"Ministerium der TrÀume" (Hengameh Yaghoobifarah): Unterschied zwischen den Versionen

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''Ministerium der TrĂ€ume'' (2021) ist der DebĂŒtroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzĂ€hlt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-ErzĂ€hlerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flĂŒchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre spĂ€ter unter rĂ€tselhaften UmstĂ€nden stirbt, blickt die ErzĂ€hlerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurĂŒck, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.
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''Ministerium der TrĂ€ume'' (2021) ist der DebĂŒtroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzĂ€hlt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-ErzĂ€hlerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flĂŒchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre spĂ€ter unter rĂ€tselhaften UmstĂ€nden stirbt, blickt die ErzĂ€hlerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurĂŒck, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.
  
  
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Das Geschehen von ''Ministerium der TrĂ€ume'' spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-ErzĂ€hlerin Nasrin Behzadi als TĂŒrsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jĂ€hrigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.
 
Das Geschehen von ''Ministerium der TrĂ€ume'' spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-ErzĂ€hlerin Nasrin Behzadi als TĂŒrsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jĂ€hrigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.
  
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Dieser ErzĂ€hlstrang wird durch insgesamt neun RĂŒckblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste RĂŒckblende setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (MĂąmĂąn) und ihrer jĂŒngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine teils als „sozialen Brennpunkt“ beschriebene Siedlung in LĂŒbeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (BĂąbĂą) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprĂ€gt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlĂ€gt ihre Töchter, spĂ€ter wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch LĂŒbeck und wird von einem PĂ€dophilen, der spĂ€ter trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttĂ€tiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische AnschlĂ€ge und das Desinteresse der Polizei beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den LĂŒbecker Brandanschlag von 1996, bei dem 10 Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten RĂŒckblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.
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Dieser ErzĂ€hlstrang wird durch insgesamt neun RĂŒckblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (MĂąmĂąn) und ihrer jĂŒngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnete Siedlung in LĂŒbeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (BĂąbĂą) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprĂ€gt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlĂ€gt ihre Töchter, spĂ€ter wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch LĂŒbeck und wird von einem PĂ€dophilen, der spĂ€ter trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttĂ€tiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische AnschlĂ€ge und das Desinteresse von Polizei und Politik beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den LĂŒbecker Brandanschlag von 1996, bei dem zehn Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten RĂŒckblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.
  
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Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-ErzĂ€hlerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der ErzĂ€hlungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zĂ€hlt zudem das Telefonklingeln, das Nasrin regelmĂ€ĂŸig als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende GerĂ€usch ein Bild. Alle erwĂ€hnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den TrĂ€umen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas fĂŒr all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.
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Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-ErzĂ€hlerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der ErzĂ€hlungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zĂ€hlt zudem ein Telefonklingeln, das Nasrin immer wieder als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende GerĂ€usch ein Bild. Alle erwĂ€hnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den TrĂ€umen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas fĂŒr all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.
  
  
 
==Die TrÀume==
 
==Die TrÀume==
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Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffĂ€llig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, TrĂ€ume, WĂŒnsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingefĂŒhrt wird (MdT 29), weist auf die VerschrĂ€nkung von Traum und Trauma hin, die fĂŒr alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass  angstbesetzte TrĂ€ume und AlbtrĂ€ume hĂ€ufige Symptome eines Traumas sind (vgl. z. B. Barrett 1996: 3; oder Pietrowsky 2014: 99–102). In Nasrins TrĂ€umen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die LĂŒckenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spielgelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den TrĂ€umen mit BruchstĂŒcken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spĂ€tere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur vgl. z. B. Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).  
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Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffĂ€llig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, TrĂ€ume, WĂŒnsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingefĂŒhrt wird (MdT 29), weist auf die VerschrĂ€nkung von Traum und Trauma hin, die fĂŒr alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass  angstbesetzte TrĂ€ume und AlbtrĂ€ume hĂ€ufige Symptome eines Traumas sind (vgl. z. B. Barrett 1996, 3; oder Pietrowsky 2014, 99–102). In Nasrins TrĂ€umen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die LĂŒckenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spielgelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den TrĂ€umen mit BruchstĂŒcken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spĂ€tere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur vgl. z. B. Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).  
  
 
In fast allen TrĂ€umen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den getrĂ€umten Inhalten zusammenhĂ€ngen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam nĂ€her kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die TelefongesprĂ€che, die Nasrin in allen TrĂ€umen fĂŒhrt, bleiben rĂ€tselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht lĂ€nger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.
 
