 von Alain Resnais realisierten Films L’AnnĂ©e derniĂšre Ă  Marienbad) stattdessen aus der Uneindeutigkeit: Erfahrungen können nicht abschließend einer der beiden Welten zugeordnet werden. Viele seiner StĂ€dte enthalten „Blindfelder" (KĂŒchler 2011), in denen der Traumcharakter eine besondere Sichtbarkeit gewinnt. In La Reprise legt Robbe-Grillet schließlich, beinahe fĂŒnfzig Jahre nach dem Erscheinen von Les Gommes, die Gesamtheit seiner imaginierten StĂ€dte in einem intertextuellen Spiel mit dem eigenen Werk zu einem Bild des zerstörten Berlins ĂŒbereinander (Calle-Gruber 2001, 616). Die Spezifik dieses Bildes im Spannungsfeld von realer StadtoberflĂ€che, intertextuellen Verweisen auf andere Stadtdarstellungen Robbe-Grillets und Imagination des Urbanen kommt insbesondere dadurch zustande, dass die gesamte ErzĂ€hlung von einem – zumindest vermeintlichen – Wechsel von Traum- und Wacherlebnissen rhythmisiert wird.


Traumerfahrungen in La Reprise

Strategien unzuverlÀssigen ErzÀhlens und TrÀumens

Angelehnt an die klassische Tragödie ist La Reprise unterteilt in einen Prolog, fĂŒnf Kapitel und einen Epilog. VordergrĂŒndig erzĂ€hlt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der spĂ€ten 1940er Jahre ĂŒbernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollstĂ€ndig eingeweiht ist und in dem die IdentitĂ€ten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgefĂŒhrt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist.[2] Zwischen dem so genannten CafĂ© des AlliĂ©s und dem Haus der Familie von BrĂŒcke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit DoppelgĂ€ngern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide FĂ€lle – Robins Agentenmission und seine IdentitĂ€tssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhĂ€lt ihre Entsprechung in der UnzuverlĂ€ssigkeit des ErzĂ€hlers wie des ErzĂ€hlens. WĂ€hrend bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen ErzĂ€hler hin- und herwechselt, unterlĂ€uft in den Fußnoten eine doppelgĂ€ngerische ErzĂ€hlinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob ĂŒberhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklĂ€rt (Schneider 2005, 141). Die DoppelgĂ€ngerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend fĂŒr das Verwirrspiel der IdentitĂ€ten in La Reprise (Burrichter 2003), sondern scheint sich auch ĂŒber diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise fĂŒr die narratologische Ausgestaltung von TrĂ€umen zu eignen (Solte-Gresser 2011, 255 f.). Ebenso gehen UnzuverlĂ€ssigkeit als ErzĂ€hlstrategie und Traumhaftigkeit des ErzĂ€hlens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).

Der Prolog von La Reprise eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die ErzÀhlung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:

Sous la bleuĂątre lumiĂšre hivernale, des pans de murs hauts de plusieurs Ă©tages dressaient vers le ciel uniformĂ©ment gris leurs dentelles fragiles et leur silence de cauchemar. [...] Comme s’il s’agissait lĂ  d’une reprĂ©sentation surrĂ©elle (une sorte de trou dans l’espace normalisĂ©), tout le tableau exerce sur l’esprit un incomprĂ©hensible pouvoir de fascination (R 10).
Unter dem blĂ€ulichen Winterlicht reckten mehrere Stockwerke hohe MauerstĂŒcke ihre zerbrechlichen Spitzengebilde und ihre Albtraumstille in den eintönig grauen Himmel. [...] Als handelte es sich um eine surreale Darstellung (eine Art Loch im normierten Raum), ĂŒbt das ganze Bild eine unbegreifliche Faszination auf den Geist aus (W 9 f.).

