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Nach Abschluss dieser Traumbeschreibung erläutert Benjamin schließlich in seinem Brief an Gretel Adorno: „Nachdem ich diesen Traum gehabt hatte, konnte ich stundenlang nicht wieder einschlafen. Nämlich vor Glück. Ich schreibe Dir, um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen“ (T 66).
 
Nach Abschluss dieser Traumbeschreibung erläutert Benjamin schließlich in seinem Brief an Gretel Adorno: „Nachdem ich diesen Traum gehabt hatte, konnte ich stundenlang nicht wieder einschlafen. Nämlich vor Glück. Ich schreibe Dir, um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen“ (T 66).
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Benjamin erklärt zu Beginn der Traumaufzeichnung, dass der Traum „um das Motiv des Lesens“ kreise. Zudem ist bezüglich der Situation, in der er diesen Traum notierte, festzuhalten, dass er sich zu dieser Zeit nicht nur im französischen Exil, sondern auch mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem französischen Internierungslager, dem Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles im Département Niévre, befand (Derrida 2002) und plante, bei der nächstmöglichen Gelegenheit in die USA zu flüchten (Lindner, T 149). Im Traum begegnet dem Traum-Ich eine alte, von ihm selbst erstellte Handschrift. Diese kann er im Traum zweimal, d. h. in zwei verschiedenen Situationen, erkennen, nämlich als „ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff“, das von einer Dame „graphologisch“ studiert wird, sowie als Betttuch, das sichtbar wird, als eine in einem Bett liegende, „sehr schöne“ Frau ihre Bettdecke kurzzeitig anhebt (Lindner, T 150). Bezüglich der Textinhalte des Manuskriptes, welches das Traum-Ich zu sehen bekommt, kann es nur ein einziges Zeichen (Lindner, T 150), nämlich das „obere Ende des Buchstabens „d“. erkennen, an dem ein kleines blaugesäumtes und sich im Wind blähendes Segel angebracht ist. Lindner stellt fest, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstzitat Benjamins handelt: „Mehrere der erkenntnistheoretischen Notate aus der Passagenarbeit zum Begriff der „Rettung“ kreisen um die Metapher vom „Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs“. Der in einer fast ausweglosen Extremsituation Denkende will diesen Wind nutzen. ‚Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.‘ ([GS] V, 591)“ (Lindner, T 150). Vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Selbstzitates ergebe sich Benjamins am Ende des Traums und nach dem Aufwachen empfundenes Glück also aus der Hoffnung auf Rettung aus seiner ausweglosen Situation, dem Hinweis im Traum, dass sich seine Segel mit Wind füllen und ihm ein Ausweg in Aussicht gestellt wird.
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Benjamins erklärt zu Beginn der Traumaufzeichnung, dass der Traum „um das Motiv des Lesens“ kreise. Zudem ist bezüglich der Situation, in der er diesen Traum notierte, festzuhalten, dass er sich zu dieser Zeit nicht nur im französischen Exil, sondern auch mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem französischen Internierungslager, dem Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles im Département Niévre, befand (Derrida 2002) und plante, bei der nächstmöglichen Gelegenheit in die USA zu flüchten (Lindner, T 149). Im Traum begegnet dem Traum-Ich eine alte, von ihm selbst erstellte Handschrift. Diese kann er im Traum zweimal, d. h. in zwei verschiedenen Situationen, erkennen, nämlich als „ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff“, das von einer Dame „graphologisch“ studiert wird, sowie als Betttuch, das sichtbar wird, als eine in einem Bett liegende, „sehr schöne“ Frau ihre Bettdecke kurzzeitig anhebt (Lindner, T 150). Bezüglich der Textinhalte des Manuskriptes, welches das Traum-Ich zu sehen bekommt, kann es nur ein einziges Zeichen (Lindner, T 150), nämlich das „obere Ende des Buchstabens ,d'". erkennen, an dem ein kleines blaugesäumtes und sich im Wind blähendes Segel angebracht ist. Lindner stellt fest, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstzitat Benjamins handelt: „Mehrere der erkenntnistheoretischen Notate aus der Passagenarbeit zum Begriff der „Rettung“ kreisen um die Metapher vom „Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs“. Der in einer fast ausweglosen Extremsituation Denkende will diesen Wind nutzen. ‚Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.‘ ([GS] V, 591)“ (Lindner, T 150). Vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Selbstzitates ergebe sich Benjamins am Ende des Traums und nach dem Aufwachen empfundenes Glück also aus der Hoffnung auf Rettung aus seiner ausweglosen Situation, dem Hinweis im Traum, dass sich seine Segel mit Wind füllen und ihm ein Ausweg in Aussicht gestellt wird.
    
