"Reisende auf einem Bein" (Herta MĂŒller): Unterschied zwischen den Versionen
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â | ''Reisende auf einem Bein'' ist der erste lĂ€ngere ErzĂ€hltext der rumĂ€nisch-deutschen Autorin Herta MĂŒller (*1953), der nach ihrer Ausreise aus RumĂ€nien in der Bundesrepublik 1987 beim Rotbuch-Verlag erschien (McGowan 2017, 25). Der Text enthĂ€lt vier Traumdarstellungen: drei TrĂ€ume der | + | ''Reisende auf einem Bein'' ist der erste lĂ€ngere ErzĂ€hltext der rumĂ€nisch-deutschen Autorin Herta MĂŒller (*1953), der nach ihrer Ausreise aus RumĂ€nien in der Bundesrepublik 1987 beim Rotbuch-Verlag erschien (McGowan 2017, 25). Der Text enthĂ€lt vier Traumdarstellungen: drei TrĂ€ume der Protagonistin Irene (RB 19, 102-104, 163-166) und einen Traum von Thomas, einem ihrer Freunde, der sich direkt an Irenes zweiten Traum anschlieĂt (RB 104 f.). |
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 | + | ==Autorin== | |
 | + | Herta MĂŒller, 1953 im rumĂ€nischen NiĆŁchidorf geboren, immigrierte 1987 unter dem CeauĆescu-Regime wegen ihrer Verfolgung durch die rumĂ€nische Securitate in die Bundesrepublik. In ihren Werken thematisiert sie die BeschĂ€digungen des Subjekts unter einer totalitĂ€ren Herrschaft. Ohne sich auf den kommunistischen Terror zu begrenzen, schildert die Autorin auch das triste, auf die Vernichtung des Individuellen ausgerichtete Dorfmilieu der banatdeutschen Minderheit in RumĂ€nien, dessen abgeschottete, âzugeschnĂŒrteâ AtmosphĂ€re von Normierungen und Verhaltenscodes eine an die MajoritĂ€t angepasste Wahrnehmung erzeugt und jeden Ausdruck von SubjektivitĂ€t verhindert. | |
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 | + | Die doppelte Herkunftslast aus zwei Diktaturen prĂ€gt Herta MĂŒllers Schreiben. In der Zeit der deutschen Okkupation schloss sich ihr Vater der Waffen-SS an, wĂ€hrend ihre Mutter wegen ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ein stalinistisches Arbeitslager auf dem Gebiet der heutigen Ukraine deportiert wurde (Eke 2017, 2-9). Herta MĂŒller schreibt: âgezeugt worden war ich nach dem Zweiten Weltkrieg von einem heimgekehrten SS-Soldaten. Und hineingeboren war ich in den Stalinismus. Der Vater und die Zeit â beides Tatsachen, die das Sich-wieder-Erfinden der Grazie unwiederbringlich machenâ (MĂŒller 1995, 10). | |
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â | + | Nach einem Studium der Germanistik und Romanistik an der Universitatea de Vest din TimiĆoara arbeitete Herta MĂŒller als Ăbersetzerin in einer Maschinenfabrik, bis der rumĂ€nische Geheimdienst Securitate versuchte, sie fĂŒr Spitzeldienste anzuwerben. WĂ€hrend ihres Studiums gehörte sie zum Kreis junger Autoren der sogenannten Aktionsgruppe ''Banat'', die mit der proletkultischen Tradition brechen wollte, ohne sich dem formalen Avantgardismus der 1960er Jahre anzuschlieĂen. 1975 beendete die Staatsmacht diesen Versuch, aus der staatsgelenkten Literatur auszubrechen, und die Gruppe wurde aufgelöst. Wegen der verweigerten Kollaboration mit der Securitate begann eine zermĂŒrbende Zeit der EinschĂŒchterung und Verleugnung fĂŒr die Autorin, die in Durchsuchungen, Verhören sowie in ein ihre Existenzgrundlage gefĂ€hrdendes Arbeitsverbot mĂŒndete und schlieĂlich in der Streuung von GerĂŒchten kulminierte, sie sei ein Securitatespitzel (Eke 2017, 6-9) - ein Vorwurf, den Herta MĂŒller als besonders psychisch belastend beschreibt und der selbst noch nach ihrer erzwungenen Ausreise aus RumĂ€nien im Jahr 1987 Konsequenzen fĂŒr sie hatte (wie etwa Verhöre beim Bundesnachrichtendienst; MĂŒller 2013, 52 f.).  | |
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 | + | 2009 verlieh das schwedische Nobelpreiskomitee Herta MĂŒller den Nobelpreis fĂŒr Literatur und begrĂŒndete diese Auszeichnung mit der besonderen Sprache der Autorin: âwho, with the concentration of poetry and the frankness of prose, depicts the landscape of the dispossessedâ (Nobelpreiskomitee). | |
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 | ==Inhaltlicher Ăberblick== |  | ==Inhaltlicher Ăberblick== |
â | Die Mitt-DreiĂigerin Irene reist aus dem âanderen Landâ in eine bundesrepublikanische GroĂstadt. Auch wenn | + | Die Mitt-DreiĂigerin Irene reist aus dem âanderen Landâ in eine bundesrepublikanische GroĂstadt. Auch wenn genaue Ortsangaben fehlen, können das CeauĆescu-RumĂ€nien und das Berlin der 1980er Jahre leicht als Orte der Handlung ausgemacht werden. Der Plot konzentriert sich auf die ziellosen Bewegungen Irenes durch die tristen urbanen Vororte mit ihren Discountern, NotunterkĂŒnften fĂŒr Asylsuchende, den Baustellen und dem Kinderstrich. Irenes Versuch, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, wird von bĂŒrokratischer Routine begleitet. Sie beginnt einige unverbindliche Beziehungen mit MĂ€nnern, die einerseits von ihrer Sehnsucht nach NĂ€he und Zugehörigkeit und andererseits von ihrer emotionalen Entfremdung und Bindungsangst geprĂ€gt sind (McGowan 2017, 25-30). |
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 | ==Die TrÀume== |  | ==Die TrÀume== |
 | ===Irenes Diktator-Traum=== |  | ===Irenes Diktator-Traum=== |
 | ====Beschreibung==== |  | ====Beschreibung==== |
â | Ihren ersten Traum trĂ€umt Irene vor ihrer bevorstehenden Ausreise aus RumĂ€nien in die Bundesrepublik. WĂ€hrend sie ihre Koffer packt, liegen ihre Blusen auf dem Boden | + | Ihren ersten Traum trĂ€umt Irene vor ihrer bevorstehenden Ausreise aus RumĂ€nien in die Bundesrepublik. WĂ€hrend sie ihre Koffer packt, liegen ihre Blusen zerstreut auf dem Boden. Ein Mann, der als âder Diktatorâ bezeichnet wird, tritt ĂŒber die chaotisch daliegenden Kleider âals wĂ€ren es LaubblĂ€tterâ (RB 19), wobei er sich an Irene mit dem Satz wendet: âDort ist es kĂ€lterâ (ebd.). Beginn und Ende des Traums werden durch den Satz âIrene hatte getrĂ€umt, daĂ sie den Koffer packteâ (ebd.) bzw. durch eine Leerzeile am Schluss des Traumes dezidiert markiert. |
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 | ====Analyse und Interpretation==== |  | ====Analyse und Interpretation==== |
â | In der Szene des Kofferpackens geht die bevorstehende Abreise aus dem âanderen Landâ als Tagesrest in das nĂ€chtliche Traumgeschehen ein. Der Satz âDort ist es kĂ€lterâ (ebd.) zeugt nicht nur von Irenes Angst vor ihrer Ausreise, sondern weist auch darauf hin, dass mit dem Verlassen des 'anderen Landes' das totalitĂ€re Macht- und KontrollgefĂŒge fĂŒr Irene nicht endet | + | In der Szene des Kofferpackens geht die bevorstehende Abreise aus dem âanderen Landâ als Tagesrest in das nĂ€chtliche Traumgeschehen ein. Der Satz âDort ist es kĂ€lterâ (ebd.) zeugt nicht nur von Irenes Angst vor ihrer Ausreise, sondern weist auch darauf hin, dass mit dem Verlassen des 'anderen Landes' das totalitĂ€re Macht- und KontrollgefĂŒge fĂŒr Irene nicht endet, sondern auch ĂŒber ihre Emotionen am Ankunftsort dominieren wird. In ihrem Essay Wie ''Wahrnehmung sich erfindet ''reflektiert die Autorin ĂŒber die Funktionsweise der Wahrnehmung: âDie Wahrnehmung, die sich erfindet [...] steht nicht still. Sie ĂŒberschreitet ihre Grenzen da, wo sie sich festhĂ€lt. Sie ist unbeabsichtigt, sie meint nichts Bestimmtes. Sie wird vom Zufall geschaukeltâ (MĂŒller 1991, 19). Diese grenzĂŒberschreitende und âvom Zufall geschaukelteâ Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Herta MĂŒllers Schreiben charakterisiert, korrespondiert mit dem psychischen PhĂ€nomen des Traumas. In der Forschungsliteratur hat sich ausgehend von diesem VerstĂ€ndnis der erfundenen Wahrnehmung fĂŒr Herta MĂŒllers Ă€sthetisches Verfahren der Begriff 'Poetik der Entgrenzung' eingebĂŒrgert (LĂŠgreid 2013, 55-79; Schau 1997, 63-77). In ihren Texten lösen sich die Grenzen zwischen den Subjekten und Objekten, den Sprachen, der Vergangenheit und der Gegenwart, der getrĂ€umten RealitĂ€t und der RealitĂ€t des Traumes auf.  |