Die EindrĂŒcke von Robins „rĂȘveuses spĂ©culations“ (R 11) entspringen keinem markierten Traum. Stattdessen stehen die gesamte Wahrnehmung der Figur und mit ihr das daraus hervorgehende ErzĂ€hlen in seiner UnzuverlĂ€ssigkeit vom Prolog an unter den Vorzeichen eines oneirischen Erlebens. Es steht im Dienst einer Poetik der Sinnverschiebung, die sich nicht nur in La Reprise als zentral fĂŒr Robbe-Grillets Werk erweist. Die Auflösung der Grenze von Wirklichkeit und Traum bzw. Imagination, die den spĂ€ten Roman von Beginn an prĂ€gt, fĂŒhrt ins Zentrum von Robbe-Grillets Vorstellung von Literatur: „L’Ɠuvre moderne, au contraire, se prĂ©sente comme un espace non balisĂ©, traversĂ© dans des directions diverses par des sens multiples et changeants; et, dans cette circulation du sens Ă  travers l’Ɠuvre, le sens lui-mĂȘme est moins important que le fait qu’il circule, glisse, se modifie“ (Fano 1976, 176). Der Sinn und die Logik der ErzĂ€hlung sollen nicht eindeutig festgelegt sein, sondern sich aus der Bewegung und der bestĂ€ndigen Verschiebung immer anders konstituieren (Steurer 2016, 366). Indem in La Reprise ĂŒber weite Teile des Romans nicht sicher bestimmt werden kann, ob gerade getrĂ€umt oder im Wachzustand gehandelt wird, erhĂ€lt diese Sinnverschiebung eine besondere Form der Anschauung. Der Prozess des TrĂ€umens tritt dabei immer wieder in Beziehung zu anderen Modi der Erfahrung.


Aufwachen oder weiterschlafen? Der Roman als Traumserie

Bereits in Robbe-Grillets 1981 veröffentlichtem Roman Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints beginnt ein Kapitel mit einer Szene des Erwachens: „Simon LecƓur se rĂ©veilla, [...] avec la vague impression qu’il sortait d’un long cauchemar“ (Robbe-Grillet 1981, 78). Der im Schlaf erfahrene Albtraum LecƓurs setzt sich im Wachzustand fort, so dass schließlich der Verdacht aufkommt, der Protagonist befinde sich ĂŒber den gesamten Romanverlauf hinweg in einem Traum. Diese in Djinn angelegt Verwischung der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen wird in La Reprise ausgebaut und erscheint dort als strukturbildendes Element: Jedes der fĂŒnf Kapitel, die scheinbar fĂŒnf Tage des Aufenthalts in Berlin umfassen, beginnt mit Henri Robins Erwachen in einem Berliner Bett. Darin tritt eine Parallele zu Franz Kafka zutage, auf den im Roman nicht nur im Namen der Feldmesserstraße verwiesen wird: Auch Kafka situiert Ereignisse am Übergang von Schlafen zu Wachen und erzeugt dabei eine Verunsicherung darĂŒber, ob die Figuren Dinge trĂ€umen oder in der RealitĂ€t erleben (Goumegou 2011, 216 f.). LĂ€sst sich mit Manfred Engel der Moment des Aufwachens allgemein als „anthropologische Urszene des TraumphĂ€nomens“ (Engel 2010, 157) begreifen, so ist dieser Augenblick in La Reprise auf eine spezifische Weise dem Traum verschrieben. Zwar scheint das, was in der Nacht geschieht – und von Henri Robin getrĂ€umt wird –, auf den ersten Blick ausgespart zu sein, besonders weil der Prolog mit dem Übergang in einen traumlosen Schlaf endet: „je m’endors aussitĂŽt, d’un profond sommeil sans rĂȘve“ (R 42). Dass der Schlaf traumlos ist, erweist sich aber als falsch. Bereits die Schilderung des Erwachens, die das folgende Kapitel eröffnet, ist nĂ€mlich von Unsicherheitsmarkern durchzogen. Ein erster dieser Marker ist die Überschrift des Kapitels – „PremiĂšre journĂ©e“ (R 45): Sie zeichnet den anbrechenden Tag als ersten Tag der Geschichte aus, obwohl in der Chronologie der Handlung der Anreisetag noch frĂŒher situiert ist (Steurer 2016, 326). Die Unsicherheitsmarker lassen fraglich erscheinen, ob die Schwelle zwischen Schlaf- und Wachzustand nicht an anderer Stelle liegt als vermutet und ob Robin die vorgeblichen Wacherfahrungen – im Extremfall sogar die gesamte Romanhandlung – nicht eigentlich im Traum durchlebt und der immer wieder auftauchende DoppelgĂ€nger ein Traum-Ich ist. Robin könnte sozusagen im Traum erwachen - eine Variante der TraumerzĂ€hlung, die auch von Stefanie Kreuzer in den Blick genommen wird (Kreuzer 2014, 372). Der Agent weiß jedenfalls nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, warum seine Uhr stehen geblieben ist und fragt sich schließlich, ob er unter dem Einfluss eines Schlafmittels vielleicht viel lĂ€nger als angenommen geschlafen hat (R 45-47). In der Unsicherheit der Traummarkierung vermag die Szene, Ă€hnlich wie Kreuzer das fĂŒr Ilse Aichinger und Franz Kafka herausarbeitet, „den Verdacht [zu] erzeugen, dass es sich bei der vermeintlichen Wachwelt um ein fortgesetztes Traumerleben handelt“ (Kreuzer 2014, 209). Alle weiteren Momente des Aufwachens sind genauso gut lesbar als neue Ebenen einer sich in sich selbst verschachtelnden Traumwelt, in der keine der Ebenen als RealitĂ€t identifizierbar ist.[3] Alle Situationen des Erwachens sind durchzogen von Indizien der UnzuverlĂ€ssigkeit und der LĂŒckenhaftigkeit. Die TextĂ€sthetik von Robbe-Grillets Gesamtwerk beruht in besonderem Maße auf dem Spiel mit – teilweise auch typographisch sichtbaren – Leerstellen. Als Orte der Uneindeutigkeit sind sie wesentliche Bestandteile seiner „circulation du sens“. Auch die Leerstellen, die daraus entstehen, dass der Ort von Schlafen und Wachen ebenso unbestimmbar ist wie der RealitĂ€ts- oder Traumbezug des Erlebten, fungieren als Indizien und Gestaltungsmomente dieser Sinnverschiebung. So findet das Erwachen des zweiten Tages gar nicht am Kapitelbeginn, sondern schon innerhalb des vorangehenden Kapitels statt, und immer wieder verliert Robin die Orientierung in Zeit und Raum: „dans un autre monde, Wall se rĂ©veille“ (R 70); „se rĂ©veille, on ne saurait dire au bout de combien d’heures“ (R 106); „HR se rĂ©veille dans une chambre inconnue“ (R 113). Am vierten Tag erwacht der Agent mit dem Eindruck, die zunĂ€chst als Wacherleben identifizierten Ereignisse der vorangegangenen Nacht doch innerhalb eines Albtraums imaginiert zu haben:

