Martin Luther: Traumtheorie: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Geschichte des Traumes in der reformatorisch geprĂ€gten Frömmigkeit des frĂŒhneuzeitlichen Deutschland ist nicht ohne das Nebeneinander unterschiedlicher Bewertungen des Traums durch die Reformatoren zu verstehen (vgl. Weiß, Gantet). Zugleich ist auf die AttraktivitĂ€t des Traumwissens der Griechen fĂŒr die gelehrten Humanisten zu verweisen (Alt, Der Schlaf der Vernunft, 55), sodass im 16. Jhdt. Unterschiede zwischen den Konfessionen wie auch zwischen den Bildungsschichten nicht von vornherein entscheidend sind. Traumdeutung und Traumkritik blĂŒhten bekanntlich schon vor der Reformationszeit. Sebastian Brant hatte in seinem „Narrenschiff“ von 1494 im 65. Kapitel die BlĂŒte magischer Praktiken wie auch der Astrologie und der Traumdeutung als Zeichen fĂŒr Unglauben angesehen, drang damit aber nicht wirklich durch, ebensowenig die Kritik des Florentiners Savonarola an solchen Praktiken (Bernhardt, Gestalt und Geschichte Savonarolas, 33 mit Anm. 45), wie auch die Wirkung der Traumkritik Ciceros (Cicero, De divinatione II, 121–135) beschrĂ€nkt blieb.  
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[[Datei:Luther Portrait.jpg|thumb|right|196x300px|Martin Luther (um 1555).]]
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Luther hat teil an voraufklĂ€rerischen theologischen Voraussetzzungen fĂŒr das Reden von TrĂ€umen: TraumerzĂ€hlungen der Bibel werden vorbehaltlos als wahr anerkannt, werden nicht als literarische Einkleidung des jeweiligen Verfassers fĂŒr ihre Ideen verstanden. Zu beachten ist allerdings: Auf alttestamentliche Traumszenen wird im Neuen Testament nicht Bezug genommen. Jesus und die Apostel werden nicht durch TrĂ€ume oder Traumdeutung legitimiert; zur antiken Traumtheorie trĂ€gt das Neue Testament nichts bei. Wohl aber hat das Neue Testament teil an dem traumkritischen Diskurs klassisch-biblischer Prophetie (vgl. Jeremia 23,9–40): Gegnerische Lehren werden schon in einer SpĂ€tschrift des Neuen Testaments, im Judasbrief (Vers 8) als „TrĂ€ume“ bezeichnet.
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== Physiologische Voraussetzungen der Traumauffassung Luthers ==
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Die Geschichte des Traumes in der reformatorisch geprĂ€gten Frömmigkeit des frĂŒhneuzeitlichen Deutschland ist nicht ohne das Nebeneinander unterschiedlicher Bewertungen des Traums durch die Reformatoren zu verstehen (vgl. Weiß 2008, Gantet 2010). Zugleich ist auf die AttraktivitĂ€t des Traumwissens der Griechen fĂŒr die gelehrten Humanisten zu verweisen (Alt 2002, 55), sodass im 16. Jh. Unterschiede zwischen den Konfessionen wie auch zwischen den Bildungsschichten nicht von vornherein entscheidend sind. Traumdeutung und Traumkritik blĂŒhten bekanntlich schon vor der Reformationszeit. Sebastian Brant hatte in seinem ''Narrenschiff'' (1494) im 65. Kapitel die BlĂŒte magischer Praktiken wie auch der Astrologie und der Traumdeutung als Zeichen fĂŒr Unglauben angesehen, drang damit aber nicht wirklich durch, ebensowenig die Kritik des Florentiners Savonarola an solchen Praktiken <ref>Oliver Bernhardt: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der FrĂŒhen Neuzeit bis zur Gegenwart, WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2016, 33 mit Anm. 45</ref>, wie auch die Wirkung der Traumkritik Ciceros (Cicero 1991, II, 121–135) beschrĂ€nkt blieb.
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Die physiologischen Voraussetzungen des Redens vom Traum bei Luther sind schnell benannt. Luther geht davon aus, dass im Schlaf die Sinnesorgane nicht tĂ€tig sind, dass sie der Mensch im Schlaf nicht benutzt (WA 42, 555, 35–38; zur AbkĂŒrzung „WA“ s. den ersten Eintrag in der Bibliographie). Luther kann auch Ă€hnlich wie Platon sagen: Im Schlaf schlĂ€ft der Leib, doch die Seele wacht (WA 24, 510, 29f. Platon, Phaidros 245c (Eigler u. Kurz. Bd. 5. S. 66); spĂ€ter Clemens von Alexandria, Paedagogus II 82,1f. [StĂ€hlin u. Treu. S. 207]). Gelegentlich, etwa in der Auslegung zu Kohelet 5,1, verweist Luther auf Tagesreste: Wo tagsĂŒber viele Sorgen und Überlegungen quĂ€len, folgen bei Nacht vielerlei TrĂ€ume, auch nach dem Urteil der Ärzte (WA 20, 90, 30f.) ''Ubi multae cogitationes 
 ibi multa somnia'' (Wo es viele Gedanken gibt, gibt es viele TrĂ€ume; WA 20, 95, 33; vgl. WA 40 II, 253,4). Das betrifft auch sexuelle TrĂ€ume (WA 43, 303, 17). Das VerstĂ€ndnis des Traumes als Tagesrest kann auch zum Tragen kommen, wenn Luther auf Cato verweist. Dort heißt es: ''Somnia ne cures, nam mens humana, quod optat / Dum vigilans sperat, per somnum cernit id ipsum'' ((Um TrĂ€ume kĂŒmmere dich nicht, denn was der menschliche Geist sich wĂŒnscht, erhofft er, wĂ€hrend er wach ist, sieht es aber [scil. bereits als wirklich] im Traum; Cato, Disticha II 31). Luther zitiert dabei die ersten drei Worte (WA 43, 592, 7–8), und man kann fragen, ob der Kontext bei Cato fĂŒr Luther entscheidend ist. Diese physisch bedingten TrĂ€ume interessieren Luther nicht wirklich; er verweist zu deren VerstĂ€ndnis kurzerhand auf Macrobius (WA 44, 248, 25–30).  
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== Biblische Traumkritik bei Luther ==
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Martin Luther (1483-1546) hat teil an voraufklĂ€rerischen theologischen Voraussetzzungen fĂŒr das Reden von TrĂ€umen: TraumerzĂ€hlungen der Bibel werden vorbehaltlos als wahr anerkannt und nicht als literarische Einkleidung des jeweiligen Verfassers fĂŒr ihre Ideen verstanden. Zu beachten ist allerdings: Auf alttestamentliche Traumszenen wird im Neuen Testament nicht Bezug genommen. Jesus und die Apostel werden nicht durch TrĂ€ume oder Traumdeutung legitimiert; zur antiken Traumtheorie trĂ€gt das Neue Testament nichts bei. Wohl aber hat das Neue Testament teil an dem traumkritischen Diskurs klassisch-biblischer Prophetie (vgl. Jeremia 23,9–40): Gegnerische Lehren werden schon in einer SpĂ€tschrift des Neuen Testaments, im Judasbrief (Vers 8) als "TrĂ€ume" bezeichnet.