In fast allen TrĂ€umen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den getrĂ€umten Inhalten zusammenhĂ€ngen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam nĂ€her kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die TelefongesprĂ€che, die Nasrin in allen TrĂ€umen fĂŒhrt, bleiben rĂ€tselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht lĂ€nger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.
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===Prolog: Feuer===
 
===Prolog: Feuer===
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Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kĂŒndigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der TrĂ€umerin bestimmen wird. Das trĂ€umende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle FlĂ€che aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmĂ€ĂŸig verteilten Schlaglöchern und allen SprĂŒchen, die mich je verletzt haben.“ ZunĂ€chst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast ¬– „Mein Puls schlĂ€gt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ ¬– rennt die ErzĂ€hlerin die Straße entlang und stolpert ĂŒber die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fĂ€llt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt
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Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kĂŒndigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der TrĂ€umerin bestimmen wird. Das trĂ€umende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle FlĂ€che aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmĂ€ĂŸig verteilten Schlaglöchern und allen SprĂŒchen, die mich je verletzt haben.“ ZunĂ€chst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast – „Mein Puls schlĂ€gt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ – rennt die ErzĂ€hlerin die Straße entlang und stolpert ĂŒber die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fĂ€llt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt
  
 
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So endet der Albtraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende KohĂ€renz des Geschehens und mangelnde kausale VerknĂŒpfungen: Z. B. ist die ErzĂ€hlerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur fĂŒr sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrĂ€ngen mĂŒsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsĂ€chlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die IdentitĂ€t der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkenn[t]“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die ErzĂ€hlerin bedrohen, ohne dass der Grund dafĂŒr deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne ErklĂ€rung der ErzĂ€hlerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die TrĂ€umerin selbst. Die extreme Hitze, die die TrĂ€umerin zunĂ€chst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z. B. dann, als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer EmotionalitĂ€t und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprĂ€gt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „''Every now and then I fall apart''“ aus Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless / When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die SĂ€ngerin als TrĂ€umerin inszeniert.
 
So endet der Albtraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende KohĂ€renz des Geschehens und mangelnde kausale VerknĂŒpfungen: Z. B. ist die ErzĂ€hlerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur fĂŒr sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrĂ€ngen mĂŒsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsĂ€chlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die IdentitĂ€t der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkenn[t]“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die ErzĂ€hlerin bedrohen, ohne dass der Grund dafĂŒr deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne ErklĂ€rung der ErzĂ€hlerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die TrĂ€umerin selbst. Die extreme Hitze, die die TrĂ€umerin zunĂ€chst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z. B. dann, als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer EmotionalitĂ€t und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprĂ€gt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „''Every now and then I fall apart''“ aus Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless / When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die SĂ€ngerin als TrĂ€umerin inszeniert.
  
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Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der ErzĂ€hlung und auch in den weiteren TrĂ€umen wieder aufgegriffen werden. Dazu zĂ€hlt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der ErzĂ€hlerin – „Schon wieder dieses GerĂ€usch“ – ergibt erst durch die weitere LektĂŒre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: Die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die TĂŒrklingel, die die Polizisten mit dem Nachricht vom Tod der Schwester ankĂŒndigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen GerĂ€uschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen TrĂ€umen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme EmotionalitĂ€t und körperliches Empfinden verknĂŒpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der ErzĂ€hlung von migrantischen Erfahrungen), der in den TrĂ€umen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der ErzĂ€hlerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in TrĂ€umen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.
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Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der ErzĂ€hlung und auch in den weiteren TrĂ€umen wieder aufgegriffen werden. Dazu zĂ€hlt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der ErzĂ€hlerin – „Schon wieder dieses GerĂ€usch“ – ergibt erst durch die weitere LektĂŒre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: Die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die TĂŒrklingel, die die Polizisten mit der Nachricht vom Tod der Schwester ankĂŒndigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen GerĂ€uschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen TrĂ€umen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme EmotionalitĂ€t und körperliches Empfinden verknĂŒpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der ErzĂ€hlung von migrantischen Erfahrungen), der in den TrĂ€umen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der ErzĂ€hlerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in TrĂ€umen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.
  
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Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der ErzĂ€hlung immer wieder im Zusammenhang mit der eigenen (traumatisch verzerrten und unvollstĂ€ndigen) Erinnerung evoziert (das Buch scheint ein treffendes Bild dafĂŒr). Auch fĂŒr die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollstĂ€ndiges Bild und eine Desorientierung, die zunĂ€chst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzĂ€hlt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfĂ€hrt. Es wird, anders als in den folgenden TrĂ€umen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die TrĂ€umerin zeitlich hineintrĂ€umt. Dass die Schwester gegenĂŒber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafĂŒr sprechen, dass diese als kindlich getrĂ€umt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu ĂŒberlagern.  
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Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der ErzĂ€hlung immer wieder im Zusammenhang mit Nasrins (traumatisch verzerrter und unvollstĂ€ndiger) Erinnerung evoziert (insbesondere das Buch scheint hier ein treffendes Bild zu sein). Auch fĂŒr die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollstĂ€ndiges Bild und eine Desorientierung, die zunĂ€chst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzĂ€hlt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfĂ€hrt. Es wird, anders als in den folgenden TrĂ€umen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die TrĂ€umerin zeitlich hineintrĂ€umt. Dass die Schwester gegenĂŒber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafĂŒr sprechen, dass diese als kindlich getrĂ€umt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu ĂŒberlagern.  
  