en effet, [...] les Ă©vĂ©nements en chapelet de la nuit lui laissent une dĂ©sagrĂ©able impression d’incohĂ©rence, Ă  la fois causale et chronologique, une succession d’épisodes qui paraissent sans autres liens que de contiguĂŻtĂ© (ce qui empĂȘche de leur assigner une place dĂ©finitive), dont certains se colorent d’une reposante douceur sensuelle, tandis que d’autres relĂšveraient plutĂŽt du cauchemar, sinon de la fiĂšvre hallucinatoire aiguĂ« (R 157).
In der Tat [...] hinterlĂ€ĂŸt die Kette der nĂ€chtlichen Ereignisse bei ihm einen unangenehmen Eindruck von zugleich kausaler und chronologischer Zusammenhanglosigkeit; die Episoden scheint nichts zu verbinden, außer daß sie aufeinanderfolgen (was verhindert, daß man ihnen einen endgĂŒltigen Platz zuweisen kann), und manche sind von einer wohltuenden sinnlichen Sanftheit gekennzeichnet, wĂ€hrend andere eher dem Albtraum, wenn nicht dem Fieberwahn entstammen (W 149).

Die InkohĂ€renz der Traumwelt, in der die Einzelsequenzen in keiner abschließenden logischen Beziehung zueinander stehen, beschreibt die Struktur des Romans selbst als Spiel mit der UnzuverlĂ€ssigkeit von ErzĂ€hler und ErzĂ€hlung sowie der Chronologie der Ereignisse (Schneider 2005, 149; Steurer 2021, 326). Der Roman erhĂ€lt auf diese Art ZĂŒge einer (alb-)traumhaften Erfahrungswelt, die Robin, wie das Lesepublikum, in einem „brouillard onirique" (R 172) zurĂŒcklĂ€sst. Die Szenen des (vermeintlichen) Erwachens sind dabei nicht nur als TrĂ€ume interpretierbar, sondern werden am fĂŒnften Tag selbst zu Trauminhalten: „HR rĂȘve qu’il se rĂ©veille en sursaut dans la chambre sans fenĂȘtre des anciens enfants von BrĂŒcke“ (R 195). Erst ein zweites Erwachen fĂŒhrt, zumindest scheinbar, in die RealitĂ€t zurĂŒck: „Je me suis alors rĂ©veillĂ© pour de bon, mais dans la chambre numĂ©ro 3, Ă  l’hĂŽtel des AlliĂ©s“ (R 196).


