"Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin): Unterschied zwischen den Versionen

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==Walter Benjamin als Träumer==
 
==Walter Benjamin als Träumer==
Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kunst-, Literatur- und Kulturkritiker sowie Publizist, dessen Werk, das auch aufgrund seines konstruktiv-fragmentarischen Charakters (Schöttker 1999, 9) und der anschaulichen sowie bildhaften Darstellungen seiner Gedanken häufig als so eigenwillig wie brillant betrachtet wird (Friedlander 2012, 7ff. und 48ff.), sowohl im wissenschaftlichen als auch im kulturellen Bereich bis heute einen weitreichenden Einfluss ausübt. Benjamin hat neben seinen eigenen Beiträgen, z.B. zur Geschichtsphilosophie, zur Kunst- und Literaturkritik etc., auch Werke von Balzac, Baudelaire und Proust aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Er zählte zum erweiterten Mitgliederkreis der sogenannten Frankfurter Schule, u.a. aufgrund seiner Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung, seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, seines erheblichen Einflusses auf die Kritische Theorie und deren Entwicklung sowie aufgrund seiner Freundschaft und des intensiven Austauschs mit Theodor W. Adorno, der gemeinsam mit Benjamins langjährigem Freund Gershom Scholem nach dem zweiten Weltkrieg Benjamins Werke veröffentlicht hat. Außerdem waren der inhaltliche Austausch und die freundschaftliche Beziehung zu Bertold Brecht von erheblicher Bedeutung für Benjamins Schaffen.
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Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kunst-, Literatur- und Kulturkritiker sowie Publizist, dessen Werk, das auch aufgrund seines konstruktiv-fragmentarischen Charakters (Schöttker 1999, 9) und der anschaulichen sowie bildhaften Darstellungen seiner Gedanken häufig als so eigenwillig wie brillant betrachtet wird (Friedlander 2012, 7 ff. und 48 ff.), sowohl im wissenschaftlichen als auch im kulturellen Bereich bis heute einen weitreichenden Einfluss ausübt. Benjamin hat neben seinen eigenen Beiträgen, z.B. zur Geschichtsphilosophie, zur Kunst- und Literaturkritik etc., auch Werke von Honoré de Balzac (1799-1850), Charles Baudelaire (1821-1867) und Marcel Proust (1871-1925) aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Er zählte zum erweiterten Mitgliederkreis der sogenannten Frankfurter Schule, u.a. aufgrund seiner Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung, seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, seines erheblichen Einflusses auf die Kritische Theorie und deren Entwicklung sowie aufgrund seiner Freundschaft und des intensiven Austauschs mit Theodor W. Adorno (1903-1969), der gemeinsam mit Benjamins langjährigem Freund Gershom Scholem (1897-1982) nach dem zweiten Weltkrieg Benjamins Werke veröffentlicht hat. Außerdem waren der inhaltliche Austausch und die freundschaftliche Beziehung zu Bertolt Brecht (1898-1956) von erheblicher Bedeutung für Benjamins Schaffen.
  
Obwohl Benjamin in dem 1925 verfassten Text „Traumkitsch. Glosse zum Surrealismus“ folgendes feststellte:
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Obwohl Benjamin in dem 1925 verfassten Text ''Traumkitsch. Glosse zum Surrealismus'' Folgendes feststellte:
 
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: <span style="color: #7b879e;>"„Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale“ (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),</span>
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: <span style="color: #7b879e;>Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),</span>
 
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so träumte er doch selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno) Adornos Traumprotokollen]).
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träumte er selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumprotokolle%22_(Theodor_W._Adorno) Adornos Traumprotokollen]).
  
Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text „Frühstücksstube“ in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
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Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text ''Frühstücksstube'' in der Sammlung ''Einbahnstraße'' beschrieben :
  
 
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: <span style="color: #7b879e;>„Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tiefen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gegenwärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf“ (T 77 f.; auch in GS IV, 85-86, eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Lindner, T 138-141).</span>
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: <span style="color: #7b879e;>Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tiefen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gegenwärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf (T 77 f.; auch in GS IV, 85 f., eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Lindner, T 138-141).</span>
 