Eine andere mögliche Lesart des Traumes beziehungsweise einen anderen, etwas weniger hoffnungsvollen Interpretationsansatz stellte Jacques Derrida vor, in dessen Rahmen insbesondere die Mehrdeutigkeit des Begriffs „fichu“ eine zentrale Rolle spielt. In seiner Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, den Derrida am 22. September 2001 in Frankfurt erhielt (Derrida 2002), konzentrierte sich Derrida insbesondere auf den von Benjamin in französischer Sprache geäußerten Satz: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Derrida erläutert darin, dass „le fichu“ zwar in seiner „augenfälligsten Bedeutung“ den „Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag“, bezeichnet, das Adjektiv „fichu“ hingegen „das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist“ bedeuten kann. Derrida spekuliert in der beschriebenen Traumsituation, in der Benjamin lediglich den oberen Teil des Buchstabens „d“ erkennen kann, welcher „mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen“ war und vom Wind erfasst wurde, über eine andere Selbstreferenzierung Benjamins, der persönliche Briefe häufig mit seinem mit dem Buchstaben „d“ beginnenden und von ihm in verschiedenen Kontexten verwendeten Pseudonym „Detlef“ signierte. „Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“, ganz im Sinne einer geträumten „poetische[n] und vorausdeutende[n] Hieroglyphe“ (Derrida 2002). Der ungewöhnliche Umstand, dass Benjamin darauf bestand, den Traum in französischer Sprache aufzuschreiben, unterstützt Derridas Lesart zwar, da diese Interpretation nur ohne eine Übersetzung des zentralen und in französischer Sprache mehrdeutigen Wortes „fichu“ tatsächlich zugänglich ist, wie Derrida selbst argumentiert (Derrida 2002). Allerdings steht diese Auslegung inhaltlich dem von Benjamin geäußerten Glückgefühl zumindest teilweise entgegen. Dies wäre wiederum aber nicht der Fall, wenn Benjamin sein Glück allein aus der geheimnisvollen Vielschichtigkeit dieses spannenden Traumes gezogen und er den wenig hoffnungsvollen prognostischen Inhalt ignoriert hätte. Beide Auslegungen erscheinen zumindest plausibel und vor dem Hintergrund, dass neben anderen angebotenen Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutig zu favorisierende Interpretation hervorsticht, bleibt diese Traumaufzeichnung, wie so oft bei Benjamin, ein faszinierendes, ambivalentes und schillerndes Gebilde, das verschiedene mögliche Zugänge anbieten kann und sich der Eindeutigkeit entzieht.
 
Eine andere mögliche Lesart des Traumes beziehungsweise einen anderen, etwas weniger hoffnungsvollen Interpretationsansatz stellte Jacques Derrida vor, in dessen Rahmen insbesondere die Mehrdeutigkeit des Begriffs „fichu“ eine zentrale Rolle spielt. In seiner Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, den Derrida am 22. September 2001 in Frankfurt erhielt (Derrida 2002), konzentrierte sich Derrida insbesondere auf den von Benjamin in französischer Sprache geäußerten Satz: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Derrida erläutert darin, dass „le fichu“ zwar in seiner „augenfälligsten Bedeutung“ den „Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag“, bezeichnet, das Adjektiv „fichu“ hingegen „das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist“ bedeuten kann. Derrida spekuliert in der beschriebenen Traumsituation, in der Benjamin lediglich den oberen Teil des Buchstabens „d“ erkennen kann, welcher „mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen“ war und vom Wind erfasst wurde, über eine andere Selbstreferenzierung Benjamins, der persönliche Briefe häufig mit seinem mit dem Buchstaben „d“ beginnenden und von ihm in verschiedenen Kontexten verwendeten Pseudonym „Detlef“ signierte. „Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“, ganz im Sinne einer geträumten „poetische[n] und vorausdeutende[n] Hieroglyphe“ (Derrida 2002). Der ungewöhnliche Umstand, dass Benjamin darauf bestand, den Traum in französischer Sprache aufzuschreiben, unterstützt Derridas Lesart zwar, da diese Interpretation nur ohne eine Übersetzung des zentralen und in französischer Sprache mehrdeutigen Wortes „fichu“ tatsächlich zugänglich ist, wie Derrida selbst argumentiert (Derrida 2002). Allerdings steht diese Auslegung inhaltlich dem von Benjamin geäußerten Glückgefühl zumindest teilweise entgegen. Dies wäre wiederum aber nicht der Fall, wenn Benjamin sein Glück allein aus der geheimnisvollen Vielschichtigkeit dieses spannenden Traumes gezogen und er den wenig hoffnungsvollen prognostischen Inhalt ignoriert hätte. Beide Auslegungen erscheinen zumindest plausibel und vor dem Hintergrund, dass neben anderen angebotenen Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutig zu favorisierende Interpretation hervorsticht, bleibt diese Traumaufzeichnung, wie so oft bei Benjamin, ein faszinierendes, ambivalentes und schillerndes Gebilde, das verschiedene mögliche Zugänge anbieten kann und sich der Eindeutigkeit entzieht.