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AuffĂ€llig ist die ĂŒberwiegend negative Konnotation des Wortfeldes „Traum“ bei Luther. Der Traum steht fĂŒr unvollkommene Erkenntnis (WA 11, 19, 8; 24, 342, 10; 39/I, 346, 25), die den Abstand zwischen Gott und Mensch verkennt (WA 24, 242, 21), steht fĂŒr das, was man sich einbildet, was im Gegensatz zur Wahrheit des biblischen Wortes steht (WA 11, 34, 20; 14,23, 28), ist menschlicher Traum, nicht göttliches Wort (WA 39/I, 420, 24). Es verwundert nicht, dass Luther, dem Vorbild des Judasbriefes folgend (Judas 8), die Lehren der altglĂ€ubigen Gegner (WA 6, 630, 1; 25, 14, 7; 39/I, 420, 24; 40/I, 231, 20; 274, 19; 40/II, 424, 34 u.ö) wie der Dissidenten in den eigenen Reihen als nur menschliche TrĂ€ume verwirft (WA 28, 461, 36; WA 29, 163, 21; 36, 323, 29 u.ö).  
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In einer Vorlesung von 1527 zum Ersten Johannesbrief heißt es: Gott wollte uns nicht in Ă€hnlicher Weise erscheinen wie den Aposteln, sondern begegnet uns im Wort der Heiligen Schrift. Damit nicht zufrieden sein zu wollen, heißt, Gott versuchen – da wirkt der Teufel. Nach einer Anspielung auf 2 Korinther 11,14 („Der Satan verkleidet sich als Engel des Lichtes“) bekennt Luther freimĂŒtig: Ego nulli somnio vel visioni credo. („Ich glaube weder einem Traum noch einer Vision“; WA 20, 787, 21; Ă€hnlich WA 42, 667, 28–35.) Ähnlich erklĂ€rt Luther in seiner Genesisvorlesung: Somnia 
 ego nec curo, nec desidero. („TrĂ€ume
 ich kĂŒmmere mich nicht darum, ersehne sie auch nicht“; WA 44, 246, 17). Es kann einfach heißen: TrĂ€ume sind trĂŒgerisch (WA 251, 1–9, mit Verweis auf Jesaja 29,8); TrĂ€ume sind LĂŒgen (WA 29, 376, 20).  
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==Physiologische Voraussetzungen der Traumauffassung Luthers==
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Von daher gelangt Luther zu einer völligen Ablehnung von TraumbĂŒchern: „Dass man aber darauff felt (= darauf hereinfĂ€llt), und wie etliche Narren gethan haben, bucher da von gemacht hat, ist nichts denn trigery (= Betrug). Es kann niemand eine konst („Kunst“) daraus machen, sie gilt auch nichts.“ (WA 15, 621, 9–11).
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Die physiologischen Voraussetzungen des Redens vom Traum bei Luther sind schnell benannt. Luther geht davon aus, dass im Schlaf die Sinnesorgane nicht tĂ€tig sind, dass sie der Mensch im Schlaf nicht benutzt (WA 42, 555,35–38). Luther kann auch Ă€hnlich wie Platon sagen: "Im Schlaf schlĂ€ft der Leib, doch die Seele wacht" (WA 24, 510,29 f.; vgl. Platon 1983, 66 = Phaidros 245c; spĂ€ter Clemens von Alexandria 1972, 207 = Paedagogus II 82,1 f.). Gelegentlich, etwa in der Auslegung zu Kohelet 5,1, verweist Luther auf Tagesreste. Wo tagsĂŒber viele Sorgen und Überlegungen quĂ€len, folgen bei Nacht vielerlei TrĂ€ume, auch nach dem Urteil der Ärzte (WA 20, 90,30 f.): "Ubi multae cogitationes [
] ibi multa somnia" (Wo es viele Gedanken gibt, gibt es viele TrĂ€ume; WA 20, 95,33; vgl. WA 40.II, 253,4). Das betrifft auch sexuelle TrĂ€ume (WA 43, 303,17). Das VerstĂ€ndnis des Traumes als Tagesrest kann auch zum Tragen kommen, wenn Luther auf Cato verweist. Dort heißt es: "Somnia ne cures, nam mens humana, quod optat/ Dum vigilans sperat, per somnum cernit id ipsum" ((Um TrĂ€ume kĂŒmmere dich nicht, denn was der menschliche Geist sich wĂŒnscht, erhofft er, wĂ€hrend er wach ist, sieht es aber [bereits als wirklich] im Traum; Cato, Disticha II, 31). Luther zitiert dabei die ersten drei Worte (WA 43, 592,7 f.), und man kann fragen, ob der Kontext bei Cato fĂŒr Luther entscheidend ist. Diese physisch bedingten TrĂ€ume interessieren Luther nicht wirklich; er verweist zu deren VerstĂ€ndnis kurzerhand auf Macrobius (WA 44, 248,25–30).
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== Luthers Auslegungen biblischer TraumerzÀhlungen ==
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An vier Stellen in Luthers Gesamtwerk, jeweils in der Behandlung traumbejahender Passagen in der Bibel, nĂ€mlich zu Apostelgeschichte 16,9f. (WA 15, 619–622)Genesis 40 (WA 24, 640–644); Genesis 28 (Der Traum mit der Jakobsleiter; WA 43, 591–594) und Genesis 37 (die TrĂ€ume Josephs; WA 44, 246–251), finden sich lĂ€ngere AusfĂŒhrungen Luthers zum Thema Traum. Auch sie sind von der generellen Skepsis des Reformators gegenĂŒber dem Traum geprĂ€gt. Kritik wird an Jakob nicht wegen seines Betrugsverhaltens, an Joseph nicht wegen seines Hochmutes geĂŒbt; es geht um die fehlende VerlĂ€sslichkeit eines Traumes.
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==Biblische Traumkritik bei Luther==
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Wie in AnsĂ€tzen bereits Johannes Chrysostomus (Homiliae in Matthaeum 4,5, PG 57, 45), ordnet Luther den Traum ein in eine dreifach gestufte Hierarchie dessen, wie sich Gott mitteilen kann, durch Weissagung, durch Vision und durch TrĂ€ume (WA 29, 375, 31 – 376, 15; 42, 555, 18–40; 44, 247, 8–13). Weissagung ergeht in klaren Worten; Visionen bedĂŒrfen der Deutung; TrĂ€ume bedĂŒrfen darĂŒber hinaus der KlĂ€rung ihrer Herkunft. Anlass zu dieser dreifachen Stufung geben Numeri 12,6 („Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, der Herr, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in TrĂ€umen“) und Joel 3,1 („Und nach diesem will ich meinem Geist ausgießen ĂŒber alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen TrĂ€ume haben, und eure JĂŒnglinge sollen Gesichte sehen“). Allerdings hĂ€lt Luther auch in der Auslegung der genannten traumbejahenden Passagen fest, dass TrĂ€ume auch vom Teufel stammen können; er kann nicht nur falsche, sondern auch wahre TrĂ€ume schicken, d.h. TrĂ€ume, die in ErfĂŒllung gehen (WA 44, 247, 25 – 248, 24. Die in antiker römischer Literatur erwĂ€hnten TrĂ€ume [Luther kommt auf Hannibals Traum bei Livius, 21, 22 zu sprechen] sind vom Teufel geschickt). Deshalb enthĂ€lt die Bibel neben den traumbejahenden auch traumkritische Passagen wie Deuteronomium 13,2–6; Sirach 34; Kohelet 5,6 etc. Wie