GetrÀumte Erinnerung, erinnerte TrÀume

Henri Robins Reise nach Berlin fĂŒhrt ihn in die eigene Vergangenheit. Noch im Zug taucht ein erstes Erinnerungsbild auf („Le souvenir d’enfance est alors revenu dans toute son intensitĂ©â€œ, R 19), das aber kurz darauf als „souvenir d’enfance Ă©garĂ©â€œ (R 28) bezeichnet wird. Immer wieder erscheinen dem Agenten Fragmente eines Kindheitsaufenthaltes in Berlin, bei dem er mit seiner Mutter einem Verwandten auf der Spur ist. Inwiefern die Erinnerungen tatsĂ€chlich erlebten Ereignissen zugeordnet werden können oder einer Traumwelt angehören, lĂ€sst sich nicht endgĂŒltig bestimmen. Stattdessen schreiben sich die Ereignisse in die InkohĂ€renz der zeitlich-logischen Erfahrung des Romans ein. Da die Erinnerungen bruchstĂŒckhaft bleiben, schafft der Agent es nicht, ganze Episoden zu rekonstruieren und die „lumineuse Ă©vidence du dĂ©jĂ -vu“ (R 58) in greifbare Bilder zu ĂŒberfĂŒhren. DarĂŒber hinaus vermischen sich die Erinnerungen mit dem Inhalt von Robins markierten TrĂ€umen:

Au cours de son sommeil (et donc dans une temporalitĂ© diffĂ©rente), l’un de ses cauchemars les plus frĂ©quents s’est dĂ©roulĂ© une fois enore, de façon correcte, sans le rĂ©veiller: le petit Henri devait ĂȘtre ĂągĂ©, tout au plus, d’une dizaine d’annĂ©es. Il lui a fallu demander au rĂ©pĂ©titeur l’autorisation de quitter la salle d’étude pour assouvir un menu besoin urgent. Il erre maintenant Ă  travers les cours de rĂ©crĂ©ation abandonnĂ©es, il longe des prĂ©aux Ă  arcades et d’interminables couloirs dĂ©serts, il monte des escaliers, dĂ©bouche sur d’autres couloirs, ouvre inutilement de multiples portes. Personne, nulle part, n’est lĂ  pour le renseigner, et il ne retrouve aucun des endroits propices dissĂ©minĂ©s dans la gigantesque Ă©cole (est-ce le lycĂ©e Buffon?). Il pĂ©nĂštre Ă  la fin, par hasard, dans sa propre salle de classe et il constate aussitĂŽt que sa place habituelle, d’ailleurs prescrite et qu’il vient de quitter quelques instants plus tĂŽt (de longs instants?), est Ă  prĂ©sent occupĂ©e par un autre garçon du mĂȘme Ăąge, un nouveau sans doute car il ne le reconnaĂźt pas. Mais, en l’observant avec plus d’attention, le jeune Henri s’aperçoit que l’autre lui ressemble beaucoup, sans que cela l’étonne outre mesure. Les visages de ses camarades se tournent l’un aprĂšs l’autre vers la porte, pour considĂ©rer avec une Ă©vidente dĂ©sapprobation l’intrus qui est demeurĂ© sur le seuil, ne sachant plus oĂč aller: il n’y a pas un banc de libre dans toute l’étude... Seul l’usurpateur reste penchĂ© sur son pupitre, oĂč il poursuit avec application la rĂ©daction de sa composition française, d’une trĂšs petite Ă©criture, fine et rĂ©guliĂ©re, sans une rature (R 68 f.).
WĂ€hrend seines Schlafs (und also in einer anderen Zeitlichkeit) lief wieder einmal einer seiner hĂ€ufigsten AlptrĂ€ume ab, auf korrekte Art, ohne ihn zu wecken: der kleine Henri war wohl allerhöchstens zehn Jahre alt. Er mußte den Aufseher um Erlaubnis bitten, den Arbeitsraum verlassen zu dĂŒrfen, um ein dringendes kleines GeschĂ€ft zu verrichten. Er irrt jetzt durch die verlassenen Schulhöfe, entlang an ĂŒberdachten Pausenhallen mit Arkaden und durch endlose leere Flure, geht Treppen hinauf, stĂ¶ĂŸt auf andere Flure, öffnet sinnlos zahlreiche TĂŒren. Nirgendwo ist jemand, um ihm Auskunft zu geben, und er findet keines der in der riesigen Schule (ist es das LycĂ©e Buffon?) verstreuten Örtchen. Am Ende kommt er zufĂ€llig in sein eigenes Klassenzimmer und stellt sogleich fest, daß sein gewohnter, ihm ĂŒbrigens zugewiesener Platz, den er eine Weile zuvor (eine lange Weile?) verlassen hat, jetzt von einem Jungen im gleichen Alter besetzt ist, wahrscheinlich einem Neuen, denn er erkennt ihn nicht. Als er ihn aber aufmerksamer betrachtet, merkt der junge Henri, ohne daß ihn das ĂŒbermĂ€ĂŸig erstaunt, daß der andere ihm sehr Ă€hnlich sieht. Die Gesichter seiner Kameraden wenden sich nacheinander zur TĂŒr, um mit offensichtlicher Mißbilligung den Eindringling zu mustern, der auf der Schwelle stehengeblieben ist und nicht mehr weiß, wohin er gehen soll: im ganzen Arbeitsraum ist keine Bank frei... Nur der Usurpator bleibt ĂŒber sein Pult gebeugt, wo er eifrig an seinem französischen Aufsatz weiterschreibt, mit einer sehr kleinen, feinen und regelmĂ€ĂŸigen Schrift ohne Verbesserungen (W 65 f.).