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â | Diese Entgrenzung entspricht dem Zustand eines traumatisierten Menschen. Charakteristisch fĂŒr das Trauma | + | Diese Entgrenzung entspricht dem Zustand eines traumatisierten Menschen. Charakteristisch fĂŒr das Trauma ist eine âdauerhafte ErschĂŒtterung von Selbst- und WeltverstĂ€ndnisâ (Fischer 2000, 11f.), die mit einer örtlichen und zeitlichen DiskontinuitĂ€t (Varvin 2000, 893), der Umkehrung von Subjekt- und Objektrelationen sowie dem Verlust von Ich-Grenzen einhergeht (LĂŠgreid 2013, 79). Der entgrenzende Charakter des Traumes zeigt sich im Vergleich der KleidungsstĂŒcke mit den LaubblĂ€ttern: In Irenes Wahrnehmung verschwimmen die Kleider, die ihr aus den HĂ€nden auf den Boden âgleitenâ, zu LaubblĂ€ttern. Ihr Zimmer bĂŒĂt seine Grenzen ein und weitet sich aus, entgrenzt sich in der Anwesenheit des Diktators, der durch ihr Zimmer geht, âals hĂ€tte er eine weite, offene StraĂe vor sichâ (RB 19). FĂŒr den Diktator scheinen die Grenzen des Raumes aufgehoben zu sein. Dieser totalitĂ€ren Machtkontrolle kann Irene selbst in ihrem Traum nicht entkommen. Die Reinszenierung, das zwanghafte Wiederholen des traumatischen Ereignisses in TrĂ€umen gehört zur Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Brenner vergleicht diesen Mechanismus mit einer âzerkratzen Schallplatte, deren Nadel hĂ€ngen geblieben istâ (zit. nach Laub 2000, 868). Der traumatisierte Mensch spielt in seinen TrĂ€umen die AblĂ€ufe aus dem Trauma ab, wenn auch die das Trauma auslösenden Ereignisse selbst nur bruchstĂŒckhaft und in verdichteter und verschobener Form erscheinen (ebd.). Irene reinszeniert in ihrem Traum ein Trauma, das sseinen Ursprung in den destruktiven Machtmechanismen eines totalitĂ€ren Regimes hat. Sie wird mit der absoluten Ăbermacht des Diktators konfrontiert, die sich auf ihren intimsten Raum erstreckt und sie in ihren körperlichen Grenzen bedroht. Die Kleidung dient dem Menschen als Ausdruck seiner SubjektivitĂ€t und bedeckt ihn als SchutzhĂŒlle. Der Vergleich mit den ĂŒber den Boden verstreuten LaubblĂ€ttern suggeriert Irenes Nacktheit vor dem Diktator. Auch wenn der Text nicht explizit von dieser Nacktheit spricht, referiert das Motiv der LaubblĂ€tter doch offensichtlich auf die im Herbst entblĂ€tterten kahlen BĂ€ume.  |
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â | In einem ihrer Essays verweist Herta MĂŒller auf die im | + | In einem ihrer Essays verweist Herta MĂŒller auf die im Deutschen - anders als im RumĂ€nischen - existierende Doppelbedeutung des Wortes 'Blatt', das sowohl das Laub der BĂ€ume als auch PapierblĂ€tter bezeichnen kann. Der Vergleich mit den LaubblĂ€ttern lieĂe sich so mit dem Schreibprozess verbinden. Das Motiv des Zertretens der Kleider âals wĂ€ren es LaubblĂ€tterâ (RB 19) impliziert also auch die Vernichtung von Irenes IdentitĂ€t als KĂŒnstlerin. |
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 | ===Irenes Traum vom Sachbearbeiter=== |  | ===Irenes Traum vom Sachbearbeiter=== |
 | ====Beschreibung==== |  | ====Beschreibung==== |
â | Irene trĂ€umt zwei Traumsequenzen in derselben Nacht, was | + | Irene trĂ€umt zwei Traumsequenzen in derselben Nacht, was der Satz âEs war ein anderer Traum in der gleichen Nachtâ (RB 104) zwischen den beiden Traumteilen dezidiert markiert. In der ersten Traumsequenz sitzt Irene im Warteraum des Ăbergangslagers (TB 102). Diese Szenerie wird von einer Befragung Irenes durch einen deutschen Sachbearbeiter abgelöst, wobei der Trialog zwischen dem Sachbearbeiter, seiner SekretĂ€rin und Irene die Sequenz dominiert (RB 102 f.). Der Sachbearbeiter identifiziert einen Lastwagenfahrer, den er zufĂ€llig aus dem Fenster erblickt, als Polen und unterstellt ihm Charakteristika wie: âkeine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitsgenehmigung. Nichtsâ (RB 103). Als Irene ihn auf eine mögliche Verwechslung hinweist, entgegnet der Sachbearbeiter âZum Verwechseln braucht es zwei [âŠ] Sie können sicher sein, ich werde in Rente gehen, und ich werde sie alle noch kennen. Verwechseln mit wem?â (ebd.). Irene versucht, ihm mit der Umkehrung seiner Ressentiments zu begegnen, und merkt an, der Sachbearbeiter hĂ€tte ihn auch mit einem Deutschen verwechseln können. Dieser antwortet: âIch bitte Sie, Sie haben doch dieses Gesicht gesehen. Politisch verfolgt. Ja, wissen Sie, wenn jemand die Regierung stĂŒrzen will, wo kĂ€men wir da hinâ (ebd.). Der Traum endet mit dem BlĂ€ttern der SekretĂ€rin in Irenes Akte und dem Widerspruch zwischen ihrer Replik âDaĂ ich nicht lacheâ (ebd.) und ihrer Mimik âSie lachte nichtâ (ebd.). Die Sequenz erweist sich erst im letzten Satz als Traum: âIrene erwachte verschwitzt, als wĂ€re sie aus diesem Traum hinausgeranntâ (ebd.).  |
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â | + | Im zweiten Traum wechseln sich das Traumgeschehen sowie die Reflexion im Traum und ĂŒber das GetrĂ€umte ab. Irene trifft den Sachbearbeiter in der U-Bahn, der sie verfolgt und observiert. Er wendet sich an Irene mit einer Frage auf Deutsch, auf die sie jedoch nur auf RumĂ€nisch entgegnen kann (RB 104). Der Sachbearbeiter fasst sie am Ellbogen und kommentiert diese körperliche GrenzĂŒberschreitung mit dem Satz: âDeutsch sprechen Sie nur, wenn Sie zu mir ins BĂŒro kommenâ (ebd.). Auf diese Replik hin verstummt Irene: âIrene hatte das Deutsche vergessenâ (ebd.). Nur noch ein einziger deutscher Satz fĂ€llt ihr ein, den in Irenes Wachleben Thomas zur ihr gesagt hatte: âWeshalb vergleichst Du immer, es ist doch nicht Deine Mutterspracheâ (ebd.). Es folgt eine paradoxe Reflexion Irenes: âEs wĂ€re ein langer Satz gewesen. Er hĂ€tte bewiesen, daĂ Irene Deutsch sprach. Doch er hĂ€tte mehr geschadet, als genĂŒtzt. Das wusste Irene sogar im Traumâ (ebd.). | |
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 | ====Analyse und Interpretation==== |  | ====Analyse und Interpretation==== |
â | Die erste Traumsequenz erweist sich, wie bereits erwĂ€hnt, erst im letzten Satz als Traum: âIrene erwachte verschwitzt, als wĂ€re sie aus diesem Traum hinausgeranntâ (RB 103). Irene nimmt sich in der ohnmĂ€chtigen Position gegenĂŒber dem Sachbearbeiter und seiner SekretĂ€rin wahr. Verglichen mit dem Traum verlĂ€uft die Begegnung mit dem Sachbearbeiter im Irenes Wachleben wesentlich subtiler, auch wenn seine auf den ersten Blick geĂ€uĂerte Empathie âHaben Sie Heimwehâ (RB 55) floskelhaft klingt und sich als ein latenter Vorwurf entpuppt: âSie sind so empfindlich [âŠ] Man könnte meinen, daĂ unser Land alles aufwiegen soll, was ihr Land verbrochen hatâ (ebd.). Irene | + | Die erste Traumsequenz erweist sich, wie bereits erwĂ€hnt, erst im letzten Satz als Traum: âIrene erwachte verschwitzt, als wĂ€re sie aus diesem Traum hinausgeranntâ (RB 103). Irene nimmt sich in der ohnmĂ€chtigen Position gegenĂŒber dem Sachbearbeiter und seiner SekretĂ€rin wahr. Verglichen mit dem Traum verlĂ€uft die Begegnung mit dem Sachbearbeiter im Irenes Wachleben wesentlich subtiler, auch wenn seine auf den ersten Blick geĂ€uĂerte Empathie âHaben Sie Heimwehâ (RB 55) floskelhaft klingt und sich als ein latenter Vorwurf entpuppt: âSie sind so empfindlich [âŠ]. Man könnte meinen, daĂ unser Land alles aufwiegen soll, was ihr Land verbrochen hatâ (ebd.). Irene re-inszeniert in den beiden Traumsequenzen die Erfahrungen von Observation und Verhören, die sich ihr in verschobener Form zeigen. Spielt in der ersten Traumsequenz noch Irenes Dialog mit dem Sachbearbeiter als Tagesrest hinein, nimmt das Traumgeschehen in der zweiten Traumsequenz eine gĂ€nzlich andere, von Irenes Wachleben distinkte QualitĂ€t an, wenn der Sachbearbeiter Irene observiert.  |
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 | + | In ihrem Essay ''Der Fremde Blick'' reflektiert die Autorin ĂŒber die Projektion von totalitĂ€ren Erfahrungen auf anders strukturierte Situationen. Ihre Reflexionen korrelieren dabei mit den psychologischen ErklĂ€rungsmodellen des Traumas wie Triggermechanismus oder Re-inszenierung. Die Autorin spricht von âder gewohnten Angstâ (MĂŒller 2010, 142) und âfremdem Blickâ: âDer fremde Blick bĂŒgelt fremde Gesichter und Gesten und konstatiert schnell, wie er es jahrelang geĂŒbt hat: Kaum geschaut ist die Deutung eingebaut. Er [âŠ] zieht falsche, oft drastische SchlĂŒsse, die nicht korrigiert werdenâ (ebd.). Dieser fremde Blick bestimmt auch Irenes Trauminhalte. Irenes Unterbewusstsein projiziert die Bedingungen der totalen Ăberwachung des âanderen Landesâ auf ihre Begegnung mit dem Sachbearbeiter, wobei die Verhörsituation und die amtliche Stellung den einzigen genuinen Rahmen fĂŒr beide Erfahrungshorizonte bilden.  | |
