"'Hay que caminar' sognando" (Luigi Nono): Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 36: Zeile 36:
Dem Gehen oder Wandern aus dem Zitat der Mauerinschrift, das im Stück in verschiedener Hinsicht umgesetzt wird, stellt der Titel als zweites Verb das ''Träumen'' an die Seite. Da ''„Hay que caminar“ sognando'' allerdings keinen Text vertont und auch kein Paratext Nonos vorliegt, der diesen Bezug explizit präzisieren würde, stellt sich die Frage, wie eine traumthematische Interpretation des Stücks ansetzen kann: Offen bleibt nicht nur, ob ein Tag- oder ein Nachttraum gemeint ist, sondern auch, ''wer'' im Stück eigentlich träumend handelt oder handeln soll. Zudem lassen die Kombination zweier Sprachen sowie die Anführungszeichen auch verschiedene Deutungen des Titels zu: So kann sich der Zusatz ''träumend'' sowohl auf die Handlung des Gehens oder Wanderns beziehen („Man muss träumend wandern“) als auch auf das spanischsprachige Zitat ''als solches'' („Man muss wandern“, träumend).
Dem Gehen oder Wandern aus dem Zitat der Mauerinschrift, das im Stück in verschiedener Hinsicht umgesetzt wird, stellt der Titel als zweites Verb das ''Träumen'' an die Seite. Da ''„Hay que caminar“ sognando'' allerdings keinen Text vertont und auch kein Paratext Nonos vorliegt, der diesen Bezug explizit präzisieren würde, stellt sich die Frage, wie eine traumthematische Interpretation des Stücks ansetzen kann: Offen bleibt nicht nur, ob ein Tag- oder ein Nachttraum gemeint ist, sondern auch, ''wer'' im Stück eigentlich träumend handelt oder handeln soll. Zudem lassen die Kombination zweier Sprachen sowie die Anführungszeichen auch verschiedene Deutungen des Titels zu: So kann sich der Zusatz ''träumend'' sowohl auf die Handlung des Gehens oder Wanderns beziehen („Man muss träumend wandern“) als auch auf das spanischsprachige Zitat ''als solches'' („Man muss wandern“, träumend).


Je nach Perspektive sind verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden, in denen auch der Status des Träumens und der Bezug zur Wachwirklichkeit changieren: Georg Friedrich Haas nennt die oben erwähnten Werke ''1° Caminantes ... Ayacucho'' und ''2° No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij'' als Kontexte für das Violinduo und schreibt, dass „das Attribut ‚soñando‘ nicht nur als privates Träumen, sondern als Ausdruck, als Formulierung einer auch gesellschaftlichen Utopie verstanden werden“ müsse (Haas 1991, 325 f.). Diese ''utopische'' Dimension liegt auch deshalb nahe, weil der Titel des zuvor komponierten ''La lontananza nostalgica utopica futura'' sie explizit aufruft. So gelesen bezieht sich die Beschreibung ''träumend'' weniger auf eine individuell gemachte Erfahrung als mehr auf politische Imagination. Für Jürg Stenzl verweist der Traumbezug im Titel auf ein jeweils ''Anderes'', nämlich eine „anders erfahrene Zeit und einen anders erfahrenen Raum“ (Stenzl 1991, 98). Nonos Hinweis auf das Träumen scheint in dieser Interpretation exemplarisch und gewissermaßen strukturell für einen Gegensatz zur Logik der Wachwirklichkeit zu stehen, der eine „Traumperspektive“ (Stenzl 1991, 99) einführt und dadurch Realitäten relativiert. Konkret interpretiert Stenzl das je Andere unter Bezug auf Nonos Rezeption von Walter Benjamins (1892-1940) Thesen ''Über den Begriff der Geschichte'' (1940); auch in dieser Interpretation steht die träumende Perspektive für „Utopie in einer Zeit, in welcher die großen Zukunftsentwürfe allesamt zusammengebrochen sind“ (Stenzl 1991, 99). Vom Träumen als einem Zustand „außerhalb jeder kausalen Folge von Vergangenheit und Zukunft“, in dem Utopien vorstellbar sind, spricht Impett (Impett 2019, 493; Übersetzung: HR).
Je nach Perspektive sind verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden, in denen auch der Status des Träumens und der Bezug zur Wachwirklichkeit changieren: Georg Friedrich Haas nennt die oben erwähnten Werke ''1° Caminantes ... Ayacucho'' und ''2° No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij'' als Kontexte für das Violinduo und schreibt, dass „das Attribut ‚soñando‘ nicht nur als privates Träumen, sondern als Ausdruck, als Formulierung einer auch gesellschaftlichen Utopie verstanden werden“ müsse (Haas 1991, 325 f.). Diese ''utopische'' Dimension liegt auch deshalb nahe, weil der Titel des zuvor komponierten ''La lontananza nostalgica utopica futura'' sie explizit aufruft. So gelesen bezieht sich die Beschreibung ''träumend'' weniger auf eine individuell gemachte Erfahrung als mehr auf politische Imagination. Für Jürg Stenzl verweist der Traumbezug im Titel auf ein jeweils ''Anderes'', nämlich eine „anders erfahrene Zeit und einen anders erfahrenen Raum“ (Stenzl 1991, 98). Nonos Hinweis auf das Träumen scheint in dieser Interpretation exemplarisch und gewissermaßen strukturell für einen Gegensatz zur Logik der Wachwirklichkeit zu stehen, der eine „Traumperspektive“ (Stenzl 1991, 99) einführt und dadurch Realitäten relativiert. Konkret interpretiert Stenzl das je Andere unter Bezug auf Nonos Rezeption von [["Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin)|Walter Benjamins]] (1892-1940) Thesen ''Über den Begriff der Geschichte'' (1940); auch in dieser Interpretation steht die träumende Perspektive für „Utopie in einer Zeit, in welcher die großen Zukunftsentwürfe allesamt zusammengebrochen sind“ (Stenzl 1991, 99). Vom Träumen als einem Zustand „außerhalb jeder kausalen Folge von Vergangenheit und Zukunft“, in dem Utopien vorstellbar sind, spricht Impett (Impett 2019, 493; Übersetzung: HR).