Robin trĂ€umt einen wiederkehrenden „rĂȘve rĂ©current des cabinets introuvables“ (R 71), in dem sein kindliches Ich verzweifelt nach den ToilettenrĂ€umen sucht. Die Destabilisierung, die auch das (scheinbare) Wacherleben des Agenten prĂ€gt, wird in den Trauminhalt ĂŒberfĂŒhrt: Seine Suche wird als Irrfahrt bezeichnet, er weiß nicht, wie lange er ĂŒberhaupt den Arbeitsraum verlassen hat, und sieht sich bei der RĂŒckkehr einer weiteren DoppelgĂ€ngerfigur gegenĂŒbergestellt. Auch die akkurate Schrift des DoppelgĂ€ngers ist eine Anspielung auf Robin selbst, der als Erwachsener den Bericht seiner eigenen Mission in einer „petite Ă©criture fine, et sans rature“ (R 31) festhĂ€lt. Indem der Schlaf als „andere[n] Zeitlichkeit“ bezeichnet wird, erhĂ€lt im Traum die Vergangenheit eine oneirische Dimension. Gleichzeitig wird der Traumbericht als ErzĂ€hlform dadurch unterlaufen, dass auf ihn nicht unmittelbar eine Szene des Erwachens folgt. Stattdessen schließt sich eine Fußnote an, in der die zweite ErzĂ€hlstimme den Traumbericht als „prĂ©texte assez artificiel d’un rĂ©cit de rĂȘve“ (R 69) zu entlarven versucht. Der Traum, so wird hier suggeriert, sei eine bloße Erfindung Robins. Das Tempus schreibt den Traumbericht zugleich in die Uneindeutigkeit der Zuordnung zu einer der beiden Welten ein: Nur der Beginn des Berichts ist im Imparfait bzw. PassĂ© composĂ© verfasst, wĂ€hrend alle folgenden Ereignisse im PrĂ€sens wiedergegeben und in einem unbestimmten „maintenant“ situiert werden. In der SimultaneitĂ€t der möglichen Lesarten – Bericht seines tatsĂ€chlichen Traumes, absichtsvoll erfundener Traumbericht, Erinnerung an die Kindheit, verfremdetes Erleben des erwachsenen Agenten in Berlin – trĂ€gt auch der berichtete Traum zur „circulation du sens“ bei. Dazu passt ebenso, dass der Agent vermeintliche Erinnerungsbilder an einer anderen Stelle als Traumreste, „rĂ©sidus flottants d’un morceau de rĂȘve“ (R 115) identifiziert. Sowohl in ihrer Fragmentstruktur als auch in der Ziellosigkeit der Bewegung spiegeln die „herumschwebende[n] Überbleibsel eines Traumabschnitts“ (R 110), so die deutsche Übersetzung, die Orientierungslosigkeit Robins wie die labyrinthische Anlage des Romans wider und stellen den Gesamttext unter das Vorzeichen einer getrĂ€umten Erfahrung.