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 | + | Herta MĂŒller betont den Inszenierungscharakter der Verhöre (MĂŒller 2013, 42). Um die totale Macht und Kontrolle ĂŒber die Verhörsituation zu gewĂ€hrleisten, versucht der Verhörende den Zufall auszublenden, wĂ€hrend dem Verhörten eine fremdbestimmte Rolle zugewiesen wird, die ihn einer vom Befrager fĂŒr ihn vorgegebenen schaurigen Regie gĂ€nzlich unterwirft. Die Fragen, mit denen der Befragte konfrontiert wird, die Marter und Drohgesten werden bis ins Detail kalkuliert und geplant. Die Vorhersehbarkeit, die aus der Vermeidung alles ZufĂ€lligen und Unberechenbaren entsteht, rĂ€umt dem Verhörenden eine absolute Kontrollposition ĂŒber den Verlauf des Verhörs ein. Bei dem Verhörten schlĂ€gt sie dagegen in eine von den Intentionen des Verhörenden gĂ€nzlich abhĂ€ngige und ohnmĂ€chtige Stellung um. Dieser Verlust von Kontrolle geht bis in die Körpergrenzen hinein und bedingt eine traumatische, entgrenzte oder mit Worten Herta MĂŒllers 'vom Zufall geschaukelte Wahrnehmungâ (MĂŒller 1991, 19) auf Seiten des Verhörten. Gerade weil seine Wahrnehmung gĂ€nzlich vom Willen des Verhörenden abhĂ€ngt, entgleitet sie ihm. Auch die Gesten und Worte des Sachbearbeiters sowie der SekretĂ€rin, die als seine Komplizin auftritt, selbst die Anordnung der GegenstĂ€nde auf dem Tisch, erscheinen im Traum kalkuliert und demonstrieren eine Machtposition: âDer Sachbearbeiter trank im Stehenâ (RB 103); âErst als er wieder saĂ, stellte er die Kaffeetasse auf den Schreibtisch (ebd.). Der Satz âSie [die SekretĂ€rin] behielt die TĂŒrklinke in der Handâ (ebd., 102) verweist auf seinen semantischen Kern âdie VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber etwas besitzenâ. Das Motiv des Tretens taucht auch hier auf, als der Sachbearbeiter ĂŒber Irenes Schuhe tritt: âEr [der Sachbearbeiter] machte einen Schritt ĂŒber Irenes Schuhe. Irene schob die Schuhe unter den Stuhlâ (ebd., 103). Der Text spricht von Schuhen und nicht von FĂŒĂen, die GegenstĂ€nde ersetzen die Körperteile. Eine derartige VergegenstĂ€ndlichung des Subjekts ist ebenfalls charakteristisch fĂŒr das Trauma (LĂŠgreid 2013, 79).  | |
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 | Die Observation durch den Sachbearbeiter hat bei Irene den Verlust der rumĂ€nischen Sprache zur Folge. Auch Thomasâ Satz aus Irenes Wachleben bezieht sich auf das RumĂ€nische, das er ihr gegenĂŒber insofern abwertet als er Irene die Vergleichbarkeit des Deutschen mit dem RumĂ€nischen abspricht und es damit begrĂŒndet, RumĂ€nisch sei nicht ihre Muttersprache (RB 104). Irenes doppelte IdentitĂ€t und ihre Zweisprachigkeit erweisen sich fĂŒr sie als eine doppelte Erfahrung von Fremdheit und bergen in sich eine potentielle GefĂ€hrdung durch die Verwendung einer falschen Sprache, ihre Fremdheit zu offenbaren. Selbst in ihrem Traum formiert sich in Irene ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und -kontrolle, der in der Angst vor der totalen Ăberwachung seinen Urgrund hat. |  | Die Observation durch den Sachbearbeiter hat bei Irene den Verlust der rumĂ€nischen Sprache zur Folge. Auch Thomasâ Satz aus Irenes Wachleben bezieht sich auf das RumĂ€nische, das er ihr gegenĂŒber insofern abwertet als er Irene die Vergleichbarkeit des Deutschen mit dem RumĂ€nischen abspricht und es damit begrĂŒndet, RumĂ€nisch sei nicht ihre Muttersprache (RB 104). Irenes doppelte IdentitĂ€t und ihre Zweisprachigkeit erweisen sich fĂŒr sie als eine doppelte Erfahrung von Fremdheit und bergen in sich eine potentielle GefĂ€hrdung durch die Verwendung einer falschen Sprache, ihre Fremdheit zu offenbaren. Selbst in ihrem Traum formiert sich in Irene ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und -kontrolle, der in der Angst vor der totalen Ăberwachung seinen Urgrund hat. |
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 | ===Thomas' Lakritztraum=== |  | ===Thomas' Lakritztraum=== |
 | ====Beschreibung==== |  | ====Beschreibung==== |
â | Der Traum des homosexuellen Protagonisten Thomas schlieĂt sich unmittelbar an Irenes Traum an und zwar als eine Erinnerung Irenes an einen Dialog mit Thomas, in dem | + | Der Traum des homosexuellen Protagonisten Thomas schlieĂt sich unmittelbar an Irenes Traum an und zwar als eine Erinnerung Irenes an einen Dialog mit Thomas, in dem dieser ihr seinen Traum erzĂ€hlt hatte. Der oben zitierte Satz von Thomas, den Irene am Schluss ihres Traumes trĂ€umt, und der unmittelbar darauf anschlieĂende Satz âTrĂ€ume haben ihre GrĂŒnde, hatte Thomas gesagt, als er seinen Lakritztraum erzĂ€hlteâ (RB 104) bilden den Ăbergang zu seinem Traum. Der Traum wird aus seiner Ich-Perspektive geschildert. Thomas trĂ€umt von einem Dorf âmit einstöckigen, verstreuten HĂ€usernâ (ebd.), die ihm âmehr zerrissen als bewohntâ (ebd.) erscheinen. Diese Szenerie wird von einem Kindergeburtstag abgelöst, auf dem nur Frauen anwesend sind, selbst sein Sohn erscheint Thomas als MĂ€dchen. Als einzige Speise auf dem Geburtstag dominieren die Lakritzschnecken den ganzen Raum. Die MĂ€dchen und die Frauen essen die Lakritzschnecken, rollen sie aus, verknoten sie und spielen mit den zu Schienen aufgerollten Lakritzschnecken Eisenbahn (RB 104 f.). Der Traum endet mit der emotionalen Abwehr des eigenen Traumes: âSo einen Traum wĂŒnsch ich niemandem, sagte Thomas, nicht einmal einem Feindâ (RB 105). |
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 | ====Analyse und Interpretation==== |  | ====Analyse und Interpretation==== |
â | In dieser Traumsequenz dominiert die erwachsene ĂŒber die kindliche Welt, gleichzeitig zeichnet sich der Traum durch die OmniprĂ€senz des Weiblichen aus: âEs waren mehr Erwachsene als Kinder da. Alle Erwachsene waren Frauen. Und alle Kinder waren MĂ€dchenâ ( | + | In dieser Traumsequenz dominiert die erwachsene ĂŒber die kindliche Welt, gleichzeitig zeichnet sich der Traum durch die OmniprĂ€senz des Weiblichen aus: âEs waren mehr Erwachsene als Kinder da. Alle Erwachsene waren Frauen. Und alle Kinder waren MĂ€dchenâ (RB 104). Selbst Thomasâ eigener Sohn erscheint ihm als MĂ€dchen. Die weiblichen Traumfiguren ĂŒben VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber die Lakritzschnecken aus, die als einzige Speise auf diesem Kindergeburtstag nicht nur den kompletten Raum besetzen, sondern ausschlieĂlich von weiblichen Figuren gegessen und verformt werden oder ihnen als Spielzeug dienen: âAuf dem Tisch, auf den StĂŒhlen, unter dem Tisch, unter den StĂŒhlen, lag alles voll mit Lakritzschnecken, die Frauen und MĂ€dchen rollten die Lakritzschnecken aus, machten einen Knoten hinein und aĂen sie. Die MĂ€dchen spielten mit aufgerollten Lakritzschnecken Eisenbahnâ (RB 105).  |
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 | + | WĂ€hrend Irenes TrĂ€ume aus der heterodiegetischen Perspektive mit interner Fokalisierung geschildert werden, erzĂ€hlt Thomas seinen Traum fĂŒr die Dauer seines Traumberichts aus der homodiegetischen ErzĂ€hlperspektive. Die Mediatisierung der weiblichen Perspektive illustriert einerseits Irenes traumatische Entfremdung aus ihrem Ich, andererseits korrespondiert sie mit Thomasâ Dominanz, die sich in der misogynen VerdrĂ€ngung und Verachtung des Weiblichen Ă€uĂert und die in der Beziehung zu Irene ebenfalls sichtbar wird.  | |
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 | + | Thomasâ Traum kann unter dem Blickwinkel seiner HomosexualitĂ€t interpretiert werden. Er geht keine Beziehungen mit MĂ€nnern ein. Wegen seiner Bindungsphobie und der Furcht vor der Aufdeckung kann er seine homoerotische Neigung nur auf dem Strich ausleben. Zwei InterpretationsansĂ€tze bieten sich an: Im Traum manifestiert sich seine Angst und Ekel vor der weiblichen Vereinnahmung sowie dem Verlust seiner sowohl mĂ€nnlichen als auch homosexuellen IdentitĂ€t. Die aufgerollten Lakritzschnecken, verknĂŒpft mit dem Eisenbahnspiel lieĂen sich im Sinne einer freudianischen Umkehrung interpretieren. Das Zugmotiv stellt ein klassisches Phallussymbol dar wie beispielsweise am Ende von Alfred Hitchcocks Film ''Der unsichtbare Dritte'' (''North by Northwest''; USA 1959). Im Traum formen die MĂ€dchen aus den Lakritzschnecken - aus einer klebrigen, sĂŒĂ-bitteren, schneckenförmigen Masse, die sich eine Vagina assoziieren lĂ€sst - die Eisenbahnschienen. In dieser Metamorphose vom weiblichen zum mĂ€nnlichen Genital tritt einerseits ein Transgenderaspekt zu Tage - auch Thomas Sohn wechselt sein Geschlecht - andererseits reprĂ€sentieren die ausschlieĂlich weiblichen Protagonistinnen die OmniprĂ€senz und Dominanz des Weiblichen. Thomas erlebt den Geschlechterwechsel nicht als ein lustvolles Spiel, er gerinnt fĂŒr ihn zum Alptraum, in dem das Weibliche aus der VerdrĂ€ngung auftaucht und die weibliche Lust seine mĂ€nnliche und homosexuelle IdentitĂ€t gleich in doppelter Weise bedroht: zum einen durch die völlige Absenz mĂ€nnlicher Subjekte, zum anderen weil das MĂ€nnliche auf die Genitalien reduziert und objektiviert wird und lediglich als verformbares Sexualobjekt fĂŒr den weiblichen Blick fungiert. Thomas' Traum lieĂe sich aber, entgegen seiner eigener emotionalen Abwehr, auch als ein Wunschtraum interpretieren. Trotz des artikulierten Ekels gegenĂŒber Irene (âjetzt wirst Du welken, zuerst dein Magen, dann dein Hals, dann dein Gesichtâ, RB 110) geht Thomas eine sexuelle Beziehung mit ihr ein: âIch musste Dich doch rasch noch lieben, bevor du welkstâ (RB 111). Thomas stöĂt ab, was er begehrt. Dieser VerdrĂ€ngung und Absenz des Weiblichen in Thomasâ Wachleben steht die OmniprĂ€senz des Weiblichen in seinem Traum gegenĂŒber. | |