 
Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lĂ€sst sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen AnschlĂ€gen, die in den 90er Jahren in Deutschland verĂŒbt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den HĂ€nden der Angreifer*innen, brennende FlĂŒchtlingsunterkĂŒnfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemĂŒht war, die BrandanschlĂ€ge als EinzelfĂ€lle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „''Verstehen Sie es denn nicht?'', will ich brĂŒllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal.“
 
Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lĂ€sst sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen AnschlĂ€gen, die in den 90er Jahren in Deutschland verĂŒbt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den HĂ€nden der Angreifer*innen, brennende FlĂŒchtlingsunterkĂŒnfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemĂŒht war, die BrandanschlĂ€ge als EinzelfĂ€lle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „''Verstehen Sie es denn nicht?'', will ich brĂŒllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal.“
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: <span style="color: #7b879e;">Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit erkennen darin erkennen kann. Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark. Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich. (MdT 102)</span>
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: <span style="color: #7b879e;">Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit darin erkennen kann. ''Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark.'' Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich. (MdT 102)</span>
 
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===Telefon===
 
===Telefon===
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Etwa hundert Seiten spĂ€ter wird ein weiterer Traum (MdT 202–203) erzĂ€hlt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die ErzĂ€hlerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunĂ€chst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als wĂŒrde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ MerkwĂŒrdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:  
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Etwa hundert Seiten spĂ€ter wird ein weiterer Traum (MdT 202–203) erzĂ€hlt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die ErzĂ€hlerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunĂ€chst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als wĂŒrde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung telefonisch zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ MerkwĂŒrdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:  
  
 
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Die TrĂ€umerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im GebĂ€ude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fĂ€llt ihr Blick auf ein ĂŒbergroßes Portrait von Andy Warhol, darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf ihn verĂŒbt wurde („''Doch was wĂ€re ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik ĂŒberlebt?''“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? [
] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen [
]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“
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Die TrĂ€umerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im GebĂ€ude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fĂ€llt ihr Blick auf ein ĂŒbergroßes Portrait von Andy Warhol, darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf den KĂŒnstler verĂŒbt wurde („''Doch was wĂ€re ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik ĂŒberlebt?''“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? [
] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen [
]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“
  
 
Dem Traum geht eine RĂŒckblende voraus (1995): Nasrin und ihre Jugendclique werden bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nĂ€chsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach LĂŒbeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.
 
Dem Traum geht eine RĂŒckblende voraus (1995): Nasrin und ihre Jugendclique werden bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nĂ€chsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach LĂŒbeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.
  
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Aufschluss ĂŒber das im Traum erkundete IndustriegebĂ€ude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – ''Ministerium der TrĂ€ume'' – als eine Metapher fĂŒr den Kopf zu verstehen sei, als Ort der WĂŒnsche, Ängste, Erinnerungen und TrĂ€ume. Diese Metapher scheint in dem getrĂ€umten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenstĂ€ndlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle GegenstĂ€nde, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene HandyhĂŒllen“). Die Glasscherben – viel grĂ¶ĂŸer als die TrĂ€umerin – verweisen auf zwei der anderen TrĂ€ume, in denen das Glas einer Telefonzelle drohte zu zerbrechen und gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher fĂŒr die schwer zu bewĂ€ltigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „''Ihr lĂŒckenhaftes GedĂ€chtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht grĂ¶ĂŸer als Sie''“ (MdT 206)). Die TrĂ€umerin fĂŒhlt sich, anders als in den anderen TrĂ€umen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen RĂ€ume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfĂŒgen – der Maschinenraum, in denen GerĂ€te auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lĂ€stig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise ein neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die VerĂ€nderung der Farbe auch auf die historische Entwicklung der Telefonzellen, die in Deutschland zeitweise zumindest ein pinkfarbenes Dach hatten, verweisen).
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Aufschluss ĂŒber das im Traum erkundete IndustriegebĂ€ude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – ''Ministerium der TrĂ€ume'' – als eine Metapher fĂŒr den Kopf zu verstehen sei, als Ort der WĂŒnsche, Ängste, Erinnerungen und TrĂ€ume. Diese Metapher scheint in dem getrĂ€umten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenstĂ€ndlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle GegenstĂ€nde, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene HandyhĂŒllen“). Die Glasscherben – viel grĂ¶ĂŸer als die TrĂ€umerin – verweisen auf zwei der anderen TrĂ€ume, in denen das Glas einer Telefonzelle drohte zu zerbrechen und gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher fĂŒr die schwer zu bewĂ€ltigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „''Ihr lĂŒckenhaftes GedĂ€chtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht grĂ¶ĂŸer als Sie''“ (MdT 206)). Die TrĂ€umerin fĂŒhlt sich, anders als in den anderen TrĂ€umen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen RĂ€ume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfĂŒgen – der Maschinenraum, in denen GerĂ€te auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lĂ€stig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise einen neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die VerĂ€nderung der Farbe auch auf die reale Entwicklung der Telefonzellen, die in Deutschland zeitweise zumindest ein pinkfarbenes Dach hatten, verweisen).
  