soll der Mensch entscheiden, ob ein Traum von Gott oder vom Teufel stammt? Luther gibt zwei Antworten: Die von Gott gesandten TrĂ€ume werden von Gott selbst gedeutet, wĂ€hrend bei den vom Teufel gesandten TrĂ€umen keine Deutung mitgegeben wird (WA 44, 249, 15–23); 2. Ob TrĂ€ume von Gott oder von dem Teufel kommen, kann man nicht lehren, sondern muss man auf der Basis von Erfahrung erkennen, nĂ€mlich, dass man des Glaubens des Evangeliums gewiss ist (WA 15, 620, 18–22). Die TrĂ€ume also sind nach der analogia fidei („Analogie des Glaubens“; WA 29, 375, 31–376, 15; 44, 247, 18f) zu beurteilen, d.h. ob sie „dem Glauben Ă€hnlich“ (WA 15, 620, 25), d.h. mit dem Wort der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen sind oder nicht (WA 43, 593, 26; 44, 251, 36–41). Das aber ist Werk des Heiligen Geistes. So kann Paulus den Traum, in dem ihn der Mann aus Makedonien zur Überfahrt nach Europa auffordert (Apostelgeschichte 16,9f.) im Heiligen Geist deuten und ihm Folge leisten, weil die Bitte des Mannes seinem generellen Auftrag, das Evangelium zu predigen, durchaus entsprach (WA 15, 621, 29–35).
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AuffĂ€llig ist die ĂŒberwiegend negative Konnotation des Wortfeldes "Traum" bei Luther. Der Traum steht fĂŒr unvollkommene Erkenntnis (WA 11, 19,8; 24, 342,10; 39.I, 346,25), die den Abstand zwischen Gott und Mensch verkennt (WA 24, 242,21), fĂŒr das, was man sich einbildet, was im Gegensatz zur Wahrheit des biblischen Wortes steht (WA 11, 34,20; 14, 23,28), ist menschlicher Traum, nicht göttliches Wort (WA 39.I, 420,24). Es verwundert nicht, dass Luther, dem Vorbild des Judasbriefes folgend (Judas 8), die Lehren der altglĂ€ubigen Gegner (WA 6, 630,1; 25, 14,7; 39.I, 420,24; 40.I, 231,20 u. 274,19; 40.II, 424,34 u.ö) wie der Dissidenten in den eigenen Reihen als nur menschliche TrĂ€ume verwirft (WA 28, 461,36; WA 29, 163,21; 36, 323,29 u.ö).
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Bei der Behandlung von Gen 40,16 (Der oberste BĂ€cker fĂŒhlt sich durch Josephs Gutes verheißende Deutung des Traums des Obermundschenks dazu veranlasst, auch seinen Traum zu erzĂ€hlen, den Josef dann aber als Hinweis auf seine bevorstehende Hinrichtung deutet) findet Luther zu einer Exegese, die geradezu rezeptionsĂ€sthetische Fragestellungen vorweg-nimmt. Die genannte Stelle gibt Luther Anlass zur Frage: Warum steht das in der Bibel? Luthers Antwort: „Eben darum, dass man auf TrĂ€ume nicht baue.“ (WA 24, 641, 26f.; Orthographie modernisiert) Die Regel Gen 40,8 „Auslegen ist allein Sache Gottes“ heißt fĂŒr Luther: Wem Gott einen Traum gibt, dem gibt er auch den Verstand, ihn zu deuten (WA 24, 641, 34 – 642, 5). Man soll nicht auf TrĂ€ume achten, d.h. sich nicht anmaßen, sie richtig auszulegen; die TrĂ€ume, die Gott geschickt hat, wird er selbst auslegen (WA 24, 642, 32–34).
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Nicht sehr hĂ€ufig werden positive TraumerzĂ€hlungen ohne weitere Vorbehalte ausgelegt. Als ein Beispiel seien die beiden TrĂ€ume des jugendlichen Joseph nach Genesis 37 genannt. Sie bedeuten nach allegorischer Auslegung den Verweis der Patriarchen und Propheten auf Christus und das Neue Testament (WA 24, 616, 28–32); nach wörtlicher Auslegung weisen sie auf die kommende Karriere in Ägypten voraus, wo seine BrĂŒder ihn tatsĂ€chlich um Quartier bitten mĂŒssen, aber sie erfĂŒllen sich nicht geradewegs; dass sie sich erfĂŒllen werden, ist zunĂ€chst nicht am Schicksal ablesbar (WA 24, 682, 16–18).
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In einer Vorlesung von 1527 zum Ersten Johannesbrief heißt es: Gott wollte uns nicht in Ă€hnlicher Weise erscheinen wie den Aposteln, sondern begegnet uns im Wort der Heiligen Schrift. Damit nicht zufrieden sein zu wollen, heißt, Gott versuchen – da wirkt der Teufel. Nach einer Anspielung auf 2 Korinther 11,14 ("Der Satan verkleidet sich als Engel des Lichtes") bekennt Luther freimĂŒtig: "Ego nulli somnio vel visioni credo" (Ich glaube weder einem Traum noch einer Vision; WA 20, 787,21; Ă€hnlich WA 42, 667,28–35). Ähnlich erklĂ€rt Luther in seiner Genesisvorlesung: "Somnia [
] ego nec curo, nec desidero" (TrĂ€ume [
] ich kĂŒmmere mich nicht darum, ersehne sie auch nicht; WA 44, 246,17). Es kann einfach heißen: TrĂ€ume sind trĂŒgerisch (WA 44, 251,1–9, mit Verweis auf Jesaja 29,8), TrĂ€ume sind LĂŒgen (WA 29, 376,20).
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== Biographische Voraussetzungen bei Luther ==
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Wie kommt es zu dieser traumkritischen Haltung bei Luther? Im Sinne einer BegrĂŒndung in Luthers Biographie hat Ulman Weiß darauf verwiesen, dass Luther das Erlebnis in Stotternheim, das ihn zu dem Entschluss gefĂŒhrt hat, ein Mönch zu werden, in spĂ€terer Zeit durch sein eigenes Verhalten (er trat aus dem Kloster aus und heiratete) faktisch als Blendwerk interpretiert habe (Weiß, Traumglaube und Traumkritik, 229). So gewiss Luther die auch von ihm wĂ€hrend seiner Klosterzeit vertretene Meinung, dass bestimmte kirchliche Zeremonien den Menschen nĂ€her zu Gott bringen, als Traum charakterisieren kann (WA 24, 562, 21), so selten bringt Luther seine kritische Haltung zum Thema Traum unmittelbar mit der Korrektur des genannten Erlebnisses in Verbindung.
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Von daher gelangt Luther zu einer völligen Ablehnung von TraumbĂŒchern: "Dass man aber darauff felt [darauf hereinfĂ€llt], und wie etliche Narren gethan haben, bucher da von gemacht hat, ist nichts denn trigery [Betrug]. Es kann niemand eine konst [Kunst] daraus machen, sie gilt auch nichts" (WA 15, 621,9–11).
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==Luthers Auslegungen biblischer TraumerzÀhlungen==
