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Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/Fähnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurück (ebd., 328). Einerseits schließt das erste ''Manifeste du surréalisme'' partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surréalisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
 
Die Gattung des Manifests war etwa ab 1910 bis in die 1930er Jahre hinein ein beliebtes Medium der Avantgarde und vermittelte u.a. deren kritische Haltung zum akademischen Kunst- und Bildbegriff (Asholt/Fähnders 2005, XV). In der letzten Dekade ging jedoch die Menge dieser Publikationen zurück (ebd., 328). Einerseits schließt das erste ''Manifeste du surréalisme'' partiell an Traditionen der Textgattung aus dem 19. Jahrhundert an (z.B. durch die lexikalische Definition des Begriffs 'surréalisme'), andererseits steht es durch Gliederung und Darstellungsweise den Konventionen entgegen. Diese Abweichung von der Norm vollzieht sich aber, bis auf wenige Stellen, eher auf einer inhaltlichen Ebene und in Bezug auf die Darlegung einer anderen Weltansicht (ebd., XVI–XX).
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Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen André Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich später einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''écriture automatique''(Schneede 2006, 19; 23–27; 42–44).<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, -zeichen und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die Künstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de Lautrémont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie bei Pierre Janet (1859–1947) ab 1889 (Hadda 2019, 17 f.).</ref> Obwohl sich 1924 schon bildende Künstler, wie Max Ernst (1891–1976), im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/Fähnders 2005, 327). Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nämlich die Surrealisten das Bürgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung für das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergänzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).  
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Die Veröffentlichung der theoretischen Überlegungen André Bretons im ersten Manifest ereignet sich in einer Phase, in der sich die Gruppe vom Dadaismus distanziert und ist zeitlich später einzuordnen als die Auseinandersetzung mit der ''écriture automatique'' (Schneede 2006, 19; 23–27; 42–44).<ref> Dabei handelt es sich um eine Ausdrucksform, die Satzstrukturen, -zeichen und inhaltliche Logiken negiert. Die Methode steht im Zusammenhang mit dem Ansatz des sogenannten ''psychischen Automatismus''. Die Künstler*innen sollen hierbei die Vernunft ausschalten, damit die Gedanken bzw. Imaginationen unmittelbar und ungehindert fließen können. Somit sollte Potenzial aus dem Unbewussten geschöpft werden. Anwendungen der Methode existieren jedoch bereits im 19. Jahrhundert - in der Literatur in ''Les Chants de Maldoror'' des Comte de Lautrémont (1846–1870) von 1869, in der Psychotherapie bei Pierre Janet (1859–1947) ab 1889 (Hadda 2019, 17 f.).</ref> Obwohl sich 1924 schon bildende Künstler, wie Max Ernst (1891–1976), im Personenkreis um Breton versammelten und surrealistische Gestaltungsmethoden entwickelten, bezieht sich das erste Manifest nur auf die literarische Bewegung (Schneede 2006, 42–44) und setzt sich zudem mit Gesellschaftsfragen auseinander (Asholt/Fähnders 2005, 327). Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges betrachteten nämlich die Surrealisten das Bürgertum kritisch und sahen es in der Verantwortung für das Geschehene (Schneede 2006, 19). Ein zweites surrealistisches Manifest Bretons erschien 1930 und wurde 1946 mit einem Vorwort des Autors ergänzt und erneut aufgelegt (MS 61–65; MSd 45–49).  
    
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, Realität und traumtheoretische Bezüge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese Verknüpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche Einschübe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachträgliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprünglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche Rückbezüge hergestellt werden (Bürger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen Ausführungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht über, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). An dieser Stelle werden durch die geschilderte Technik die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur deutlich, die für die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
 
In den nachfolgenden Kapiteln wird Bretons Argumentationskette behandelt, deren Teilaspekte (Imagination, Freiheit, Traum, Realität und traumtheoretische Bezüge) teilweise recht vage miteinander verwoben sind. Diese Verknüpfungen herzustellen, obliegt zumeist den Lesenden. Bretons Argumentation wird zudem durch gedankliche Einschübe öfters unterbrochen. Dadurch ergeben sich entweder nachträgliche Bedeutungserweiterungen von Begrifflichkeiten, die nicht immer im ursprünglichen Sinnkontext auftreten, oder es können erst im Laufe des Lesens inhaltliche Rückbezüge hergestellt werden (Bürger 1994, 63). Diese Fragmentierung der Argumentation innerhalb der Schrift kann in einem Zusammenhang mit der surrealistischen Ästhetik und den dadurch ausgelösten Assoziationen von Betrachtenden bzw. Lesenden gesehen werden; Breton verweist beispielsweise in seinen Ausführungen auch auf Collagen von Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) und geht anschließend zu einem experimentellen Gedicht über, das aus ausgeschnitten Zeitungstiteln zusammengesetzt wurde (MS 53–56; MSd 38–40). An dieser Stelle werden durch die geschilderte Technik die Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst und Literatur deutlich, die für die Gruppe der Surrealisten in Paris essenziell war.
      
==Imagination und Freiheit==
 
==Imagination und Freiheit==
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