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 | ===Irenes Metamorphosentraum=== |  | ===Irenes Metamorphosentraum=== |
 | ====Beschreibung==== |  | ====Beschreibung==== |
â | Ihren letzten Traum trĂ€umt Irene im vorletzten Kapitel. Sie sitzt in einem Fischrestaurant | + | Ihren letzten Traum trĂ€umt Irene im vorletzten Kapitel. Sie sitzt in einem Fischrestaurant zusammen mit den drei mĂ€nnlichen Nebenfiguren Steffen, Thomas und Franz sowie einem Bauarbeiter, den sie in ihrem Wachleben als Beobachtungsobjekt ausgesucht hatte. Als Irene sich an den Tisch setzt, sieht sie eine andere Frau, die eine getreue Kopie von ihr darstellt und âdie andere Ireneâ genannt wird. Die Personen am Tisch reden miteinander, wobei ihre Interaktion von der Metamorphose einer Figur in die andere und einem Verwechslungsspiel zwischen Irene und âder anderen Ireneâ begleitet wird: âIrene schaute Thomas an. Dann Franz. Einer hatte das Gesicht des anderen angenommenâ (RB 165), âThomas oder Franz begleitete Irene nach Hauseâ (ebd.), âAuch nach dem langen Zungenkuss wusste Irene nicht, ob Franz oder Thomas sie kĂŒssteâ (ebd.), âDer Arbeiter sah Irene an. Dann die andere Irene: Wer von euch beiden ist denn die Attrappe?â (ebd.). Zwischen Irene und allen mĂ€nnlichen Figuren entsteht eine von heiterer Lust begleitete körperliche NĂ€he. Der Traum endet mit der Forderung Irenes an Franz und Thomas: âIhr sollt mich beide nicht verlassenâ (ebd.), wobei âeiner von den beidenâ (RB 166) darauf erwidert: âDich nicht. Wenn es sein muĂ, dann die andere Ireneâ (ebd.). |
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 | ====Analyse und Interpretation==== |  | ====Analyse und Interpretation==== |
â | Verglichen mit den anderen TrĂ€umen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und lieĂe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und IntertextualitĂ€t interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet âIn dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kanntenâ ( | + | Verglichen mit den anderen TrĂ€umen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und lieĂe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und IntertextualitĂ€t interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet âIn dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kanntenâ (RB 163) auf ein nĂ€chtliches Geschehen hin.  |
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 | + | Die Passage referiert auf Italo Calvinos (1953-1985) Roman ''Die unsichtbaren StĂ€dte'' (''Le cittĂ invisibili'', 1972), in dem eine Stadt den Namen 'Irene' trĂ€gt. Bei Calvino ist dies der einzige Ort, der fĂŒr Kublai Khan unerreichbar bleibt und gleichzeitig ĂŒber keine konstanten Eigenschaften verfĂŒgt, sondern sich stetig wandelt: âIrene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich Ă€ndert, wenn man ihr nĂ€her kommtâ (Calvino 2007, 134). Diese UnschĂ€rfe der Stadt Ă€uĂert sich im âRosa der HĂ€user [âŠ], das sich verdĂŒnntâ und in den diversen Deutungen der GerĂ€usche, die von der Stadt ausgehen: âDie Hinunterblickenden ergehen sich in MutmaĂungen ĂŒber das, was in der Stadt vorgehen magâ (Calvino 2007, 133), âManchmal trĂ€gt der Wind Musik von Pauken und Trompetenâ (ebd.), âmanchmal das Rattern von Maschinengewehrenâ (ebd.). Auch Herta MĂŒller greift diese flĂŒssige, sich stets wandelnde Form auf: âKaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenziehtâ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als ProjektionsflĂ€che demaskiert, sie bietet eine Leerstelle fĂŒr mĂ€nnliche Imagination und erscheint austauschbar: âvielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochenâ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns TrĂ€umen reprĂ€sentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der StĂ€dte den weiblichen Körper.  | |
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 | + | Ăhnlich wie Calvino verknĂŒpft Herta MĂŒller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text aber als Fiktion entlarvt: âIch weiĂ, es ist nur Einbildung, nur Schwindel [âŠ]. Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daranâ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden TrĂ€ume bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von MĂ€nnern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend sind die narrativ-reflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des ĂŒbrigen Textes kontrastiert: âWer von euch beiden ist denn die Attrappeâ (RB 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: âZwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene kĂŒĂte eine blĂ€uliche Farbeâ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Die Farbe âblĂ€ulichâ reprĂ€sentiert im GesamtgefĂŒge des Traumes die Treue. Irene reagiert auf das mĂ€nnliche Treueverlangen âDu sollst Augen haben nur fĂŒr michâ (RB 165) mit Verdruss: âDas macht mĂŒdeâ (ebd.). WĂ€hrend Calvino den weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik projiziert und damit vergegenstĂ€ndlicht, erlangt das Weibliche bei Herta MĂŒller Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Irenes letzter Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn sich diese Demaskierung der mĂ€nnlich konstruierten Weiblichkeit nur im imaginierten Raum des Traumes ereignet und daher eine weibliche Wunschprojektion bleibt. | |
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 | ==Einordnung== |  | ==Einordnung== |
â | Die ganze ErzĂ€hlung ''Reisende auf einem Bein'' weist eine Traumlogik auf, die aus der traumatischen Wahrnehmung Irenes resultiert und in der sich die Grenzen zwischen Irenes halluzinatorischem Blick und der RealitĂ€t verflĂŒssigen. Dennoch greift der Text auf die deutlich markierten nĂ€chtlichen TrĂ€ume zurĂŒck. WĂ€hrend die ersten beiden TrĂ€ume fĂŒr Irene zu AlptrĂ€umen gerinnen, in denen | + | Die ganze ErzĂ€hlung ''Reisende auf einem Bein'' weist eine Traumlogik auf, die aus der traumatischen Wahrnehmung Irenes resultiert und in der sich die Grenzen zwischen Irenes halluzinatorischem Blick und der RealitĂ€t verflĂŒssigen. Dennoch greift der Text auf die deutlich markierten nĂ€chtlichen TrĂ€ume zurĂŒck. WĂ€hrend die ersten beiden TrĂ€ume fĂŒr Irene zu AlptrĂ€umen gerinnen, in denen sie das Trauma und die sie stĂ€ndig begleitende Angst vor der totalitĂ€ren Kontrolle reinszeniert, bietet der letzte Traum ein erlösendes Potenzial, das aus der FĂ€higkeit zur Imagination resultiert. Die Metamorphosen der mĂ€nnlichen Protagonisten und die Doppelung der Irenefigur werden zu einem Spiel mit Masken und verschiedenen IdentitĂ€ten (zur Selbstverdoppelung im Traum vgl. Solte-Gresser 2011, 255f.). |
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 | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Natascha Denner]]</div> |  | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Natascha Denner]]</div> |
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 | ==Literatur== |  | ==Literatur== |
Aktuelle Version vom 26. Februar 2021, 02:38 Uhr
Reisende auf einem Bein ist der erste lĂ€ngere ErzĂ€hltext der rumĂ€nisch-deutschen Autorin Herta MĂŒller (*1953), der nach ihrer Ausreise aus RumĂ€nien in der Bundesrepublik 1987 beim Rotbuch-Verlag erschien (McGowan 2017, 25). Der Text enthĂ€lt vier Traumdarstellungen: drei TrĂ€ume der Protagonistin Irene (RB 19, 102-104, 163-166) und einen Traum von Thomas, einem ihrer Freunde, der sich direkt an Irenes zweiten Traum anschlieĂt (RB 104 f.).