Das utopische Moment im Violinduo hat Stefan Drees ausgehend von seiner Analyse von ''La lontananza nostalgica utopica futura'' und seiner Interpretation dieses Stücks unter Rückgriff auf Benjamins Begriff des ''Eingedenkens'' (Drees 1998, 163–168) genauer bestimmt: Das Stück für Violine solo und Tonbänder, das Bruchstücke von historischem Material verarbeitet, werde in ''„Hay que caminar“ sognando'' selbst zum Material einer Komposition, die damit auch „Fragmente eines historisch exakt bestimmbaren Schaffensabschnitts Nonos“ (Drees 1998, 170) enthalte: „Durch eine Reihe von Modifikationsprozessen entsteht – gleichsam als Anwendung des in ''La lontananza'' formulierten, utopischen Konzepts – Musik als schrittweise Erarbeitung neuer Möglichkeiten aus alten Zusammenhängen“ (Drees 1998, 170). Was neben diesem utopischen Moment den ''Traum''-Bezug angeht, stellt Drees eine Verbindung der Traumerfahrung mit der Zeitorganisation von Nonos Komposition her: „In seiner unvorhersehbaren Abfolge von Brüchen, Fragmenten und Rätselbildern birgt der Traum ein vielschichtiges Bild der Realität; damit liefert er ein Charakteristikum, das auf die Aufhebung rationaler Zeitstrukturen in Nonos Musik verweist“ (Drees 1998, 169). Damit werden die gewissermaßen ‚formale Anlage‘ eines Traums und musikalisch komponierte Zeit verglichen: Wie die Anordnung der bruchstückhaften Klangereignisse in Nonos Musik zwar kompositorisch präzise ausgearbeitet ist, aber kaum voraushörbar erscheint, so ist auch eine geträumte Bilderfolge nicht im Vorhinein absehbar. In dieser Hinsicht erhellen sich die beiden im Werktitel verwendeten Verben gegenseitig: Der Traumbezug unterstreicht den Gedanken des Gehens, das den Weg erst entstehen lässt – während das Gehen ohne vorherbestimmten Weg auch eine mögliche Beschreibung einer Traumerfahrung darstellt. Dabei scheint das Gehen oder Wandern eher auf den räumlichen, das Träumen eher auf den zeitlichen Aspekt zu verweisen.
Das utopische Moment im Violinduo hat Stefan Drees ausgehend von seiner Analyse von ''La lontananza nostalgica utopica futura'' und seiner Interpretation dieses Stücks unter Rückgriff auf Benjamins Begriff des ''Eingedenkens'' (Drees 1998, 163–168) genauer bestimmt: Das Stück für Violine solo und Tonbänder, das Bruchstücke von historischem Material verarbeitet, werde in ''„Hay que caminar“ sognando'' selbst zum Material einer Komposition, die damit auch „Fragmente eines historisch exakt bestimmbaren Schaffensabschnitts Nonos“ (Drees 1998, 170) enthalte: „Durch eine Reihe von Modifikationsprozessen entsteht – gleichsam als Anwendung des in ''La lontananza'' formulierten, utopischen Konzepts – Musik als schrittweise Erarbeitung neuer Möglichkeiten aus alten Zusammenhängen“ (Drees 1998, 170). Was neben diesem utopischen Moment den ''Traum''-Bezug angeht, stellt Drees eine Verbindung der Traumerfahrung mit der Zeitorganisation von Nonos Komposition her: „In seiner unvorhersehbaren Abfolge von Brüchen, Fragmenten und Rätselbildern birgt der Traum ein vielschichtiges Bild der Realität; damit liefert er ein Charakteristikum, das auf die Aufhebung rationaler Zeitstrukturen in Nonos Musik verweist“ (Drees 1998, 169). Damit werden die gewissermaßen ‚formale Anlage‘ eines Traums und musikalisch komponierte Zeit verglichen: Wie die Anordnung der bruchstückhaften Klangereignisse in Nonos Musik zwar kompositorisch präzise ausgearbeitet ist, aber kaum voraushörbar erscheint, so ist auch eine geträumte Bilderfolge nicht im Vorhinein absehbar. In dieser Hinsicht erhellen sich die beiden im Werktitel verwendeten Verben gegenseitig: Der Traumbezug unterstreicht den Gedanken des Gehens, das den Weg erst entstehen lässt – während das Gehen ohne vorherbestimmten Weg auch eine mögliche Beschreibung einer Traumerfahrung darstellt. Dabei scheint das Gehen oder Wandern eher auf den räumlichen, das Träumen eher auf den zeitlichen Aspekt zu verweisen.