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Gemäß dieser Position hat Benjamin seine persönlichen Traumbilder und Traumsituationen beschrieben. Im Vergleich zu Adorno, dessen umfassende Sammlung von Traumprotokollen „aufgrund der bewussten Auswahl als eine eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse angesehen werden kann“ (Müller-Doohm 2019, 19), erfüllen Benjamins Traumaufzeichnungen weniger den Zweck des persönlichen sich Darstellens, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt und Materialsammlung zur Entfaltung seines grundlegenden traumtheoretischen Denkens (Bretas 2009, 1).
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Gemäß dieser Position hat Benjamin seine persönlichen Traumbilder und Traumsituationen beschrieben. Im Vergleich zu Adorno, dessen umfassende Sammlung von Traumprotokollen „aufgrund der bewussten Auswahl als eine eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse angesehen werden kann“ (Müller-Doohm 2019, 19), erfüllen Benjamins Traumaufzeichnungen weniger den Zweck des persönlichen Sich-Darstellens, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt und Materialsammlung zur Entfaltung seines grundlegenden traumtheoretischen Denkens (Bretas 2009, 1).
 
 
  
 
==Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen Benjamins==
 
==Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen Benjamins==

Version vom 15. März 2022, 22:20 Uhr

Die Traumaufzeichnungen von Walter Benjamin (1892-1940) sind eine von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von mehr als dreißig verschiedenen ausgewählten Traumnotaten bzw. -berichten Benjamins mit Träumen aus den Jahren 1928 bis 1939. Die Sammlung stellt den ersten Teil des bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Walter Benjamin: Träume“ dar (T 9-66) und „enthält in erreichbarer Vollständigkeit und zeitlicher Folge Benjamins Niederschriften eigener Träume“ (Lindner, T 136). Sie ermöglicht einen Einblick in Walter Benjamins Träume, die ein breit gestreutes inhaltliches Spektrum aufweisen (Lindner, T 145) und häufig auch auf Biographisches verweisen, ohne dabei aber ein „verborgenes Psychogramm“ oder bisher Unbekanntes „über seine Beziehungen zu ihm nahestehenden Personen“ preiszugeben (Lindner, T 144). Zugleich dienen die Traumaufzeichnungen Benjamin als konstruktive Ressource zur bildhaften Entfaltung seines traumtheoretischen Denkens und seiner traumbezogenen Reflexionen (Bretas 2009, 1).


Walter Benjamin als Träumer

Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kunst-, Literatur- und Kulturkritiker sowie Publizist, dessen Werk, das auch aufgrund seines konstruktiv-fragmentarischen Charakters (Schöttker 1999, 9) und der anschaulichen sowie bildhaften Darstellungen seiner Gedanken häufig als so eigenwillig wie brillant betrachtet wird (Friedlander 2012, 7 ff. und 48 ff.), sowohl im wissenschaftlichen als auch im kulturellen Bereich bis heute einen weitreichenden Einfluss ausübt. Benjamin hat neben seinen eigenen Beiträgen, z.B. zur Geschichtsphilosophie, zur Kunst- und Literaturkritik etc., auch Werke von Honoré de Balzac (1799-1850), Charles Baudelaire (1821-1867) und Marcel Proust (1871-1925) aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Er zählte zum erweiterten Mitgliederkreis der sogenannten Frankfurter Schule, u.a. aufgrund seiner Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung, seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung, seines erheblichen Einflusses auf die Kritische Theorie und deren Entwicklung sowie aufgrund seiner Freundschaft und des intensiven Austauschs mit Theodor W. Adorno (1903-1969), der gemeinsam mit Benjamins langjährigem Freund Gershom Scholem (1897-1982) nach dem zweiten Weltkrieg Benjamins Werke veröffentlicht hat. Außerdem waren der inhaltliche Austausch und die freundschaftliche Beziehung zu Bertolt Brecht (1898-1956) von erheblicher Bedeutung für Benjamins Schaffen.

Obwohl Benjamin in dem 1925 verfassten Text Traumkitsch. Glosse zum Surrealismus Folgendes feststellte:

Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben. […] Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale (T 72-75, das Zitat 72 f.; GS II, 620-622, zusätzliche Anmerkungen auch in GS II, 1425-1428),

träumte er selbst „intensiv“ und „leidenschaftlich“ (Chamat 2017, 69), dokumentierte und publizierte allerdings nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Träumen. Benjamin entwickelte aus seinen Traumaufzeichnungen verschiedene für sein Werk grundlegende traumbezogene theoretische Überlegungen und Reflexionen und publizierte diese als einen Teil seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist (Lindner, T 135-137). Benjamins Art und Weise des Notierens von Trauminhalten unterscheidet sich fundamental von derjenigen, deren Grundprämisse es ist, dass Trauminhalte höchst flüchtig und deshalb direkt nach dem Aufwachen zu notieren seien, und der z. B. sein Kollege und Freund Theodor W. Adorno gefolgt ist („Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten Mängel korrigiert“ (Adorno 2018, 88, Lindner, T 137; siehe dazu auch den Lexikonartikel zu Adornos Traumprotokollen).