Das Material der TrÀume

Robbe-Grillets u.a. von Roland Barthes beschriebene ObjektĂ€sthetik (Barthes 1978) und seine Faszination fĂŒr MaterialitĂ€tsfragen schlagen sich in auch innerhalb des Traumdiskurses in La Reprise nieder. Ein wiederkehrendes Objekt, das keinem Handlungsstrang bzw. keiner Figur konkret zugeordnet werden kann, ist ein eleganter Damenschuh. Als „chaussure de bal Ă  haut talon“ (R 75) oder „fin soulier noir Ă  haut talon“ (R 119) taucht er an diversen Stellen des Romans auf (R 112, 159, 187, 190, 194, 195, 208), insbesondere in den an TrĂ€ume grenzenden Erinnerungen. DarĂŒber hinaus ist er vor allem in den Szenen prĂ€sent, in denen die Vergewaltigung des MĂ€dchens Gigi geschildert wird – ob diese Darstellungen der fiktionalen RealitĂ€t angehören oder Fantasien bzw. TrĂ€ume Robins sind, bleibt in der Schwebe. Auf Gigi verweist zudem die „poupĂ©e martyrisĂ©e sort[ie] tout droit d’un rĂȘve d’enfant“ (R 210) als aus einem Traum stammendes Objekt.

Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklĂ€rlicherweise zwei Markierungen enthĂ€lt. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur“ (R 71). Die Karte signalisiert eine Verzerrung der RealitĂ€t im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren SchwellenrĂ€umen und „Garanten des Kippens in SphĂ€ren des ImaginĂ€ren und Traumanalogen“ (KĂŒchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.

Von zentraler Bedeutung fĂŒr die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.[4] Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre FiktivitĂ€t hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem ImaginĂ€ren und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte KlappbrĂŒcke (R 55). Sie zitiert den Intertext von Les Gommes und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.[5] Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmĂ€ĂŸiges Pflaster und ist von „pavĂ©s disjoints“ (R 58) ĂŒberzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von Djinn. Un trou rouge entre les pavĂ©s disjoints, sondern weisen darĂŒber hinaus zurĂŒck auf Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (Steurer 2021, 335 f.): Im letzten Band des Romans bleibt Marcel im Hof des HĂŽtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hĂ€ngen (Proust 1989, 445 f.). Das Stolpern löst, Ă€hnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt ĂŒber die unebenen Steine in eine andere Dimension. WĂ€hrend aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavĂ©s disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der RealitĂ€t oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von BrĂŒcke in RĂ€umen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des GebĂ€udes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extĂ©rieures de la maison sur le canal“ (R 164). InkompatibilitĂ€t und InkohĂ€renz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen StrĂ€ngen, die die Handlung von La Reprise in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und RealitĂ€t ansiedeln.


Hannah Steurer


Literatur

Ausgaben

  • Robbe-Grillet, Alain: La Reprise. Paris: Minuit 2001 (zitiert als R).
  • Robbe-Grillet, Alain: Die Wiederholung. Übers. von Andrea Spingler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (zitiert als W).


Bezugstexte

  • Robbe-Grillet, Alain: Les Gommes. Paris: Minuit 1953.
  • Robbe-Grillet, Alain: La Maison de rendez-vous. Paris: Minuit 1965.
  • Robbe-Grillet, Alain: Projet pour une rĂ©volution Ă  New York. Paris: Minuit 1970.
  • Robbe-Grillet, Alain: Djinn. Un trou rougĂ© entre les pavĂ©s disjoints. Paris: Minuit 1981.
  • Proust, Marcel: Le Temps retrouvĂ©. In: Ders.: À la recherche du temps perdu. Hg. von Jean-Yves TadiĂ©. Paris: Gallimard 1987-1989. Bd. 4, 1989, 273-625.