Autorin
Herta MĂŒller, 1953 im rumĂ€nischen NiĆŁchidorf geboren, immigrierte 1987 unter dem CeauĆescu-Regime wegen ihrer Verfolgung durch die rumĂ€nische Securitate in die Bundesrepublik. In ihren Werken thematisiert sie die BeschĂ€digungen des Subjekts unter einer totalitĂ€ren Herrschaft. Ohne sich auf den kommunistischen Terror zu begrenzen, schildert die Autorin auch das triste, auf die Vernichtung des Individuellen ausgerichtete Dorfmilieu der banatdeutschen Minderheit in RumĂ€nien, dessen abgeschottete, âzugeschnĂŒrteâ AtmosphĂ€re von Normierungen und Verhaltenscodes eine an die MajoritĂ€t angepasste Wahrnehmung erzeugt und jeden Ausdruck von SubjektivitĂ€t verhindert.
Die doppelte Herkunftslast aus zwei Diktaturen prĂ€gt Herta MĂŒllers Schreiben. In der Zeit der deutschen Okkupation schloss sich ihr Vater der Waffen-SS an, wĂ€hrend ihre Mutter wegen ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ein stalinistisches Arbeitslager auf dem Gebiet der heutigen Ukraine deportiert wurde (Eke 2017, 2-9). Herta MĂŒller schreibt: âgezeugt worden war ich nach dem Zweiten Weltkrieg von einem heimgekehrten SS-Soldaten. Und hineingeboren war ich in den Stalinismus. Der Vater und die Zeit â beides Tatsachen, die das Sich-wieder-Erfinden der Grazie unwiederbringlich machenâ (MĂŒller 1995, 10).
Nach einem Studium der Germanistik und Romanistik an der Universitatea de Vest din TimiĆoara arbeitete Herta MĂŒller als Ăbersetzerin in einer Maschinenfabrik, bis der rumĂ€nische Geheimdienst Securitate versuchte, sie fĂŒr Spitzeldienste anzuwerben. WĂ€hrend ihres Studiums gehörte sie zum Kreis junger Autoren der sogenannten Aktionsgruppe Banat, die mit der proletkultischen Tradition brechen wollte, ohne sich dem formalen Avantgardismus der 1960er Jahre anzuschlieĂen. 1975 beendete die Staatsmacht diesen Versuch, aus der staatsgelenkten Literatur auszubrechen, und die Gruppe wurde aufgelöst. Wegen der verweigerten Kollaboration mit der Securitate begann eine zermĂŒrbende Zeit der EinschĂŒchterung und Verleugnung fĂŒr die Autorin, die in Durchsuchungen, Verhören sowie in ein ihre Existenzgrundlage gefĂ€hrdendes Arbeitsverbot mĂŒndete und schlieĂlich in der Streuung von GerĂŒchten kulminierte, sie sei ein Securitatespitzel (Eke 2017, 6-9) - ein Vorwurf, den Herta MĂŒller als besonders psychisch belastend beschreibt und der selbst noch nach ihrer erzwungenen Ausreise aus RumĂ€nien im Jahr 1987 Konsequenzen fĂŒr sie hatte (wie etwa Verhöre beim Bundesnachrichtendienst; MĂŒller 2013, 52 f.).
2009 verlieh das schwedische Nobelpreiskomitee Herta MĂŒller den Nobelpreis fĂŒr Literatur und begrĂŒndete diese Auszeichnung mit der besonderen Sprache der Autorin: âwho, with the concentration of poetry and the frankness of prose, depicts the landscape of the dispossessedâ (Nobelpreiskomitee).
Inhaltlicher Ăberblick
Die Mitt-DreiĂigerin Irene reist aus dem âanderen Landâ in eine bundesrepublikanische GroĂstadt. Auch wenn genaue Ortsangaben fehlen, können das CeauĆescu-RumĂ€nien und das Berlin der 1980er Jahre leicht als Orte der Handlung ausgemacht werden. Der Plot konzentriert sich auf die ziellosen Bewegungen Irenes durch die tristen urbanen Vororte mit ihren Discountern, NotunterkĂŒnften fĂŒr Asylsuchende, den Baustellen und dem Kinderstrich. Irenes Versuch, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, wird von bĂŒrokratischer Routine begleitet. Sie beginnt einige unverbindliche Beziehungen mit MĂ€nnern, die einerseits von ihrer Sehnsucht nach NĂ€he und Zugehörigkeit und andererseits von ihrer emotionalen Entfremdung und Bindungsangst geprĂ€gt sind (McGowan 2017, 25-30).
Die TrÀume
Irenes Diktator-Traum
Beschreibung
Ihren ersten Traum trĂ€umt Irene vor ihrer bevorstehenden Ausreise aus RumĂ€nien in die Bundesrepublik. WĂ€hrend sie ihre Koffer packt, liegen ihre Blusen zerstreut auf dem Boden. Ein Mann, der als âder Diktatorâ bezeichnet wird, tritt ĂŒber die chaotisch daliegenden Kleider âals wĂ€ren es LaubblĂ€tterâ (RB 19), wobei er sich an Irene mit dem Satz wendet: âDort ist es kĂ€lterâ (ebd.). Beginn und Ende des Traums werden durch den Satz âIrene hatte getrĂ€umt, daĂ sie den Koffer packteâ (ebd.) bzw. durch eine Leerzeile am Schluss des Traumes dezidiert markiert.
Analyse und Interpretation
In der Szene des Kofferpackens geht die bevorstehende Abreise aus dem âanderen Landâ als Tagesrest in das nĂ€chtliche Traumgeschehen ein. Der Satz âDort ist es kĂ€lterâ (ebd.) zeugt nicht nur von Irenes Angst vor ihrer Ausreise, sondern weist auch darauf hin, dass mit dem Verlassen des 'anderen Landes' das totalitĂ€re Macht- und KontrollgefĂŒge fĂŒr Irene nicht endet, sondern auch ĂŒber ihre Emotionen am Ankunftsort dominieren wird. In ihrem Essay Wie Wahrnehmung sich erfindet reflektiert die Autorin ĂŒber die Funktionsweise der Wahrnehmung: âDie Wahrnehmung, die sich erfindet [...] steht nicht still. Sie ĂŒberschreitet ihre Grenzen da, wo sie sich festhĂ€lt. Sie ist unbeabsichtigt, sie meint nichts Bestimmtes. Sie wird vom Zufall geschaukeltâ (MĂŒller 1991, 19). Diese grenzĂŒberschreitende und âvom Zufall geschaukelteâ Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Herta MĂŒllers Schreiben charakterisiert, korrespondiert mit dem psychischen PhĂ€nomen des Traumas. In der Forschungsliteratur hat sich ausgehend von diesem VerstĂ€ndnis der erfundenen Wahrnehmung fĂŒr Herta MĂŒllers Ă€sthetisches Verfahren der Begriff 'Poetik der Entgrenzung' eingebĂŒrgert (LĂŠgreid 2013, 55-79; Schau 1997, 63-77). In ihren Texten lösen sich die Grenzen zwischen den Subjekten und Objekten, den Sprachen, der Vergangenheit und der Gegenwart, der getrĂ€umten RealitĂ€t und der RealitĂ€t des Traumes auf.