 
Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lĂ€sst sich auf Nasrins Freund*innen von frĂŒher beziehen, die, wie sich spĂ€ter auf der Wachebene herausstellen wird, tatsĂ€chlich mehr darĂŒber wissen, wer fĂŒr den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen fĂŒr ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.
 
Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lĂ€sst sich auf Nasrins Freund*innen von frĂŒher beziehen, die, wie sich spĂ€ter auf der Wachebene herausstellen wird, tatsĂ€chlich mehr darĂŒber wissen, wer fĂŒr den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen fĂŒr ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jasna Pape]]</div>
 
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== Literatur ==
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==Literatur==
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=== Ausgaben ===
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===Verwendete Ausgabe===
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* Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018 (zitiert als RQ).
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* Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der TrÀume. Berlin: Aufbau [Blumenbar ] 2021. 1. Auflage.
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* Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. ZĂŒrich: Diogenes 2020 (zitiert als RQd).
 
  
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===Forschungsliteratur===
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* Barrett, Deidre (Hrsg.): Trauma and Dreams. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1996.
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* Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzÀhlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
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* Pietrowsky, Reinhard: Was uns den Schlaf raubt. AlbtrÀume in Psychologie, Kunst und Kultur. Darmstadt: wbg 2014.
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* Sliwinski, Sharon: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought. Minneapolis: University of Minnesota Press 2017.
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* Solte-Gresser, Christiane: Shoah-TrÀume. Vergleichende Studien zum Traum als ErzÀhlverfahren. Paderborn: Wilhelm Fink 2021.
  
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=== Forschungsliteratur ===
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===Rezensionen===
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* Beyer, Rahel/Albrecht Plewnia (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. TĂŒbingen: Narr 2019.  
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* Liebert, Juliane: Hengameh Yaghoobifarahs DebĂŒt ‚Ministerium der TrĂ€ume‘. Pöbeln auf Leben und Tod. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 11 Februar 2021. https://www.sueddeutsche.de/kultur/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume-debuetroman-rezension-1.5202769
−
* Forkel, Robert: Literarisches ErzĂ€hlen ĂŒber die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes ErzĂ€hlen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229.  
+
* Mawad, Tarek Mohamed: Hengameh Yaghoobifarahs DebĂŒt-Roman . Extrem laut und unglaublich nah. In: monopol, 1. MĂ€rz 2021. https://www.monopol-magazin.de/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume
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* Grote, Georg/Barbara Siller: SĂŒdtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011.
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* Wurmitzer, Michael: Hengameh Yaghoobifarah: Queer, persisch und Ziel von rechtem Hass. In: Der Standard, 11. MĂ€rz 2021. https://www.derstandard.de/story/2000124849896/hengameh-yaghoobifarah-queer-persisch-und-ziel-von-rechtem-hass
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* Grugger, Helmut: Zum Begriff des Generationenromans. In: Ders./Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin: de Gruyter 2021, 3–17.
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* Klettenhammer, Sieglinde: Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen SĂŒdtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende. In: Cescutti, Marjan/Johann Holzner/Roger Vorderegger (Hg.): Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269.
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===Weitere Links===
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* Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.  
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* Interview und Lesung mit Hengameh Yaghoobifarah und Margarete Stokowski. https://www.youtube.com/watch?v=XiMgK6h-FL4
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* Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in SĂŒdtirol und Ostbelgien. TĂŒbingen: Stauffenberg 2001.
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* Lenz, Pia-Luise: KameraĂŒberwachung im sozialen Brennpunkt. ‚Ich passe auf alle auf!‘ In: Spiegel Online, 18. Juli 2013. https://www.spiegel.de/karriere/hudekamp-kameraueberwacher-im-sozialen-brennpunkt-a-911479.html
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* MDR-Dokumentation zum rassistischen Anschlag in Hoyerswerda. https://www.mdr.de/tv/programm/sendung-695954.html
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* Musikvideo zu Bonnie Tyler: Total Eclipse of the Heart (1982). https://www.youtube.com/watch?v=lcOxhH8N3Bo
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* Musikvideo zu Evanescence: Bring Me to Life (2003). https://www.youtube.com/watch?v=3YxaaGgTQYM
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* NDR-Dokumentation zum Brandanschlag in LĂŒbeck. https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/Die-Brandnacht,sendung477120.html
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* Spotify-Playlist zum Roman (erstellt von Yaghoobifarah). https://open.spotify.com/playlist/2J7g2AMKwXL9r2I7UZzKMb?si=HdSHFrtwS0eqXgWAO8QKHg&nd=1
  
  
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Version vom 12. Mai 2022, 18:48 Uhr

Ministerium der TrĂ€ume (2021) ist der DebĂŒtroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzĂ€hlt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-ErzĂ€hlerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flĂŒchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre spĂ€ter unter rĂ€tselhaften UmstĂ€nden stirbt, blickt die ErzĂ€hlerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurĂŒck, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.