Seine eigene Position zur Art und Weise des Notierens von Trauminhalten, bei der „der Zeitpunkt des Aufschreibens und der Zeitpunkt des Traums“ häufig recht weit auseinanderliegen (Lindner, T 137) und bei der das Traumerlebnis erst „aus überlegener Erinnerung“ sowie nicht mehr „im Bannkreis des Traumes“ bzw. aus der „graue[n] Traumdämmerung“ heraus erzählt bzw. aufgeschrieben werden sollte, hat Benjamin anschaulich im Text Frühstücksstube in der Sammlung Einbahnstraße beschrieben :

Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht hinein, wogegen in den tiefen Schichten auch während der morgendlichen Reinigung die graue Traumdämmerung verharrt, ja in der Einsamkeit der ersten wachen Stunde sich festsetzt. Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. In dieser Verfassung ist der Bericht über Träume verhängnisvoll, weil der Mensch, zur Hälfte der Traumwelt noch verschworen, in seinen Worten sie verrät und ihre Rache gegenwärtigen muß. Neuzeitlicher gesprochen: er verrät sich selbst. Dem Schutz der träumenden Naivität ist er entwachsen und gibt, indem er seine Traumgesichte ohne Überlegenheit berührt, sich preis. Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht vom Traum, als spräche er aus dem Schlaf (T 77 f.; auch in GS IV, 85 f., eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Lindner, T 138-141).

Gemäß dieser Position hat Benjamin seine persönlichen Traumbilder und Traumsituationen beschrieben. Im Vergleich zu Adorno, dessen umfassende Sammlung von Traumprotokollen „aufgrund der bewussten Auswahl als eine eigenwillige Form authentischer Selbstdarstellung intimer Innenerlebnisse angesehen werden kann“ (Müller-Doohm 2019, 19), erfüllen Benjamins Traumaufzeichnungen weniger den Zweck des persönlichen Sich-Darstellens, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt und Materialsammlung zur Entfaltung seines grundlegenden traumtheoretischen Denkens (Bretas 2009, 1).

Zur Sammlung der Traumaufzeichnungen Benjamins

Benjamin publizierte manche seiner Traumaufzeichnungen separat oder als Teile einzelner Werke. Außerdem ist bekannt, dass er die eigenständige Publikation einer Sammlung von Traumaufzeichnungen anstrebte, die allerdings nicht zustande kam (Lindner, T 137 f.). Die von Burkhardt Lindner zusammengestellte Sammlung von Benjamins Traumaufzeichnungen (Lindner, T 136) wurde nicht als textkritische Edition konzipiert (Lindner, T 128). Grundlagen der ausgewählten Texte, bei denen sich zu Lebzeiten publizierte und nachgelassene Beiträge mischen, sind insbesondere die bei Suhrkamp herausgegebenen Gesammelten Schriften Benjamins (GS), die ebenfalls bei Suhrkamp erschienene sechsbändige Ausgabe der Briefe Benjamins, andere Quellen wie Ignaz Ježowers Buch der Träume sowie bisher nicht publizierte Manuskripte, die im Walter Benjamin Archiv (WBA) in Berlin aufbewahrt werden. In der Sammlung wurden zu einigen Traumaufzeichnungen (z.B. „Ein Gespenst“ oder „Der Mond“) verschiedene publikationswürdige Versionen, z.B. auch eine Entwurfsfassung (von „Der Mond“), aufgenommen (Lindner, T 129 f.). Diese unterschiedlichen Fassungen, z.B. die alternativen Enden der Traumaufzeichnung „Ein Gespenst“, lassen unterschiedliche Deutungen zu und können so die traumbezogene Benjamin-Forschung erheblich bereichern (siehe Abschnitt 4).