Forschungsliteratur

  • Barthes, Roland: LittĂ©rature objective. In: Obliques 16-17 (1978), 69-73.
  • Burrichter, Brigitte: Der deutsche Zwilling. DoppelgĂ€nger und Zwillinge in Alain Robbe-Grillets Roman La Reprise. In: Poetica 35 (2003), 213-229.
  • Calle-Gruber, Mireille: Alain Robbe-Grillet ou la reprise en avant. In: Critique 649/650 (2001), 605-618.
  • Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: Kulturpoetik 10 (2010), 153-176.
  • Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rĂȘve. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Cultural Dream Studies 1), 19-44.
  • Fano, Michel: IV. L’ordre musical chez Alain Robbe-Grillet. Le discours sonore dans ses films. In: Jean Ricardou (Hg.): Robbe-Grillet. Colloque de Cerisy. Paris: Union GĂ©nĂ©rale d’Éditions 1976. Bd. 1, 173-186.
  • Goumegou, Susanne: Surrealistisch oder kafkaesk? Zur Traumpoetik Roger Caillois’ und dem Problem literarischer Traumhaftigkeit im 20. Jahrhundert. In: Dies./Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 195-225.
  • Groß, Nathalie: Autopoiesis. Theorie und Praxis autobiographischen Schreibens bei Alain Robbe-Grillet. Berlin: Schmidt 2008.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzĂ€hlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • KĂŒchler, Kerstin: „Blindfelder“ – StadtlektĂŒren bei Robbe-Grillet. In: Volker Roloff/Scarlett Winter/Christian von Tschilschke (Hg.): Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust. TĂŒbingen: Stauffenburg 2011, 161-172.
  • Oster, Patricia: RĂȘver la ville: „Fourmillante citĂ©. CitĂ© pleine de rĂȘves“ (Baudelaire – Rimbaud – Calvino – Nolan). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Typologizing the Dream/Le rĂȘve du point de vue typologique. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2022 (Cultural Dream Studies 5), 565–582.
  • Porter, Laurence M.: The Dream. Framing and Function in French Literature. In: Tom Conner (Hg.): Dreams in French Literature. The Persistent Voice. Amsterdam: Rodopi 1995, 105-122.
  • Robbe-Grillet, Alain: Je n’ai jamais parlĂ© d’autre chose que de moi. In: Michel Contat (Hg.): L’auteur et le manuscrit. Paris: Presses universitaires de France 1991, 37-50.
  • Schneider, Ulrike: Die Figur des ,untoten Autors‘. Alain Robbe-Grillet und die Reprise des Nouveau Roman. In: Zeitschrift fĂŒr französische Sprache und Literatur 115 (2005) 2, 126-152.
  • Solte-Gresser, Christiane: „Alptraum mit Aufschub“. AnsĂ€tze zur Analyse literarischer TraumerzĂ€hlungen. In: Susanne Goumegou/Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 239-262.
  • Steurer, Hannah: „Circulation du sens am pont tournant“. Die BrĂŒcke als Denkfigur bei Alain Robbe-Grillet. In: Julia Lichtenthal/Sabine Narr-Leute/Hannah Steurer (Hg.): Le Pont des Arts. Festschrift fĂŒr Patricia Oster zum 60. Geburtstag. Paderborn: Fink 2016, 365-384.
  • Steurer, Hannah: Tableaux de Berlin. Französische Blicke auf Berlin vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2021 (Neues Forum fĂŒr Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 58).
  • Steurer, Hannah: Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet. In: Giulia Lombardi/Simona Oberto/Paul Strohmaier (Hg.): Rekonstruktion, Imagination, GedĂ€chtnis. Ästhetik und Poetik der Ruinen. Berlin: de Gruyter 2022, 335-357.

Anmerkungen

  1. ↑ Zum Zusammenhang von Stadt und Traum vgl. auch Oster 2022.
  2. ↑ Zum Intertext Kafkas vgl. z.B. Groß 2008, 227.
  3. ↑ Vgl. zu dieser Verschachtelung bei Robbe-Grillet auch Porter 1995, 119.
  4. ↑ Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.
  5. ↑ Robbe-Grillet bezeichnet die KlappbrĂŒcke und die TĂŒr als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-Ă€sthetischen Schaffens, das auf der unaufhörlichen Verschiebung des Sinns beruht: „La porte, le pont tournant, ce sont peut-ĂȘtre des objets qui ne sont pas lĂ  par hasard, mais parce qu’ils sont essentiels dans cette fonction de circulation du sens qui m’aurait obsĂ©dĂ© depuis mon plus jeune Ăąge“ (Robbe-Grillet 1991, 41).


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Steurer, Hannah: "La Reprise" (Alain Robbe-Grillet). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22La_Reprise%22_(Alain_Robbe-Grillet).