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An vier Stellen in Luthers Gesamtwerk, jeweils in der Behandlung traumbejahender Passagen in der Bibel, nĂ€mlich zu Apostelgeschichte 16,9 f. (WA 15, 619–622), Genesis 40 (WA 24, 640–644); Genesis 28 ([[Traum von der Jakobsleiter (Bibel, AT, Genesis 28,10–22) | Der Traum mit der Jakobsleiter]]; WA 43, 591–594) und Genesis 37 (die TrĂ€ume Josephs; WA 44, 246–251), finden sich lĂ€ngere AusfĂŒhrungen Luthers zum Thema Traum. Auch sie sind von der generellen Skepsis des Reformators gegenĂŒber dem Traum geprĂ€gt. Kritik wird an Jakob nicht wegen seines Betrugsverhaltens, an Joseph nicht wegen seines Hochmutes geĂŒbt; es geht um die fehlende VerlĂ€sslichkeit eines Traumes.
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Wie in AnsĂ€tzen bereits Johannes Chrysostomus (Homiliae in Matthaeum 4,5, PG 57, 45) ordnet Luther den Traum ein in eine dreifach gestufte Hierarchie dessen, wie sich Gott mitteilen kann: durch Weissagung, durch Vision und durch TrĂ€ume (WA 29, 375,31–376,15; 42, 555,18–40; 44, 247,8–13). Weissagung ergeht in klaren Worten; Visionen bedĂŒrfen der Deutung; TrĂ€ume bedĂŒrfen darĂŒber hinaus der KlĂ€rung ihrer Herkunft. Anlass zu dieser dreifachen Stufung geben Numeri 12,6 ("Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, der Herr, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in TrĂ€umen") und Joel 3,1 ("Und nach diesem will ich meinem Geist ausgießen ĂŒber alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen TrĂ€ume haben, und eure JĂŒnglinge sollen Gesichte sehen"). Allerdings hĂ€lt Luther auch in der Auslegung der genannten traumbejahenden Passagen fest, dass TrĂ€ume auch vom Teufel stammen können; er kann nicht nur falsche, sondern auch wahre TrĂ€ume schicken, d.h. TrĂ€ume, die in ErfĂŒllung gehen (WA 44, 247,25–248,24; die in antiker römischer Literatur erwĂ€hnten TrĂ€ume [Luther kommt auf Hannibals Traum bei Livius, 21,22 zu sprechen] sind vom Teufel geschickt). Deshalb enthĂ€lt die Bibel neben den traumbejahenden auch traumkritische Passagen wie Deuteronomium 13,2–6; Sirach 34; Kohelet 5,6 etc.
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Wie soll der Mensch entscheiden, ob ein Traum von Gott oder vom Teufel stammt? Luther gibt zwei Antworten: (1) Die von Gott gesandten TrĂ€ume werden von Gott selbst gedeutet, wĂ€hrend bei den vom Teufel gesandten TrĂ€umen keine Deutung mitgegeben wird (WA 44, 249,15–23). (2) Ob TrĂ€ume von Gott oder von dem Teufel kommen, kann man nicht lehren, sondern muss man auf der Basis von Erfahrung erkennen, nĂ€mlich, dass man des Glaubens des Evangeliums gewiss ist (WA 15, 620,18–22). Die TrĂ€ume also sind nach der analogia fidei ("Analogie des Glaubens"; WA 29, 375,31–376,15; 44, 247,18 f.) zu beurteilen, d.h. ob sie "dem Glauben Ă€hnlich" (WA 15, 620,25), d.h. mit dem Wort der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen sind oder nicht (WA 43, 593,26; 44, 251,36–41). Das aber ist Werk des Heiligen Geistes. So kann Paulus den Traum, in dem ihn der Mann aus Makedonien zur Überfahrt nach Europa auffordert (Apostelgeschichte 16,9f.) im Heiligen Geist deuten und ihm Folge leisten, weil die Bitte des Mannes seinem generellen Auftrag, das Evangelium zu predigen, durchaus entsprach (WA 15, 621,29–35).
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Bei der Behandlung von Gen 40,16 (der oberste BĂ€cker fĂŒhlt sich durch Josephs Gutes verheißende Deutung des Traums des Obermundschenks dazu veranlasst, auch seinen Traum zu erzĂ€hlen, den Josef dann aber als Hinweis auf seine bevorstehende Hinrichtung deutet) findet Luther zu einer Exegese, die geradezu rezeptionsĂ€sthetische Fragestellungen vorwegnimmt. Die genannte Stelle gibt Luther Anlass zur Frage: Warum steht das in der Bibel? Luthers Antwort: "Eben darum, dass man auf TrĂ€ume nicht baue" (WA 24, 641,26 f.; Orthographie modernisiert). Die Regel Gen 40,8 "Auslegen ist allein Sache Gottes" heißt fĂŒr Luther: Wem Gott einen Traum gibt, dem gibt er auch den Verstand, ihn zu deuten (WA 24, 641,34–642,5). Man soll nicht auf TrĂ€ume achten, d.h. sich nicht anmaßen, sie richtig auszulegen; die TrĂ€ume, die Gott geschickt hat, wird er selbst auslegen (WA 24, 642,32–34).
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Nicht sehr hĂ€ufig werden positive TraumerzĂ€hlungen ohne weitere Vorbehalte ausgelegt. Als ein Beispiel seien die beiden TrĂ€ume des jugendlichen Joseph nach Genesis 37 genannt. Sie bedeuten nach allegorischer Auslegung den Verweis der Patriarchen und Propheten auf Christus und das Neue Testament (WA 24, 616,28–32); nach wörtlicher Auslegung weisen sie auf die kommende Karriere in Ägypten voraus, wo seine BrĂŒder ihn tatsĂ€chlich um Quartier bitten mĂŒssen, aber sie erfĂŒllen sich nicht geradewegs; dass sie sich erfĂŒllen werden, ist zunĂ€chst nicht am Schicksal ablesbar (WA 24, 682,16–18).
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==Biographische Voraussetzungen bei Luther==
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Wie kommt es zu dieser traumkritischen Haltung bei Luther? Im Sinne einer BegrĂŒndung in Luthers Biographie hat Ulman Weiß darauf verwiesen, dass Luther das Erlebnis in Stotternheim, das ihn zu dem Entschluss gefĂŒhrt hat, ein Mönch zu werden, in spĂ€terer Zeit durch sein eigenes Verhalten (er trat aus dem Kloster aus und heiratete) faktisch als Blendwerk interpretiert habe (Weiß 2008, 229). So gewiss Luther die auch von ihm wĂ€hrend seiner Klosterzeit vertretene Meinung, dass bestimmte kirchliche Zeremonien den Menschen nĂ€her zu Gott bringen, als Traum charakterisieren kann (WA 24, 562,21), so selten bringt Luther seine kritische Haltung zum Thema Traum unmittelbar mit der Korrektur des genannten Erlebnisses in Verbindung.
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Abschließend lĂ€sst sich zu Martin Luther sagen: Innerhalb des voraufklĂ€rerischen Weltbildes, das Luther fraglos teilt, gelangt er zu einer Position grĂ¶ĂŸter Kritik, wie sie bei Anerkennung der auch historischen Irrtumslosigkeit der Bibel ĂŒberhaupt möglich ist. Das Ergebnis ist vor allem durch Vergleich biblischer traumkritischer wie traumbejahender Passagen gewonnen; ein Urteil jenseits eines bloßen Erfahrungswissens, das unabhĂ€ngig von den biblischen Texten her erfolgt, lĂ€sst sich bei Luther nicht belegen.
 