Benjamins Traumaufzeichnungen im Band „Träume“

Folgende Übersicht präsentiert sämtliche Traumaufzeichnungen Benjamins in der von Burkhart Lindner zusammengestellten Ausgabe (T 9-66) und umfasst 35 Einträge. Die Nachweise in der folgenden Liste wurden ggf. an die aktuelle Ausgabe der Gesammelten Schriften (GS), sowie die aktuelle Ausgabe der anderen referenzierten Quellen angepasst, weichen aber nur geringfügig von den Verweisen Lindners ab. Zuweilen wurden auch zusätzliche Referenzen ergänzt, wenn eine Traumaufzeichnung in weiteren, bisher noch nicht zitierten Werken auffindbar ist.


Nr. Werk Titel der Aufzeichnung Beginn der Traumaufzeichnung Nachweis im Ursprungswerk Nachweis in 'Träume'
1 Ježower, Ignaz: 'Das Buch der Träume' (1928) - „Im Traum – es sind nun schon drei bis vier Tage, daß ich ihn träumte, und er verläßt mich nicht – hatte ich eine Landstraße im dunkelsten Dämmerlicht vor mir. […] Ježower 1985, 268 f. T 9
2 Ježower, Ignaz: 'Das Buch der Träume' (1928) - „Ich träumte von einer Schülerrevolte. Dabei spielte Sternheim irgendwie eine Rolle, und später referierte er darüber. […] Ježower 1985, 272 T 10
3 Ježower, Ignaz: 'Das Buch der Träume' (1928) - „Ich träumte, mit Roethe gehe ich – neugebackener Privatdozent – in kollegialer Unterhaltung durch die weiten Räume eines Museums, dessen Vorsteher er ist. […] Ježower 1985, 272 T 11
4 Einbahnstraße (1928) Wegen Umbau geschlossen! „Im Traum nahm ich mir mit einem Gewehr das Leben. […] GS IV, 133, auch in: Ježower 1985, 272 T 12
5 Einbahnstraße (1928) Halteplatz für nicht mehr als 3 Droschken „Ich sah im Traum ein verrufenes Haus“. „Ein Hotel, in dem ein Tier verwöhnt ist. […] GS IV, 120 T 13
6 Einbahnstraße (1928) Reiseandenken „Himmel – Im Traume trat ich aus einem Hause und erblickte den Nachthimmel. Ein wildes Geglänze ging von ihm aus. […] GS IV, 125 T 14
7 Einbahnstraße (1928) Unordentliches Kind „Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. […] GS IV, 115 T 15
8 Einbahnstraße (1928) Mexikanische Botschaft „Mir träumte, als Mitglied einer forschenden Expedition in Mexiko zu sein. […] GS IV, 91, auch in: Ježower 1985, 270 f. T 16
9 Einbahnstraße (1928) Tiefbau-Arbeiten „Im Traum sah ich ein ödes Gelände. Das war der Marktplatz von Weimar. […] GS IV, 101, auch in: Ježower 1985, 271 T 17
10 Einbahnstraße (1928) Nr. 113 Souterrain. Wir haben längst das Ritual vergessen, unter dem das Haus unseres Lebens aufgeführt wurde. […] Vestibül. Besuch im Goethehaus. […] Speisesaal. In einem Traume sah ich mich in Goethes Arbeitszimmer. […] GS IV, 86 f., zweiter („Besuch im Goethehaus“) und dritter Teil („Goethes Arbeitszimmer“) jeweils separat auch in: Ježower 1985, 271, dort allerdings umgekehrt angeordnet. T 18 f.
11 'Berliner Chronik' (1932) - „Das Elend konnte in diesen Räumen keine Stelle haben, in welchen ja nicht einmal der Tod sie hatte. […] GS VI, 501 T 20
12 'Berliner Chronik' (1932) Ein Gespenst „Den ganzen Tag hatte ich ein Geheimnis für mich behalten: nämlich den Traum der letztvergangnen Nacht. […] GS VI, 513 f. T 21 f.
13 'Berliner Chronik' (1932) Ein Gespenst „Es war ein Abend meines siebenten oder achten Jahres vor unserer babelsberger Sommerwohnung. Eins unserer Mädchen steht noch eine Weile am Gittertor, das auf, ich weiß nicht welche, Allee herausführt. […] GS IV, 278-280 T 23-25
14 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Ein Weihnachtslied „Von allen diesen Liedern liebte ich am meisten ein Weihnachtslied, das jedesmal mich mit dem Troste für noch nicht erfahrenes, doch erstmals nun geahntes Leid erfüllte, das einzig die Musik uns geben kann. […] zuvor unpubliziertes Manuskript (WBA Ms 904) T 26
15 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Schmöker „[…] Das Buch lag auf dem viel zu hohen Tisch. Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu. So lautlos hatte ich doch schon einmal erzählen hören. […] GS IV, 274 f. T 27 f.
16 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Der Mond „Weltis Mondnacht. In einer breiten Woge, die von Urzeit her anzustehn schien, brandete das Land vor dem Fenster. […] zuvor nicht publiziertes Manuskript (WBA Ms 911 und 911v) T 29-32
17 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Der Mond „Das Licht, welches vom Mond herunterfließt, gilt nicht dem Schauplatz unseres Tagesdaseins. Der Umkreis, den es zweifelhaft erhellt, scheint einer Gegen- oder Nebenerde zu gehören. […] GS IV, 300-302 T 33-36