Diese Entgrenzung entspricht dem Zustand eines traumatisierten Menschen. Charakteristisch fĂŒr das Trauma ist eine âdauerhafte ErschĂŒtterung von Selbst- und WeltverstĂ€ndnisâ (Fischer 2000, 11f.), die mit einer örtlichen und zeitlichen DiskontinuitĂ€t (Varvin 2000, 893), der Umkehrung von Subjekt- und Objektrelationen sowie dem Verlust von Ich-Grenzen einhergeht (LĂŠgreid 2013, 79). Der entgrenzende Charakter des Traumes zeigt sich im Vergleich der KleidungsstĂŒcke mit den LaubblĂ€ttern: In Irenes Wahrnehmung verschwimmen die Kleider, die ihr aus den HĂ€nden auf den Boden âgleitenâ, zu LaubblĂ€ttern. Ihr Zimmer bĂŒĂt seine Grenzen ein und weitet sich aus, entgrenzt sich in der Anwesenheit des Diktators, der durch ihr Zimmer geht, âals hĂ€tte er eine weite, offene StraĂe vor sichâ (RB 19). FĂŒr den Diktator scheinen die Grenzen des Raumes aufgehoben zu sein. Dieser totalitĂ€ren Machtkontrolle kann Irene selbst in ihrem Traum nicht entkommen. Die Reinszenierung, das zwanghafte Wiederholen des traumatischen Ereignisses in TrĂ€umen gehört zur Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Brenner vergleicht diesen Mechanismus mit einer âzerkratzen Schallplatte, deren Nadel hĂ€ngen geblieben istâ (zit. nach Laub 2000, 868). Der traumatisierte Mensch spielt in seinen TrĂ€umen die AblĂ€ufe aus dem Trauma ab, wenn auch die das Trauma auslösenden Ereignisse selbst nur bruchstĂŒckhaft und in verdichteter und verschobener Form erscheinen (ebd.). Irene reinszeniert in ihrem Traum ein Trauma, das sseinen Ursprung in den destruktiven Machtmechanismen eines totalitĂ€ren Regimes hat. Sie wird mit der absoluten Ăbermacht des Diktators konfrontiert, die sich auf ihren intimsten Raum erstreckt und sie in ihren körperlichen Grenzen bedroht. Die Kleidung dient dem Menschen als Ausdruck seiner SubjektivitĂ€t und bedeckt ihn als SchutzhĂŒlle. Der Vergleich mit den ĂŒber den Boden verstreuten LaubblĂ€ttern suggeriert Irenes Nacktheit vor dem Diktator. Auch wenn der Text nicht explizit von dieser Nacktheit spricht, referiert das Motiv der LaubblĂ€tter doch offensichtlich auf die im Herbst entblĂ€tterten kahlen BĂ€ume.
In einem ihrer Essays verweist Herta MĂŒller auf die im Deutschen - anders als im RumĂ€nischen - existierende Doppelbedeutung des Wortes 'Blatt', das sowohl das Laub der BĂ€ume als auch PapierblĂ€tter bezeichnen kann. Der Vergleich mit den LaubblĂ€ttern lieĂe sich so mit dem Schreibprozess verbinden. Das Motiv des Zertretens der Kleider âals wĂ€ren es LaubblĂ€tterâ (RB 19) impliziert also auch die Vernichtung von Irenes IdentitĂ€t als KĂŒnstlerin.
Irenes Traum vom Sachbearbeiter
Beschreibung
Irene trĂ€umt zwei Traumsequenzen in derselben Nacht, was der Satz âEs war ein anderer Traum in der gleichen Nachtâ (RB 104) zwischen den beiden Traumteilen dezidiert markiert. In der ersten Traumsequenz sitzt Irene im Warteraum des Ăbergangslagers (TB 102). Diese Szenerie wird von einer Befragung Irenes durch einen deutschen Sachbearbeiter abgelöst, wobei der Trialog zwischen dem Sachbearbeiter, seiner SekretĂ€rin und Irene die Sequenz dominiert (RB 102 f.). Der Sachbearbeiter identifiziert einen Lastwagenfahrer, den er zufĂ€llig aus dem Fenster erblickt, als Polen und unterstellt ihm Charakteristika wie: âkeine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitsgenehmigung. Nichtsâ (RB 103). Als Irene ihn auf eine mögliche Verwechslung hinweist, entgegnet der Sachbearbeiter âZum Verwechseln braucht es zwei [âŠ] Sie können sicher sein, ich werde in Rente gehen, und ich werde sie alle noch kennen. Verwechseln mit wem?â (ebd.). Irene versucht, ihm mit der Umkehrung seiner Ressentiments zu begegnen, und merkt an, der Sachbearbeiter hĂ€tte ihn auch mit einem Deutschen verwechseln können. Dieser antwortet: âIch bitte Sie, Sie haben doch dieses Gesicht gesehen. Politisch verfolgt. Ja, wissen Sie, wenn jemand die Regierung stĂŒrzen will, wo kĂ€men wir da hinâ (ebd.). Der Traum endet mit dem BlĂ€ttern der SekretĂ€rin in Irenes Akte und dem Widerspruch zwischen ihrer Replik âDaĂ ich nicht lacheâ (ebd.) und ihrer Mimik âSie lachte nichtâ (ebd.). Die Sequenz erweist sich erst im letzten Satz als Traum: âIrene erwachte verschwitzt, als wĂ€re sie aus diesem Traum hinausgeranntâ (ebd.).
Im zweiten Traum wechseln sich das Traumgeschehen sowie die Reflexion im Traum und ĂŒber das GetrĂ€umte ab. Irene trifft den Sachbearbeiter in der U-Bahn, der sie verfolgt und observiert. Er wendet sich an Irene mit einer Frage auf Deutsch, auf die sie jedoch nur auf RumĂ€nisch entgegnen kann (RB 104). Der Sachbearbeiter fasst sie am Ellbogen und kommentiert diese körperliche GrenzĂŒberschreitung mit dem Satz: âDeutsch sprechen Sie nur, wenn Sie zu mir ins BĂŒro kommenâ (ebd.). Auf diese Replik hin verstummt Irene: âIrene hatte das Deutsche vergessenâ (ebd.). Nur noch ein einziger deutscher Satz fĂ€llt ihr ein, den in Irenes Wachleben Thomas zur ihr gesagt hatte: âWeshalb vergleichst Du immer, es ist doch nicht Deine Mutterspracheâ (ebd.). Es folgt eine paradoxe Reflexion Irenes: âEs wĂ€re ein langer Satz gewesen. Er hĂ€tte bewiesen, daĂ Irene Deutsch sprach. Doch er hĂ€tte mehr geschadet, als genĂŒtzt. Das wusste Irene sogar im Traumâ (ebd.).
Analyse und Interpretation
Die erste Traumsequenz erweist sich, wie bereits erwĂ€hnt, erst im letzten Satz als Traum: âIrene erwachte verschwitzt, als wĂ€re sie aus diesem Traum hinausgeranntâ (RB 103). Irene nimmt sich in der ohnmĂ€chtigen Position gegenĂŒber dem Sachbearbeiter und seiner SekretĂ€rin wahr. Verglichen mit dem Traum verlĂ€uft die Begegnung mit dem Sachbearbeiter im Irenes Wachleben wesentlich subtiler, auch wenn seine auf den ersten Blick geĂ€uĂerte Empathie âHaben Sie Heimwehâ (RB 55) floskelhaft klingt und sich als ein latenter Vorwurf entpuppt: âSie sind so empfindlich [âŠ]. Man könnte meinen, daĂ unser Land alles aufwiegen soll, was ihr Land verbrochen hatâ (ebd.). Irene re-inszeniert in den beiden Traumsequenzen die Erfahrungen von Observation und Verhören, die sich ihr in verschobener Form zeigen. Spielt in der ersten Traumsequenz noch Irenes Dialog mit dem Sachbearbeiter als Tagesrest hinein, nimmt das Traumgeschehen in der zweiten Traumsequenz eine gĂ€nzlich andere, von Irenes Wachleben distinkte QualitĂ€t an, wenn der Sachbearbeiter Irene observiert.
In ihrem Essay Der Fremde Blick reflektiert die Autorin ĂŒber die Projektion von totalitĂ€ren Erfahrungen auf anders strukturierte Situationen. Ihre Reflexionen korrelieren dabei mit den psychologischen ErklĂ€rungsmodellen des Traumas wie Triggermechanismus oder Re-inszenierung. Die Autorin spricht von âder gewohnten Angstâ (MĂŒller 2010, 142) und âfremdem Blickâ: âDer fremde Blick bĂŒgelt fremde Gesichter und Gesten und konstatiert schnell, wie er es jahrelang geĂŒbt hat: Kaum geschaut ist die Deutung eingebaut. Er [âŠ] zieht falsche, oft drastische SchlĂŒsse, die nicht korrigiert werdenâ (ebd.). Dieser fremde Blick bestimmt auch Irenes Trauminhalte. Irenes Unterbewusstsein projiziert die Bedingungen der totalen Ăberwachung des âanderen Landesâ auf ihre Begegnung mit dem Sachbearbeiter, wobei die Verhörsituation und die amtliche Stellung den einzigen genuinen Rahmen fĂŒr beide Erfahrungshorizonte bilden.