Abschließend lĂ€sst sich zu Martin Luther sagen: Innerhalb des voraufklĂ€rerischen Weltbildes, das Luther fraglos teilt, gelangt er zu einer Position grĂ¶ĂŸter Kritik, wie sie bei Anerkennung der auch historischen Irrtumslosigkeit der Bibel ĂŒberhaupt möglich ist. Das Ergebnis ist vor allem durch Vergleich biblischer traumkritischer wie traumbejahender Passagen gewonnen; ein Urteil jenseits eines bloßen Erfahrungswissens, das unabhĂ€ngig von den biblischen Texten her erfolgt, lĂ€sst sich bei Luther nicht belegen.
  
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Martin Meiser]]</div>
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==Ausgaben, PrimÀr- und Forschungsliteratur==
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* Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von J.K.F. Knaake u.a. Bd. 1–58, Weimar: Böhlau 1883–2009; zitiert als WA mit Angabe von Band, Seite und Zeile.
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== Bibliographie ==
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* Platon: Werke. 8 Bde. Griech.-dt. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 5: Phaidros. Parmenides. Briefe. Bearbeitet von Dietrich Kurz. 1983.
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* D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. J.K.F. Knaake u.a., Bd. 1–58, Weimar: Böhlau 1883–2009.
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* Cicero: Über die Wahrsagung / De divinatione. Lat.-dt. Hg., ĂŒbers. und erl. von Christoph SchĂ€ublin. MĂŒnchen: Artemis und Winkler 1991.
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* Macrobius: Commentaire au Somne de Scipion, Tome I. Livre I. Hg., ĂŒbers. u. komm. von Mireille Armisen-Marchetti. Paris : Les belles lettres 2001, 2. Aufl. 2003.
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* Clemens von Alexandria: Paedagogus. Hg. von Otto StĂ€hlin, 3. Aufl. Hg. v. Ursula Treu (Griechische Christliche Schriftsteller 12). Berlin: Akademie 1972, 87–292.
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* Johannes Chrysostomus: Homiliae in Matthaeum; Patrologiae Cursus Completus (Series Graeca, Vol. 57). Paris: J.P. Migne 1862.
  