18 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Abreise und Rückkehr „Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren, – war er nicht das erste Reisesignal? […] GS IV, 245 f. T 37
19 'Berliner Kindheit' (1933-1938) Unglücksfälle und Verbrechen „[…] Für das Unglück war überall vorgesorgt; die Stadt und ich hätten es weich gebettet, aber nirgends ließ es sich sehn. […] GS IV, 292 f. T 38 f.
20 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Enkel „Man hatte eine Fahrt zur Großmutter beschlossen. Sie ging in einer Droschke vor sich. […] GS IV, 420 f. T 40 f.
21 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Seher „Oberhalb einer Großstadt. Römische Arena. Des Nachts. Ein Wagenrennen findet statt, es handelt sich – wie ein dunkles Bewußtsein mir sagte – um Christus. […] GS IV, 421 f., auch in: Ježower 1985, 269 T 42
22 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Liebhaber „Mit der Freundin war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwanderung und Spaziergang, das wir unternommen hatten, und nun näherten wir uns dem Gipfel. […] GS IV, 422 T 43
23 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Wissende „Ich sehe mich im Warenhaus Wertheim vor einem flachen Schächtelchen mit Holzfiguren, zum Beispiel einem Schäfchen, genau wie die Tiere der Arche Noah gebildet. […] GS IV, 422 f. T 44 f.
24 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Verschwiegene „Da ich im Traume wußte, nun müsse ich bald Italien verlassen, fuhr ich von Capri nach Positano hinüber. […] GS IV, 423 f., auch in: Ježower 1985, 269 f. T 46 f.
25 'Selbstbildnisse des Träumenden' (1932/33) Der Chronist „Der Kaiser stand vor Gericht. Es gab aber nur ein Podium, auf dem ein Tisch stand, und vor diesem Tisch wurden die Zeugen vernommen. […] GS IV, 424 f. T 48
26 'Einzelne Träume' (1929-1939) Zu nahe „Im Traum am linken Seine-Ufer vor Notre Dame. Da stand ich, aber da war nichts, was Notre Dame glich. […] GS IV, 370; Kurze Schatten 1929 T 49
27 'Einzelne Träume' (1929-1939) - „Ein Traum aus der ersten oder zweiten Nacht meines Aufenthalts in Ibiza: Ich ging spät abends nach Hause – es war eigentlich nicht mein Haus, vielmehr ein prächtiges Mietshaus, in welches ich, träumend, Seligmanns einlogiert hatte. […] GS VI, 447; Tagebuch Ibiza Sommer 1932 T 50
28 'Einzelne Träume' (1929-1939) - „Noch ein Traum (dieser in Berlin, einige Zeit vor der Reise). Mit Jula war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwanderung und Spaziergang, das wir unternommen hatten und nun näherten wir uns dem Gipfel. […] GS VI, 447 f.; Tagebuch Ibiza Sommer 1932 T 51
29 'Einzelne Träume' (1929-1939) Traum „O…s zeigten mir ihr Haus in Niederländisch-Indien. Das Zimmer, in dem ich mich befand, war mit dunklem Holz getäfelt und erweckte den Eindruck von Wohlstand. […] GS IV, 429 f.; 1933 T 52
30 'Einzelne Träume' (1929-1939) Traum „Berlin; ich saß in einer Kutsche in höchst zweideutiger Mädchengesellschaft. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel. […] GS IV, 430 f.; 1933 T 53 f.
31 'Einzelne Träume' (1929-1939) Noch einmal „Ich war im Traum im Landerziehungsheim Haubinda, wo ich aufgewachsen bin. Das Schulhaus lag in meinem Rücken und ich ging im Wald, der einsam war, nach Streufdorf zu. […] GS IV, 435; ca. 1933 T 55
32 'Einzelne Träume' (1929-1939) Brief an Toet Blaupot ten Cate „[…] Sie sehen, auch mein Sommer stellt einen bedeutenden Kontrast gegen den letzten dar. Damals konnte ich – wie das meist der Ausdruck eines ganz erfüllten Daseins ist – nicht früh genug aufstehen. […] GS VI, 812; 1934 T 56
33 'Einzelne Träume' (1929-1939) - „6 März [1938] In den letzten Nächten habe ich Träume, die meinem Tag tief eingeprägt bleiben. Heute nacht war ich im Traum einmal in Gesellschaft. […] GS VI, 532 f. T 57 f.
34 'Einzelne Träume' (1929-1939) - „28 Juni [1938] Ich befand mich in einem Labyrinth von Treppen. Dieses Labyrinth war nicht an allen Stellen gedeckt. […] GS VI, 533 f. T 59
35 'Einzelne Träume' (1929-1939) Rêve du 11/12 octobre 1939 – Brief an Gretel Adorno „ma très chère, j’ai fait cette nuit sur la paille un rêve d‘une beauté telle que je ne résiste pas à l’envie de la raconter à toi. Il y a si peu de choses belles, voire agréables, dont je puis t’entretenir. […]