Überblick

Das Geschehen von Ministerium der TrĂ€ume spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-ErzĂ€hlerin Nasrin Behzadi als TĂŒrsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jĂ€hrigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.

Dieser ErzĂ€hlstrang wird durch insgesamt neun RĂŒckblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (MĂąmĂąn) und ihrer jĂŒngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnete Siedlung in LĂŒbeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (BĂąbĂą) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprĂ€gt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlĂ€gt ihre Töchter, spĂ€ter wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch LĂŒbeck und wird von einem PĂ€dophilen, der spĂ€ter trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttĂ€tiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische AnschlĂ€ge und das Desinteresse von Polizei und Politik beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den LĂŒbecker Brandanschlag von 1996, bei dem zehn Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten RĂŒckblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.

Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-ErzĂ€hlerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der ErzĂ€hlungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zĂ€hlt zudem ein Telefonklingeln, das Nasrin immer wieder als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende GerĂ€usch ein Bild. Alle erwĂ€hnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den TrĂ€umen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas fĂŒr all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.


Die TrÀume

Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffĂ€llig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, TrĂ€ume, WĂŒnsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingefĂŒhrt wird (MdT 29), weist auf die VerschrĂ€nkung von Traum und Trauma hin, die fĂŒr alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass angstbesetzte TrĂ€ume und AlbtrĂ€ume hĂ€ufige Symptome eines Traumas sind (vgl. z. B. Barrett 1996, 3; oder Pietrowsky 2014, 99–102). In Nasrins TrĂ€umen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die LĂŒckenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spielgelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den TrĂ€umen mit BruchstĂŒcken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spĂ€tere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur vgl. z. B. Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).

In fast allen TrĂ€umen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den getrĂ€umten Inhalten zusammenhĂ€ngen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam nĂ€her kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die TelefongesprĂ€che, die Nasrin in allen TrĂ€umen fĂŒhrt, bleiben rĂ€tselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht lĂ€nger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.


Prolog: Feuer

Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kĂŒndigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der TrĂ€umerin bestimmen wird. Das trĂ€umende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle FlĂ€che aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmĂ€ĂŸig verteilten Schlaglöchern und allen SprĂŒchen, die mich je verletzt haben.“ ZunĂ€chst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast – „Mein Puls schlĂ€gt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ – rennt die ErzĂ€hlerin die Straße entlang und stolpert ĂŒber die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fĂ€llt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt

ein schrilles Klingeln ein. Schon wieder dieses GerĂ€usch. Es klingelt nur fĂŒr mich. Ich versuche, nach vorne zu gelangen, doch man lĂ€sst mich nicht. Immer wieder versuche ich, die Dringlichkeit zu erklĂ€ren. Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brĂŒllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal. Ich renne an den Anfang der Schlange. Verzweiflung macht sich breit, ich darf den Anruf nicht verpassen. Es könnte der letzte sein. (MdT 10)

Der Protagonistin gelingt es schließlich, in die Telefonzelle zu gelangen, in der sich die unertrĂ€gliche Hitze noch intensiviert. Durch die Glasscheibe glaubt sie, in zwei sich aus der Ferne nĂ€hernden Figuren ihre Mutter und Schwester zu erkennen. Als Nasrin den Hörer abnimmt, meldet sich ihr BĂąbĂą. Nasrin registriert, dass die beiden nun nĂ€her gekommenen Personen außerhalb der Zelle doch nicht ihre Verwandten sind, sondern „Gestalten [
], am gesamten Körper mit Brandnarben ĂŒbersĂ€t, die ihre Haut wie geschmolzenes Plastik wirken lassen. Ihre Augen sind leer, bluten“. Trotzdem hört Nasrin die Stimme ihrer Schwester aus dem Mund der kleineren Gestalt: „Ist BĂąbĂą am Telefon?“ Nasrin ergreift Panik, plötzlich mahnt nicht nur ihr Vater aus dem Hörer, sondern auch ihre Mutter und Schwester, die TĂŒr nicht zu öffnen, wĂ€hrend die verbrannten Gestalten gegen die Telefonzelle hĂ€mmern. Der Hörer wird so heiß, dass Nasrin ihn kurz fallen lĂ€sst. Als sie sich umblickt, erkennt sie draußen Flammen. Als sie verwirrt und verĂ€ngstigt fragt, was gerade geschieht, ertönt erneut eine Stimme aus dem Hörer:

‚Nas, hör fĂŒr einen Moment auf, so naiv zu sein. Was denkst du, was hier gerade passiert?‘ Verwirrt schaue ich mich um. Im glĂ€nzenden Metall der Telefonzelle suche ich nach meiner Spiegelung und finde nichts als Leere. (MdT 12)

So endet der Albtraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende KohĂ€renz des Geschehens und mangelnde kausale VerknĂŒpfungen: Z. B. ist die ErzĂ€hlerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur fĂŒr sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrĂ€ngen mĂŒsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsĂ€chlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die IdentitĂ€t der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkenn[t]“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die ErzĂ€hlerin bedrohen, ohne dass der Grund dafĂŒr deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne ErklĂ€rung der ErzĂ€hlerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die TrĂ€umerin selbst. Die extreme Hitze, die die TrĂ€umerin zunĂ€chst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z. B. dann, als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer EmotionalitĂ€t und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprĂ€gt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „Every now and then I fall apart“ aus Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless / When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die SĂ€ngerin als TrĂ€umerin inszeniert.

Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der ErzĂ€hlung und auch in den weiteren TrĂ€umen wieder aufgegriffen werden. Dazu zĂ€hlt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der ErzĂ€hlerin – „Schon wieder dieses GerĂ€usch“ – ergibt erst durch die weitere LektĂŒre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: Die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die TĂŒrklingel, die die Polizisten mit der Nachricht vom Tod der Schwester ankĂŒndigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen GerĂ€uschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen TrĂ€umen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme EmotionalitĂ€t und körperliches Empfinden verknĂŒpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der ErzĂ€hlung von migrantischen Erfahrungen), der in den TrĂ€umen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der ErzĂ€hlerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in TrĂ€umen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.

Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der ErzĂ€hlung immer wieder im Zusammenhang mit Nasrins (traumatisch verzerrter und unvollstĂ€ndiger) Erinnerung evoziert (insbesondere das Buch scheint hier ein treffendes Bild zu sein). Auch fĂŒr die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollstĂ€ndiges Bild und eine Desorientierung, die zunĂ€chst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzĂ€hlt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfĂ€hrt. Es wird, anders als in den folgenden TrĂ€umen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die TrĂ€umerin zeitlich hineintrĂ€umt. Dass die Schwester gegenĂŒber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafĂŒr sprechen, dass diese als kindlich getrĂ€umt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu ĂŒberlagern.

Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lĂ€sst sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen AnschlĂ€gen, die in den 90er Jahren in Deutschland verĂŒbt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den HĂ€nden der Angreifer*innen, brennende FlĂŒchtlingsunterkĂŒnfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemĂŒht war, die BrandanschlĂ€ge als EinzelfĂ€lle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brĂŒllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal.“


Wohnwagen

Der zweite Traum (MdT 101–102) wird geschildert, nachdem Nasrin zu ihrer Nichte Parvin gezogen ist:

Ich renne am Kanal entlang und leuchte mit einer Taschenlampe ins Wasser. An der OberflÀche schwimmt Nushs Lieblingskleid, einige Meter weiter ein Schuh, der ihr gehören könnte, dazwischen ein Autoreifen. Aus der Ferne höre ich den Hall ihrer Stimme, die lachend nach mir ruft. (MdT 101)

Nasrin rennt den im Wasser treibenden Tagesresten hinterher – das Lieblingskleid der Schwester, dessen Geruch sie einen Tag zuvor noch eingeatmet hat, der Reifen, der an ihren Tod erinnert. Als sie es aufgibt, der Stimme der Schwester nachzujagen, ertönt wieder das Klingeln und Nasrin sieht sich nach einer Telefonzelle um. Schließlich gelangt sie in ein Industriegebiet, in dem ein Wohnmobil steht.

Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit darin erkennen kann. Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark. Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich. (MdT 102)

Mit diesem GefĂŒhl der GelĂ€hmtheit erwacht Nasrin im Bett ihrer Schwester aus ihrem Albtraum. Weshalb sie den Wohnwagen im Traum erkannt hat, wird den Leser*innen erst ein paar Seiten spĂ€ter, in einer RĂŒckblende, klar werden (MdT 106–111). In dieser verirrt sich Nasrins zwölfjĂ€hriges Ich und wendet sich hilfesuchend an einen fremden Mann, Gerhard Walters, der ihre Situation ausnutzt und sie in seinem Wohnwagen vergewaltigt. Die Protagonistin wird in der Gewalt, die ihr an diesem Tag angetan wurde, einen wesentlichen Grund fĂŒr die „Löcher“ und „Krater“ sehen, die in ihr GedĂ€chtnis gerissen wurden: „[S]ein Blick war aus Stahl. Er bohrte Löcher in mich hinein, schuf ein GedĂ€chtnis aus Gips“ (MdT 111). Der Traum nimmt so in dem Bild des Wohnmobils vorweg, was auf erzĂ€hlerischer Ebene erst spĂ€ter aufgedeckt wird. Auch hier wird das (verdrĂ€ngte) Trauma durch einen Gegenstand reprĂ€sentiert, der gleichzeitig real und symbolisch ist. Im Traum entwickelt die Gewalttat eine Sogwirkung – Nasrin wird durch das strömende Wasser, die Stimme der unerreichbaren Schwester und das Klingeln aus der Telefonzelle in die Richtung des Wagens getrieben. Der Traum verbildlicht außerdem, wie die verschiedenen Ebenen einer traumatischen Vergangenheit sich ĂŒberlagern (die Telefonzelle, die hinter dem Wohnmobil hervorragt).