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* Platon, Werke in acht BĂ€nden, griechisch und deutsch, hrsg. v. Gunther Eigler: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 5: Phaidros. Parmenides. BrieÂŹfe, bearbeitet von Dietrich Kurz. 1983.
 
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* Cicero: Cicero, Über die Wahrsagung. De divinatione. Lateinisch-deutsch. Hrsg., ĂŒbersetzt und erlĂ€utert von Christoph SchĂ€ublin. MĂŒnchen: Artemis und Winkler 1991.
 
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*Macrobius: Commentaire au Somne de Scipion, Tome I. Live I, Texte Ă©tabli, traduit et commentĂ© par Mireille Armisen-Marchetti. Paris : Les belles lettres [2001] ÂČ2003.
 
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* Clemens von Alexandria: Paedagogus . Hrsg. v. Otto StĂ€hlin, 3. Aufl. hrsg. v. Ursula Treu. Griechische Christliche Schriftsteller 12, Berlin: Akademieverlag, 1972, 87–292.
 
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* Johannes Chrysostomus (Homiliae in Matthaeum; Patrologiae Cursus Completus, Series Graeca, Vol. 57; 68 Paris : J.P. Migne, 1862
 
  
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* Alt, Peter-AndrĂ©: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, MĂŒnchen: Beck 2002.
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* Bernhardt, Oliver: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der FrĂŒhen Neuzeit bis zur Gegenwart, WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2016.
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* Gantet, Claire: Der Traum in der frĂŒhen Neuzeit. AnsĂ€tze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin, New York: de Gruyter 2010.
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* Weiß, Ulman:, Traumglaube und Traumkritik im Ă€lteren deutschen Luthertum. Eine Skizze. In: Peer Schmidt / Gregor Weber (Hg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutung sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock. Berlin: Akademie 2008, 227–256.
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==Anmerkungen==
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* ALT, PETER-ANDRÉ, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, MĂŒnchen: C.H.Beck, 2002.
 
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* BERNHARDT, OLIVER, Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der FrĂŒhen Neuzeit bis zur Gegenwart, WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann, 2016.
 
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* GANTET, CLAIRE Der Traum in der frĂŒhen Neuzeit. AnsĂ€tze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin/New York: de Gruyter, 2010).
 
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* WEIß, ULMAN, Traumglaube und Traumkritik im Ă€lteren deutschen Luthertum. Eine Skizze, in: Traum und res publica. Traumkulturen und Deutung sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock, hrsg. v. Peer Schmidt und Gregor Weber, Berlin: Akademie Verlag, 2008, 227–256.
 
  
  
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Meiser, Martin: Martin Luther: Traumtheorie. In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2015; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Tageb%C3%BCcher%22_(Ulrich_Br%C3%A4ker) .
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Meiser, Martin: Martin Luther: Traumtheorie. In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/Martin_Luther:_Traumtheorie.
  
 
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Aktuelle Version vom 11. Dezember 2018, 20:09 Uhr

Martin Luther (um 1555).

Die Geschichte des Traumes in der reformatorisch geprĂ€gten Frömmigkeit des frĂŒhneuzeitlichen Deutschland ist nicht ohne das Nebeneinander unterschiedlicher Bewertungen des Traums durch die Reformatoren zu verstehen (vgl. Weiß 2008, Gantet 2010). Zugleich ist auf die AttraktivitĂ€t des Traumwissens der Griechen fĂŒr die gelehrten Humanisten zu verweisen (Alt 2002, 55), sodass im 16. Jh. Unterschiede zwischen den Konfessionen wie auch zwischen den Bildungsschichten nicht von vornherein entscheidend sind. Traumdeutung und Traumkritik blĂŒhten bekanntlich schon vor der Reformationszeit. Sebastian Brant hatte in seinem Narrenschiff (1494) im 65. Kapitel die BlĂŒte magischer Praktiken wie auch der Astrologie und der Traumdeutung als Zeichen fĂŒr Unglauben angesehen, drang damit aber nicht wirklich durch, ebensowenig die Kritik des Florentiners Savonarola an solchen Praktiken [1], wie auch die Wirkung der Traumkritik Ciceros (Cicero 1991, II, 121–135) beschrĂ€nkt blieb.

Martin Luther (1483-1546) hat teil an voraufklĂ€rerischen theologischen Voraussetzzungen fĂŒr das Reden von TrĂ€umen: TraumerzĂ€hlungen der Bibel werden vorbehaltlos als wahr anerkannt und nicht als literarische Einkleidung des jeweiligen Verfassers fĂŒr ihre Ideen verstanden. Zu beachten ist allerdings: Auf alttestamentliche Traumszenen wird im Neuen Testament nicht Bezug genommen. Jesus und die Apostel werden nicht durch TrĂ€ume oder Traumdeutung legitimiert; zur antiken Traumtheorie trĂ€gt das Neue Testament nichts bei. Wohl aber hat das Neue Testament teil an dem traumkritischen Diskurs klassisch-biblischer Prophetie (vgl. Jeremia 23,9–40): Gegnerische Lehren werden schon in einer SpĂ€tschrift des Neuen Testaments, im Judasbrief (Vers 8) als "TrĂ€ume" bezeichnet.

Physiologische Voraussetzungen der Traumauffassung Luthers

Die physiologischen Voraussetzungen des Redens vom Traum bei Luther sind schnell benannt. Luther geht davon aus, dass im Schlaf die Sinnesorgane nicht tĂ€tig sind, dass sie der Mensch im Schlaf nicht benutzt (WA 42, 555,35–38). Luther kann auch Ă€hnlich wie Platon sagen: "Im Schlaf schlĂ€ft der Leib, doch die Seele wacht" (WA 24, 510,29 f.; vgl. Platon 1983, 66 = Phaidros 245c; spĂ€ter Clemens von Alexandria 1972, 207 = Paedagogus II 82,1 f.). Gelegentlich, etwa in der Auslegung zu Kohelet 5,1, verweist Luther auf Tagesreste. Wo tagsĂŒber viele Sorgen und Überlegungen quĂ€len, folgen bei Nacht vielerlei TrĂ€ume, auch nach dem Urteil der Ärzte (WA 20, 90,30 f.): "Ubi multae cogitationes [
] ibi multa somnia" (Wo es viele Gedanken gibt, gibt es viele TrĂ€ume; WA 20, 95,33; vgl. WA 40.II, 253,4). Das betrifft auch sexuelle TrĂ€ume (WA 43, 303,17). Das VerstĂ€ndnis des Traumes als Tagesrest kann auch zum Tragen kommen, wenn Luther auf Cato verweist. Dort heißt es: "Somnia ne cures, nam mens humana, quod optat/ Dum vigilans sperat, per somnum cernit id ipsum" ((Um TrĂ€ume kĂŒmmere dich nicht, denn was der menschliche Geist sich wĂŒnscht, erhofft er, wĂ€hrend er wach ist, sieht es aber [bereits als wirklich] im Traum; Cato, Disticha II, 31). Luther zitiert dabei die ersten drei Worte (WA 43, 592,7 f.), und man kann fragen, ob der Kontext bei Cato fĂŒr Luther entscheidend ist. Diese physisch bedingten TrĂ€ume interessieren Luther nicht wirklich; er verweist zu deren VerstĂ€ndnis kurzerhand auf Macrobius (WA 44, 248,25–30).