„Meine Teuerste, ich hatte gestern nacht auf dem dürftigen Strohbett einen Traum von solcher Schönheit, daß ich dem Wunsch nicht widerstehen kann, ihn Dir zu erzählen. Es gibt ja sonst so wenig schöne, wenigstens erfreuliche Sachen, über die ich mit Dir reden könnte. […]

Adorno und Benjamin 2005, 390-393; ein Ausschnitt des Traums in französischer Sprache auch in: GS VI, 540-542 T 60-66


Themen und Motive

Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist relativ breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume, in denen Wortwitze oder ungewöhnliche Wortbildungen eine Rolle spielen (z.B. Nr. 3, Nr. 5, Nr. 9), Träume vom Mond und den Sternen (z.B. Nr. 6, Nr. 16, Nr. 17) oder auch libidinösen Trauminhalte (z.B. in Nr. 27, Nr. 28, Nr. 33) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z.B. in seinem „Passagen-Werk“: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608). Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er auch keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen, gleichzeitig spannende Frage aufwerfen. So zeigt sich z.B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. schließlich der herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).

Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z.B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nr. 12 und Nr. 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem am nächsten Tag stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“ (T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).

Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).

Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichte des Traums bis zur politischen Konzeption des ‚Traumkollektivs‘ und seines Erwachens“ (Lindner, T ###). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven bieten.


Constantin Houy

Literatur

Ausgaben

  • Walter Benjamin: Träume. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Burkhardt Lindner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008 (zitiert als: T).

Übersetzungen:

  • Walter Benjamin: Rêves. Übers. von Christophe David. Paris: Gallimard 2009.
  • Walter Benjamin: Sueños. Übers. von Juan Barjay und Joaquín Chamorro Mielke. Madrid: Abada Editores 2011.
  • Walter Benjamin: Sogni. Roma: Castelvecchi 2016.
  • Walter Benjamin: Dreams. Berlin: Bierke 2017.

Weitere Primärliteratur

  • Adorno, Gretel; Benjamin, Walter: Briefwechsel. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.
  • Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Berlin: Suhrkamp 2018.
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band II: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 7. Aufl. 2019 (GS II).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp 6. Aufl. 2020 (GS IV).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 9. Aufl. 2020 (GS V).
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI: Fragmente, Autobiographische Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 6. Aufl. 2020 (GS VI).
  • Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1985 [zuerst 1928].

Forschungsliteratur

  • Bretas, Aléxia: Träume – Os sonhos de Walter Benjamin. In: Cadernos Walter Benjamin 2 (2009) 1, 1-11; online (27.08.2021).
  • Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
  • Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
  • Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.
  • Lindner, Burkhardt: Anmerkungen. In: T 128-134.
  • Lindner, Burkhardt: Benjamin als Träumer und Theoretiker des Traums. In: T 135-168.
  • Maeding, Linda: Zwischen Traum und Erwachen. Walter Benjamins Surrealismus-Rezeption. In: Revista de Filología Alemana 20 (2012) 1, 11-28.
  • Müller-Doohm, Stefan: Traumprotokolle. In: Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2019, 19-22.
  • Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

Materialien



Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Houy, Constantin: "Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2021; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Traumaufzeichnungen%22_(Walter_Benjamin).