Auch in diesem Traum tauchen zwei Songtext-Fragmente auf – besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Evanescences „Bring Me to Life“ (2003), das den Wunsch zum Ausdruck bringt, aus dem Albtraum zu erwachen und vor dem Wiederleben des traumatischen Tages gerettet zu werden. Auch dieses Lied weist einen expliziten Traumbezug auf, der im Musikvideo nochmals unterstrichen wird: Hier trĂ€umt SĂ€ngerin Amy Lee davon, von einem Hochhaus zu fallen. Nasrins Traum hingegen greift ein anderes typisches Albtraum-Motiv auf. Eingeklemmt zwischen schwarzem Loch und Wohnwagen kann sie sich nicht bewegen – es ist der einzige Traum, in dem es ihr nicht gelingt, einen fĂŒr sie bestimmten Anruf anzunehmen. Gleichzeitig schwingt die Gefahr, in das bodenlose Loch hinter ihr zu stĂŒrzen, durch das Lied-Zitat mit.

Die Traumgrenzen werden bei dieser Passage verunsichert – Nasrins Erwachen kann als false awakening gedeutet werden. Mit den Albtraumbildern beschĂ€ftigt steht die ErzĂ€hlerin nachts auf und geht ins Wohnzimmer, wo sie ihre Nichte auf dem Sofa sitzend vorfindet. Parvin antwortet nicht und der Protagonistin kommt die Szene irgendwie irreal vor: „TrĂ€ume ich immer noch?“ Am nĂ€chsten Morgen sagt ihr Parvin, dass es keine nĂ€chtliche Begegnung gegeben habe.


Telefon

Etwa hundert Seiten spĂ€ter wird ein weiterer Traum (MdT 202–203) erzĂ€hlt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die ErzĂ€hlerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunĂ€chst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als wĂŒrde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung telefonisch zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ MerkwĂŒrdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:

Gerhards Lachen ist so laut, dass es in den Ohren wehtut. ‚Ich muss sie nicht gehen lassen. Sie ist zu mir gekommen. Sie bleibt, so lange sie will.‘
Ich will fragen, wo die beiden sind, doch mit einem Knallen haben sie aufgelegt. Ich versuche zurĂŒckzurufen, doch das GerĂ€t ist zu alt, um sich den Anrufer zu merken. Ich werfe trotzdem Geld rein. Das beschissene Teil schluckt meine letzte MĂŒnze.
‚Scheiße‘, brĂŒlle ich und werfe den Hörer auf die Gabel. In der engen Zelle bekomme ich kaum Luft. Ich versuche, die TĂŒr aufzustoßen, doch sie ist versperrt. Irgendwer muss sie von der Gegenseite zudrĂŒcken. Als ich durch das Glas schiele, stelle ich fest, dass dort niemand ist. (MdT 203)

Die unsichtbare Kraft am Ende des Traums knĂŒpft an Nasrins fehlendes Spiegelbild aus dem ersten Traum an. Dieser dritte Traum spielt mit der Erwartungshaltung des*der Leser*in. Da die ErzĂ€hlerin sich bei dem Streit, der dem Traum vorangegangen war, in der Wohnung befand und der Traum zunĂ€chst nicht als solcher zu erkennen ist und nahtlos an dieses Geschehen anzuknĂŒpfen scheint, deutet zu Beginn nichts darauf, dass Nasrin als TrĂ€umerin in einer Telefonzelle steht. TatsĂ€chlich spricht der Umstand, dass die Nummer als „unbekannt“ angezeigt wird, anfangs eher fĂŒr ein Mobiltelefon oder ein neueres Festnetztelefon. Dieses Bild verschiebt sich das erste Mal, als Nasrin mit dem Kabel des Telefons hantiert – „Olles, altes Teil.“ Eine erste Irritation: Vielleicht ist das Festnetztelefon der Schwester also ein Ă€lteres Modell? Dieses Bild wiederum löst sich auf, als die TrĂ€umerin versucht, MĂŒnzen in das GerĂ€t einzuwerfen, wodurch endgĂŒltig das Telefonzellen-Setting wiederkehrt. Dieses Anpassen des Traumbildes wĂŒrde einem zeitlichen Verlauf entsprechen – von neuer zu alter Technik, von Gegenwart zu Vergangenheit. Dazu kommt noch, dass die Beschreibungen des Telefons, die zu den VerĂ€nderungen der Szene fĂŒhren, jeweils von starken Emotionen des trĂ€umenden Ichs begleitet werden (NervositĂ€t, Panik). Die schrittweise VerĂ€nderung der Traumszene wĂŒrde so analog zu einem langsamen Herantasten an die traumatische Vergangenheit verlaufen.