Biblische Traumkritik bei Luther

AuffĂ€llig ist die ĂŒberwiegend negative Konnotation des Wortfeldes "Traum" bei Luther. Der Traum steht fĂŒr unvollkommene Erkenntnis (WA 11, 19,8; 24, 342,10; 39.I, 346,25), die den Abstand zwischen Gott und Mensch verkennt (WA 24, 242,21), fĂŒr das, was man sich einbildet, was im Gegensatz zur Wahrheit des biblischen Wortes steht (WA 11, 34,20; 14, 23,28), ist menschlicher Traum, nicht göttliches Wort (WA 39.I, 420,24). Es verwundert nicht, dass Luther, dem Vorbild des Judasbriefes folgend (Judas 8), die Lehren der altglĂ€ubigen Gegner (WA 6, 630,1; 25, 14,7; 39.I, 420,24; 40.I, 231,20 u. 274,19; 40.II, 424,34 u.ö) wie der Dissidenten in den eigenen Reihen als nur menschliche TrĂ€ume verwirft (WA 28, 461,36; WA 29, 163,21; 36, 323,29 u.ö).

In einer Vorlesung von 1527 zum Ersten Johannesbrief heißt es: Gott wollte uns nicht in Ă€hnlicher Weise erscheinen wie den Aposteln, sondern begegnet uns im Wort der Heiligen Schrift. Damit nicht zufrieden sein zu wollen, heißt, Gott versuchen – da wirkt der Teufel. Nach einer Anspielung auf 2 Korinther 11,14 ("Der Satan verkleidet sich als Engel des Lichtes") bekennt Luther freimĂŒtig: "Ego nulli somnio vel visioni credo" (Ich glaube weder einem Traum noch einer Vision; WA 20, 787,21; Ă€hnlich WA 42, 667,28–35). Ähnlich erklĂ€rt Luther in seiner Genesisvorlesung: "Somnia [
] ego nec curo, nec desidero" (TrĂ€ume [
] ich kĂŒmmere mich nicht darum, ersehne sie auch nicht; WA 44, 246,17). Es kann einfach heißen: TrĂ€ume sind trĂŒgerisch (WA 44, 251,1–9, mit Verweis auf Jesaja 29,8), TrĂ€ume sind LĂŒgen (WA 29, 376,20).

Von daher gelangt Luther zu einer völligen Ablehnung von TraumbĂŒchern: "Dass man aber darauff felt [darauf hereinfĂ€llt], und wie etliche Narren gethan haben, bucher da von gemacht hat, ist nichts denn trigery [Betrug]. Es kann niemand eine konst [Kunst] daraus machen, sie gilt auch nichts" (WA 15, 621,9–11).

Luthers Auslegungen biblischer TraumerzÀhlungen

An vier Stellen in Luthers Gesamtwerk, jeweils in der Behandlung traumbejahender Passagen in der Bibel, nĂ€mlich zu Apostelgeschichte 16,9 f. (WA 15, 619–622), Genesis 40 (WA 24, 640–644); Genesis 28 ( Der Traum mit der Jakobsleiter; WA 43, 591–594) und Genesis 37 (die TrĂ€ume Josephs; WA 44, 246–251), finden sich lĂ€ngere AusfĂŒhrungen Luthers zum Thema Traum. Auch sie sind von der generellen Skepsis des Reformators gegenĂŒber dem Traum geprĂ€gt. Kritik wird an Jakob nicht wegen seines Betrugsverhaltens, an Joseph nicht wegen seines Hochmutes geĂŒbt; es geht um die fehlende VerlĂ€sslichkeit eines Traumes.

Wie in AnsĂ€tzen bereits Johannes Chrysostomus (Homiliae in Matthaeum 4,5, PG 57, 45) ordnet Luther den Traum ein in eine dreifach gestufte Hierarchie dessen, wie sich Gott mitteilen kann: durch Weissagung, durch Vision und durch TrĂ€ume (WA 29, 375,31–376,15; 42, 555,18–40; 44, 247,8–13). Weissagung ergeht in klaren Worten; Visionen bedĂŒrfen der Deutung; TrĂ€ume bedĂŒrfen darĂŒber hinaus der KlĂ€rung ihrer Herkunft. Anlass zu dieser dreifachen Stufung geben Numeri 12,6 ("Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, der Herr, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in TrĂ€umen") und Joel 3,1 ("Und nach diesem will ich meinem Geist ausgießen ĂŒber alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen TrĂ€ume haben, und eure JĂŒnglinge sollen Gesichte sehen"). Allerdings hĂ€lt Luther auch in der Auslegung der genannten traumbejahenden Passagen fest, dass TrĂ€ume auch vom Teufel stammen können; er kann nicht nur falsche, sondern auch wahre TrĂ€ume schicken, d.h. TrĂ€ume, die in ErfĂŒllung gehen (WA 44, 247,25–248,24; die in antiker römischer Literatur erwĂ€hnten TrĂ€ume [Luther kommt auf Hannibals Traum bei Livius, 21,22 zu sprechen] sind vom Teufel geschickt). Deshalb enthĂ€lt die Bibel neben den traumbejahenden auch traumkritische Passagen wie Deuteronomium 13,2–6; Sirach 34; Kohelet 5,6 etc.

Wie soll der Mensch entscheiden, ob ein Traum von Gott oder vom Teufel stammt? Luther gibt zwei Antworten: (1) Die von Gott gesandten TrĂ€ume werden von Gott selbst gedeutet, wĂ€hrend bei den vom Teufel gesandten TrĂ€umen keine Deutung mitgegeben wird (WA 44, 249,15–23). (2) Ob TrĂ€ume von Gott oder von dem Teufel kommen, kann man nicht lehren, sondern muss man auf der Basis von Erfahrung erkennen, nĂ€mlich, dass man des Glaubens des Evangeliums gewiss ist (WA 15, 620,18–22). Die TrĂ€ume also sind nach der analogia fidei ("Analogie des Glaubens"; WA 29, 375,31–376,15; 44, 247,18 f.) zu beurteilen, d.h. ob sie "dem Glauben Ă€hnlich" (WA 15, 620,25), d.h. mit dem Wort der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen sind oder nicht (WA 43, 593,26; 44, 251,36–41). Das aber ist Werk des Heiligen Geistes. So kann Paulus den Traum, in dem ihn der Mann aus Makedonien zur Überfahrt nach Europa auffordert (Apostelgeschichte 16,9f.) im Heiligen Geist deuten und ihm Folge leisten, weil die Bitte des Mannes seinem generellen Auftrag, das Evangelium zu predigen, durchaus entsprach (WA 15, 621,29–35).