Herta MĂŒller betont den Inszenierungscharakter der Verhöre (MĂŒller 2013, 42). Um die totale Macht und Kontrolle ĂŒber die Verhörsituation zu gewĂ€hrleisten, versucht der Verhörende den Zufall auszublenden, wĂ€hrend dem Verhörten eine fremdbestimmte Rolle zugewiesen wird, die ihn einer vom Befrager fĂŒr ihn vorgegebenen schaurigen Regie gĂ€nzlich unterwirft. Die Fragen, mit denen der Befragte konfrontiert wird, die Marter und Drohgesten werden bis ins Detail kalkuliert und geplant. Die Vorhersehbarkeit, die aus der Vermeidung alles ZufĂ€lligen und Unberechenbaren entsteht, rĂ€umt dem Verhörenden eine absolute Kontrollposition ĂŒber den Verlauf des Verhörs ein. Bei dem Verhörten schlĂ€gt sie dagegen in eine von den Intentionen des Verhörenden gĂ€nzlich abhĂ€ngige und ohnmĂ€chtige Stellung um. Dieser Verlust von Kontrolle geht bis in die Körpergrenzen hinein und bedingt eine traumatische, entgrenzte oder mit Worten Herta MĂŒllers 'vom Zufall geschaukelte Wahrnehmungâ (MĂŒller 1991, 19) auf Seiten des Verhörten. Gerade weil seine Wahrnehmung gĂ€nzlich vom Willen des Verhörenden abhĂ€ngt, entgleitet sie ihm. Auch die Gesten und Worte des Sachbearbeiters sowie der SekretĂ€rin, die als seine Komplizin auftritt, selbst die Anordnung der GegenstĂ€nde auf dem Tisch, erscheinen im Traum kalkuliert und demonstrieren eine Machtposition: âDer Sachbearbeiter trank im Stehenâ (RB 103); âErst als er wieder saĂ, stellte er die Kaffeetasse auf den Schreibtisch (ebd.). Der Satz âSie [die SekretĂ€rin] behielt die TĂŒrklinke in der Handâ (ebd., 102) verweist auf seinen semantischen Kern âdie VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber etwas besitzenâ. Das Motiv des Tretens taucht auch hier auf, als der Sachbearbeiter ĂŒber Irenes Schuhe tritt: âEr [der Sachbearbeiter] machte einen Schritt ĂŒber Irenes Schuhe. Irene schob die Schuhe unter den Stuhlâ (ebd., 103). Der Text spricht von Schuhen und nicht von FĂŒĂen, die GegenstĂ€nde ersetzen die Körperteile. Eine derartige VergegenstĂ€ndlichung des Subjekts ist ebenfalls charakteristisch fĂŒr das Trauma (LĂŠgreid 2013, 79).
Die Observation durch den Sachbearbeiter hat bei Irene den Verlust der rumĂ€nischen Sprache zur Folge. Auch Thomasâ Satz aus Irenes Wachleben bezieht sich auf das RumĂ€nische, das er ihr gegenĂŒber insofern abwertet als er Irene die Vergleichbarkeit des Deutschen mit dem RumĂ€nischen abspricht und es damit begrĂŒndet, RumĂ€nisch sei nicht ihre Muttersprache (RB 104). Irenes doppelte IdentitĂ€t und ihre Zweisprachigkeit erweisen sich fĂŒr sie als eine doppelte Erfahrung von Fremdheit und bergen in sich eine potentielle GefĂ€hrdung durch die Verwendung einer falschen Sprache, ihre Fremdheit zu offenbaren. Selbst in ihrem Traum formiert sich in Irene ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und -kontrolle, der in der Angst vor der totalen Ăberwachung seinen Urgrund hat.
Thomas' Lakritztraum
Beschreibung
Der Traum des homosexuellen Protagonisten Thomas schlieĂt sich unmittelbar an Irenes Traum an und zwar als eine Erinnerung Irenes an einen Dialog mit Thomas, in dem dieser ihr seinen Traum erzĂ€hlt hatte. Der oben zitierte Satz von Thomas, den Irene am Schluss ihres Traumes trĂ€umt, und der unmittelbar darauf anschlieĂende Satz âTrĂ€ume haben ihre GrĂŒnde, hatte Thomas gesagt, als er seinen Lakritztraum erzĂ€hlteâ (RB 104) bilden den Ăbergang zu seinem Traum. Der Traum wird aus seiner Ich-Perspektive geschildert. Thomas trĂ€umt von einem Dorf âmit einstöckigen, verstreuten HĂ€usernâ (ebd.), die ihm âmehr zerrissen als bewohntâ (ebd.) erscheinen. Diese Szenerie wird von einem Kindergeburtstag abgelöst, auf dem nur Frauen anwesend sind, selbst sein Sohn erscheint Thomas als MĂ€dchen. Als einzige Speise auf dem Geburtstag dominieren die Lakritzschnecken den ganzen Raum. Die MĂ€dchen und die Frauen essen die Lakritzschnecken, rollen sie aus, verknoten sie und spielen mit den zu Schienen aufgerollten Lakritzschnecken Eisenbahn (RB 104 f.). Der Traum endet mit der emotionalen Abwehr des eigenen Traumes: âSo einen Traum wĂŒnsch ich niemandem, sagte Thomas, nicht einmal einem Feindâ (RB 105).
Analyse und Interpretation
In dieser Traumsequenz dominiert die erwachsene ĂŒber die kindliche Welt, gleichzeitig zeichnet sich der Traum durch die OmniprĂ€senz des Weiblichen aus: âEs waren mehr Erwachsene als Kinder da. Alle Erwachsene waren Frauen. Und alle Kinder waren MĂ€dchenâ (RB 104). Selbst Thomasâ eigener Sohn erscheint ihm als MĂ€dchen. Die weiblichen Traumfiguren ĂŒben VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber die Lakritzschnecken aus, die als einzige Speise auf diesem Kindergeburtstag nicht nur den kompletten Raum besetzen, sondern ausschlieĂlich von weiblichen Figuren gegessen und verformt werden oder ihnen als Spielzeug dienen: âAuf dem Tisch, auf den StĂŒhlen, unter dem Tisch, unter den StĂŒhlen, lag alles voll mit Lakritzschnecken, die Frauen und MĂ€dchen rollten die Lakritzschnecken aus, machten einen Knoten hinein und aĂen sie. Die MĂ€dchen spielten mit aufgerollten Lakritzschnecken Eisenbahnâ (RB 105).
WĂ€hrend Irenes TrĂ€ume aus der heterodiegetischen Perspektive mit interner Fokalisierung geschildert werden, erzĂ€hlt Thomas seinen Traum fĂŒr die Dauer seines Traumberichts aus der homodiegetischen ErzĂ€hlperspektive. Die Mediatisierung der weiblichen Perspektive illustriert einerseits Irenes traumatische Entfremdung aus ihrem Ich, andererseits korrespondiert sie mit Thomasâ Dominanz, die sich in der misogynen VerdrĂ€ngung und Verachtung des Weiblichen Ă€uĂert und die in der Beziehung zu Irene ebenfalls sichtbar wird.
Thomasâ Traum kann unter dem Blickwinkel seiner HomosexualitĂ€t interpretiert werden. Er geht keine Beziehungen mit MĂ€nnern ein. Wegen seiner Bindungsphobie und der Furcht vor der Aufdeckung kann er seine homoerotische Neigung nur auf dem Strich ausleben. Zwei InterpretationsansĂ€tze bieten sich an: Im Traum manifestiert sich seine Angst und Ekel vor der weiblichen Vereinnahmung sowie dem Verlust seiner sowohl mĂ€nnlichen als auch homosexuellen IdentitĂ€t. Die aufgerollten Lakritzschnecken, verknĂŒpft mit dem Eisenbahnspiel lieĂen sich im Sinne einer freudianischen Umkehrung interpretieren. Das Zugmotiv stellt ein klassisches Phallussymbol dar wie beispielsweise am Ende von Alfred Hitchcocks Film Der unsichtbare Dritte (North by Northwest; USA 1959). Im Traum formen die MĂ€dchen aus den Lakritzschnecken - aus einer klebrigen, sĂŒĂ-bitteren, schneckenförmigen Masse, die sich eine Vagina assoziieren lĂ€sst - die Eisenbahnschienen. In dieser Metamorphose vom weiblichen zum mĂ€nnlichen Genital tritt einerseits ein Transgenderaspekt zu Tage - auch Thomas Sohn wechselt sein Geschlecht - andererseits reprĂ€sentieren die ausschlieĂlich weiblichen Protagonistinnen die OmniprĂ€senz und Dominanz des Weiblichen. Thomas erlebt den Geschlechterwechsel nicht als ein lustvolles Spiel, er gerinnt fĂŒr ihn zum Alptraum, in dem das Weibliche aus der VerdrĂ€ngung auftaucht und die weibliche Lust seine mĂ€nnliche und homosexuelle IdentitĂ€t gleich in doppelter Weise bedroht: zum einen durch die völlige Absenz mĂ€nnlicher Subjekte, zum anderen weil das MĂ€nnliche auf die Genitalien reduziert und objektiviert wird und lediglich als verformbares Sexualobjekt fĂŒr den weiblichen Blick fungiert. Thomas' Traum lieĂe sich aber, entgegen seiner eigener emotionalen Abwehr, auch als ein Wunschtraum interpretieren. Trotz des artikulierten Ekels gegenĂŒber Irene (âjetzt wirst Du welken, zuerst dein Magen, dann dein Hals, dann dein Gesichtâ, RB 110) geht Thomas eine sexuelle Beziehung mit ihr ein: âIch musste Dich doch rasch noch lieben, bevor du welkstâ (RB 111). Thomas stöĂt ab, was er begehrt. Dieser VerdrĂ€ngung und Absenz des Weiblichen in Thomasâ Wachleben steht die OmniprĂ€senz des Weiblichen in seinem Traum gegenĂŒber.