Der Traum nimmt einerseits einen Gedanken auf, den Nasrin am Tag zuvor hatte – nĂ€mlich die Angst, Parvin könne Walters begegnet sein oder ihr könne etwas Ă€hnliches passieren wie in ihrer eigenen Kindheit. Andererseits scheint es im Traum auch Verschiebungen zu geben. Dazu gehört beispielsweise Parvins irritierender Befehl, sie nicht mehr bei ihrem eigenen Namen zu nennen, der vielleicht auf Nasrins Wunsch verweist, einen anderen Namen, den von Gerhard Walters, nie wieder hören zu mĂŒssen, schon gar nicht aus dem Mund ihrer Nichte. Gerhards Aussage, dass er Parvin nicht gehen lassen mĂŒsse, da sie sozusagen freiwillig zu ihm gekommen ist, verweist auf Nasrins eigene Erfahrung, die hier von dem TĂ€ter im Sinne eines victim blaming umgedeutet wird.


Traum(a)fabrik

Der letzte Traum wird wenig spĂ€ter beschrieben (MdT 225–229). Nasrin hat eine Mailbox-Nachricht ihrer verstorbenen Schwester abgehört. Beim Versuch, darin Hinweise zu finden, schlĂ€ft sie ein. Im Traum begeht sie ein altes, verlassenes IndustriegebĂ€ude – sie durchschreitet zunĂ€chst einen engen Gang und dann mehrere RĂ€ume, einen Maschinenraum, eine Halle:

In einer Ecke liegt ein Schrottberg [
]. Hier und da liegen ein paar Glasscherben auf dem Boden, teilweise sind sie viel grĂ¶ĂŸer als ich. Bei genauerer Betrachtung fallen mir auch zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene HandyhĂŒllen fĂŒr alte Modelle, wie das Nokia 3210, mein erstes MobilgerĂ€t, im Schrottberg auf. (MdT 226)

Die TrĂ€umerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im GebĂ€ude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fĂ€llt ihr Blick auf ein ĂŒbergroßes Portrait von Andy Warhol, darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf den KĂŒnstler verĂŒbt wurde („Doch was wĂ€re ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik ĂŒberlebt?“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? [
] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen [
]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“

Dem Traum geht eine RĂŒckblende voraus (1995): Nasrin und ihre Jugendclique werden bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nĂ€chsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach LĂŒbeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.

Aufschluss ĂŒber das im Traum erkundete IndustriegebĂ€ude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – Ministerium der TrĂ€ume – als eine Metapher fĂŒr den Kopf zu verstehen sei, als Ort der WĂŒnsche, Ängste, Erinnerungen und TrĂ€ume. Diese Metapher scheint in dem getrĂ€umten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenstĂ€ndlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle GegenstĂ€nde, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene HandyhĂŒllen“). Die Glasscherben – viel grĂ¶ĂŸer als die TrĂ€umerin – verweisen auf zwei der anderen TrĂ€ume, in denen das Glas einer Telefonzelle drohte zu zerbrechen und gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher fĂŒr die schwer zu bewĂ€ltigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „Ihr lĂŒckenhaftes GedĂ€chtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht grĂ¶ĂŸer als Sie“ (MdT 206)). Die TrĂ€umerin fĂŒhlt sich, anders als in den anderen TrĂ€umen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen RĂ€ume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfĂŒgen – der Maschinenraum, in denen GerĂ€te auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lĂ€stig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise einen neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die VerĂ€nderung der Farbe auch auf die reale Entwicklung der Telefonzellen, die in Deutschland zeitweise zumindest ein pinkfarbenes Dach hatten, verweisen).

Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lĂ€sst sich auf Nasrins Freund*innen von frĂŒher beziehen, die, wie sich spĂ€ter auf der Wachebene herausstellen wird, tatsĂ€chlich mehr darĂŒber wissen, wer fĂŒr den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen fĂŒr ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.

Der Verweis auf Andy Warhol und das Ende des Traums greifen das Wortspiel Traum(a)fabrik wieder auf, das tatsĂ€chlich auf eine HĂ€userwand gemalt ist, die von Nushins Wohnung aus sichtbar ist. Worauf sich dieses Wortspiel bezieht – z. B. auf den deutschen Rassismus, der das Land zu einer Traumafabrik fĂŒr Migrant*innen macht oder auf Nasrins Kopf, in dem die traumatische Vergangenheit immer wieder reproduziert wird – bleibt vieldeutig.

Jasna Pape

Literatur

Verwendete Ausgabe

  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der TrĂ€ume. Berlin: Aufbau [Blumenbar ] 2021. 1. Auflage.

Forschungsliteratur

  • Barrett, Deidre (Hrsg.): Trauma and Dreams. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1996.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzĂ€hlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
  • Pietrowsky, Reinhard: Was uns den Schlaf raubt. AlbtrĂ€ume in Psychologie, Kunst und Kultur. Darmstadt: wbg 2014.
  • Sliwinski, Sharon: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought. Minneapolis: University of Minnesota Press 2017.
  • Solte-Gresser, Christiane: Shoah-TrĂ€ume. Vergleichende Studien zum Traum als ErzĂ€hlverfahren. Paderborn: Wilhelm Fink 2021.

Rezensionen

Weitere Links


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Pape, Jasna: "Ministerium der TrÀume" (Hengameh Yaghoobifarah). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Ministerium_der_TrÀume%22_(Hengameh_Yaghoobifarah).