Bei der Behandlung von Gen 40,16 (der oberste BĂ€cker fĂŒhlt sich durch Josephs Gutes verheißende Deutung des Traums des Obermundschenks dazu veranlasst, auch seinen Traum zu erzĂ€hlen, den Josef dann aber als Hinweis auf seine bevorstehende Hinrichtung deutet) findet Luther zu einer Exegese, die geradezu rezeptionsĂ€sthetische Fragestellungen vorwegnimmt. Die genannte Stelle gibt Luther Anlass zur Frage: Warum steht das in der Bibel? Luthers Antwort: "Eben darum, dass man auf TrĂ€ume nicht baue" (WA 24, 641,26 f.; Orthographie modernisiert). Die Regel Gen 40,8 "Auslegen ist allein Sache Gottes" heißt fĂŒr Luther: Wem Gott einen Traum gibt, dem gibt er auch den Verstand, ihn zu deuten (WA 24, 641,34–642,5). Man soll nicht auf TrĂ€ume achten, d.h. sich nicht anmaßen, sie richtig auszulegen; die TrĂ€ume, die Gott geschickt hat, wird er selbst auslegen (WA 24, 642,32–34).

Nicht sehr hĂ€ufig werden positive TraumerzĂ€hlungen ohne weitere Vorbehalte ausgelegt. Als ein Beispiel seien die beiden TrĂ€ume des jugendlichen Joseph nach Genesis 37 genannt. Sie bedeuten nach allegorischer Auslegung den Verweis der Patriarchen und Propheten auf Christus und das Neue Testament (WA 24, 616,28–32); nach wörtlicher Auslegung weisen sie auf die kommende Karriere in Ägypten voraus, wo seine BrĂŒder ihn tatsĂ€chlich um Quartier bitten mĂŒssen, aber sie erfĂŒllen sich nicht geradewegs; dass sie sich erfĂŒllen werden, ist zunĂ€chst nicht am Schicksal ablesbar (WA 24, 682,16–18).

Biographische Voraussetzungen bei Luther

Wie kommt es zu dieser traumkritischen Haltung bei Luther? Im Sinne einer BegrĂŒndung in Luthers Biographie hat Ulman Weiß darauf verwiesen, dass Luther das Erlebnis in Stotternheim, das ihn zu dem Entschluss gefĂŒhrt hat, ein Mönch zu werden, in spĂ€terer Zeit durch sein eigenes Verhalten (er trat aus dem Kloster aus und heiratete) faktisch als Blendwerk interpretiert habe (Weiß 2008, 229). So gewiss Luther die auch von ihm wĂ€hrend seiner Klosterzeit vertretene Meinung, dass bestimmte kirchliche Zeremonien den Menschen nĂ€her zu Gott bringen, als Traum charakterisieren kann (WA 24, 562,21), so selten bringt Luther seine kritische Haltung zum Thema Traum unmittelbar mit der Korrektur des genannten Erlebnisses in Verbindung.

Abschließend lĂ€sst sich zu Martin Luther sagen: Innerhalb des voraufklĂ€rerischen Weltbildes, das Luther fraglos teilt, gelangt er zu einer Position grĂ¶ĂŸter Kritik, wie sie bei Anerkennung der auch historischen Irrtumslosigkeit der Bibel ĂŒberhaupt möglich ist. Das Ergebnis ist vor allem durch Vergleich biblischer traumkritischer wie traumbejahender Passagen gewonnen; ein Urteil jenseits eines bloßen Erfahrungswissens, das unabhĂ€ngig von den biblischen Texten her erfolgt, lĂ€sst sich bei Luther nicht belegen.

Martin Meiser

Ausgaben, PrimÀr- und Forschungsliteratur

  • Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von J.K.F. Knaake u.a. Bd. 1–58, Weimar: Böhlau 1883–2009; zitiert als WA mit Angabe von Band, Seite und Zeile.


  • Platon: Werke. 8 Bde. Griech.-dt. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 5: Phaidros. Parmenides. Briefe. Bearbeitet von Dietrich Kurz. 1983.
  • Cicero: Über die Wahrsagung / De divinatione. Lat.-dt. Hg., ĂŒbers. und erl. von Christoph SchĂ€ublin. MĂŒnchen: Artemis und Winkler 1991.
  • Macrobius: Commentaire au Somne de Scipion, Tome I. Livre I. Hg., ĂŒbers. u. komm. von Mireille Armisen-Marchetti. Paris : Les belles lettres 2001, 2. Aufl. 2003.
  • Clemens von Alexandria: Paedagogus. Hg. von Otto StĂ€hlin, 3. Aufl. Hg. v. Ursula Treu (Griechische Christliche Schriftsteller 12). Berlin: Akademie 1972, 87–292.
  • Johannes Chrysostomus: Homiliae in Matthaeum; Patrologiae Cursus Completus (Series Graeca, Vol. 57). Paris: J.P. Migne 1862.


  • Alt, Peter-AndrĂ©: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, MĂŒnchen: Beck 2002.
  • Bernhardt, Oliver: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der FrĂŒhen Neuzeit bis zur Gegenwart, WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2016.
  • Gantet, Claire: Der Traum in der frĂŒhen Neuzeit. AnsĂ€tze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin, New York: de Gruyter 2010.
  • Weiß, Ulman:, Traumglaube und Traumkritik im Ă€lteren deutschen Luthertum. Eine Skizze. In: Peer Schmidt / Gregor Weber (Hg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutung sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock. Berlin: Akademie 2008, 227–256.


Anmerkungen

  1. ↑ Oliver Bernhardt: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der FrĂŒhen Neuzeit bis zur Gegenwart, WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2016, 33 mit Anm. 45


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Meiser, Martin: Martin Luther: Traumtheorie. In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/Martin_Luther:_Traumtheorie.