Irenes Metamorphosentraum
Beschreibung
Ihren letzten Traum trĂ€umt Irene im vorletzten Kapitel. Sie sitzt in einem Fischrestaurant zusammen mit den drei mĂ€nnlichen Nebenfiguren Steffen, Thomas und Franz sowie einem Bauarbeiter, den sie in ihrem Wachleben als Beobachtungsobjekt ausgesucht hatte. Als Irene sich an den Tisch setzt, sieht sie eine andere Frau, die eine getreue Kopie von ihr darstellt und âdie andere Ireneâ genannt wird. Die Personen am Tisch reden miteinander, wobei ihre Interaktion von der Metamorphose einer Figur in die andere und einem Verwechslungsspiel zwischen Irene und âder anderen Ireneâ begleitet wird: âIrene schaute Thomas an. Dann Franz. Einer hatte das Gesicht des anderen angenommenâ (RB 165), âThomas oder Franz begleitete Irene nach Hauseâ (ebd.), âAuch nach dem langen Zungenkuss wusste Irene nicht, ob Franz oder Thomas sie kĂŒssteâ (ebd.), âDer Arbeiter sah Irene an. Dann die andere Irene: Wer von euch beiden ist denn die Attrappe?â (ebd.). Zwischen Irene und allen mĂ€nnlichen Figuren entsteht eine von heiterer Lust begleitete körperliche NĂ€he. Der Traum endet mit der Forderung Irenes an Franz und Thomas: âIhr sollt mich beide nicht verlassenâ (ebd.), wobei âeiner von den beidenâ (RB 166) darauf erwidert: âDich nicht. Wenn es sein muĂ, dann die andere Ireneâ (ebd.).
Analyse und Interpretation
Verglichen mit den anderen TrĂ€umen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und lieĂe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und IntertextualitĂ€t interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet âIn dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kanntenâ (RB 163) auf ein nĂ€chtliches Geschehen hin.
Die Passage referiert auf Italo Calvinos (1953-1985) Roman Die unsichtbaren StĂ€dte (Le cittĂ invisibili, 1972), in dem eine Stadt den Namen 'Irene' trĂ€gt. Bei Calvino ist dies der einzige Ort, der fĂŒr Kublai Khan unerreichbar bleibt und gleichzeitig ĂŒber keine konstanten Eigenschaften verfĂŒgt, sondern sich stetig wandelt: âIrene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich Ă€ndert, wenn man ihr nĂ€her kommtâ (Calvino 2007, 134). Diese UnschĂ€rfe der Stadt Ă€uĂert sich im âRosa der HĂ€user [âŠ], das sich verdĂŒnntâ und in den diversen Deutungen der GerĂ€usche, die von der Stadt ausgehen: âDie Hinunterblickenden ergehen sich in MutmaĂungen ĂŒber das, was in der Stadt vorgehen magâ (Calvino 2007, 133), âManchmal trĂ€gt der Wind Musik von Pauken und Trompetenâ (ebd.), âmanchmal das Rattern von Maschinengewehrenâ (ebd.). Auch Herta MĂŒller greift diese flĂŒssige, sich stets wandelnde Form auf: âKaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenziehtâ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als ProjektionsflĂ€che demaskiert, sie bietet eine Leerstelle fĂŒr mĂ€nnliche Imagination und erscheint austauschbar: âvielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochenâ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns TrĂ€umen reprĂ€sentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der StĂ€dte den weiblichen Körper.
Ăhnlich wie Calvino verknĂŒpft Herta MĂŒller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text aber als Fiktion entlarvt: âIch weiĂ, es ist nur Einbildung, nur Schwindel [âŠ]. Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daranâ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden TrĂ€ume bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von MĂ€nnern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend sind die narrativ-reflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des ĂŒbrigen Textes kontrastiert: âWer von euch beiden ist denn die Attrappeâ (RB 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: âZwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene kĂŒĂte eine blĂ€uliche Farbeâ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Die Farbe âblĂ€ulichâ reprĂ€sentiert im GesamtgefĂŒge des Traumes die Treue. Irene reagiert auf das mĂ€nnliche Treueverlangen âDu sollst Augen haben nur fĂŒr michâ (RB 165) mit Verdruss: âDas macht mĂŒdeâ (ebd.). WĂ€hrend Calvino den weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik projiziert und damit vergegenstĂ€ndlicht, erlangt das Weibliche bei Herta MĂŒller Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Irenes letzter Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn sich diese Demaskierung der mĂ€nnlich konstruierten Weiblichkeit nur im imaginierten Raum des Traumes ereignet und daher eine weibliche Wunschprojektion bleibt.
Einordnung
Die ganze ErzĂ€hlung Reisende auf einem Bein weist eine Traumlogik auf, die aus der traumatischen Wahrnehmung Irenes resultiert und in der sich die Grenzen zwischen Irenes halluzinatorischem Blick und der RealitĂ€t verflĂŒssigen. Dennoch greift der Text auf die deutlich markierten nĂ€chtlichen TrĂ€ume zurĂŒck. WĂ€hrend die ersten beiden TrĂ€ume fĂŒr Irene zu AlptrĂ€umen gerinnen, in denen sie das Trauma und die sie stĂ€ndig begleitende Angst vor der totalitĂ€ren Kontrolle reinszeniert, bietet der letzte Traum ein erlösendes Potenzial, das aus der FĂ€higkeit zur Imagination resultiert. Die Metamorphosen der mĂ€nnlichen Protagonisten und die Doppelung der Irenefigur werden zu einem Spiel mit Masken und verschiedenen IdentitĂ€ten (zur Selbstverdoppelung im Traum vgl. Solte-Gresser 2011, 255f.).
Literatur
Ausgabe der ErzÀhlung
- MĂŒller, Herta: Reisende auf einem Bein. Berlin: Rotbuch-Verlag 1989; hier zitiert als RB nach der Ausgabe: Frankfurt/M.: Fischer 2013.
Bezugstexte
- Calvino, Italo: Die unsichtbaren StĂ€dte. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. MĂŒnchen: Hanser 2007.
- MĂŒller, Herta: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin: Rotbuch-Verlag 1991.
- MĂŒller, Herta: Hunger und Seide. Essays. Reinbek: Rowohlt 1995.
- MĂŒller, Herta: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt/M.: Fischer 2010.
- MĂŒller, Herta: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. Frankfurt/M.: Fischer 2013.
Forschungsliteratur
- Eke, Norbert Otto: Biografische Skizze. In: Norbert Otto Eke (Hg.): Herta MĂŒller Handbuch. Stuttgart: Metzler 2017, 2-12.
- Fischer, Gottfried: Psychoanalyse und Psychotraumatologie. In: Wolfram Mauser/Carl Pietzker (Hg.): Trauma. Freiburger literaturpsychologische GesprĂ€che; Jahrbuch fĂŒr Literatur und Psychoanalyse 19 (2000), 11-26.
- Kegelmann, RenĂ©: Ăber einige BezĂŒge zwischen Erinnerung und Traum in den Prosatexten von Ingeborg Bachmann und Herta MĂŒller. In: Walter Schmitz/JĂŒrgen Joachimsthaler (Hg.), Zwischeneuropa/ Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Dresden: Thelem 2007, 301-308.
- LĂŠgreid,Sissel: Sprachaugen und Wortdinge - Herta MĂŒllers Poetik der Entgrenzung. In: Helgard Mahrdt/S. L. (Hg.): Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta MĂŒller. WĂŒrzburg:Königshausen & Neumann 2013, S. 55-79.
- Laub, Dori: Eros oder Thantalos? Der Kampf um die ErzĂ€hlbarkeit des Traumas. In: Psyche. Zeitschrift fĂŒr Psychoanalyse und ihre Anwendungen 9/10 (2000), 860-894.
- McGowan, Moray: âReisende auf einem Beinâ. In: Norbert Otto Eke (Hg.): Herta MĂŒller Handbuch. Stuttgart: Metzler 2017, 25-30.
- Schau, Astrid: Das Land am Nebentisch. AnsĂ€tze zu einer Poetik der Entgrenzung. In: Ralph Köhnen (Hg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta MĂŒllers. Frankfurt/M. 1997, 63-77.
- Solte-Gresser, Christiane: "Alptraum mit Aufschub". AnsĂ€tze zur Analyse literarischer TraumerzĂ€hlungen. In: Susanne Goumegou/Marie GuthmĂŒller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, 239-262.
- Varvin, Sverre: Die gegenwĂ€rtige Vergangenheit. Extreme Traumatisierung und Psychotherapie. In: Psyche. Zeitschrift fĂŒr Psychoanalyse und ihre Anwendungen 9/10 (2000), 893-930.
Weblinks
- Internetseite der Autorin http://www.hertamueller.de/ (9.11.2020).
- Nobelpreiskomitee, zit. nach https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2009/muller/facts/ (9.11.2020).
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: Denner, Natascha: "Reisende auf einem Bein" (Herta MĂŒller). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2020; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Reisende_auf_einem_Bein%22_(Herta_M%C3%BCller). |