"Little Nemo in Slumberland" (Winsor McCay): Unterschied zwischen den Versionen

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==Das Strukturmuster der Reise und die Zerstörung der Traumwelt==
==Das Strukturmuster der Reise und die Zerstörung der Traumwelt==
Im Folgenden wird mit der [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Little_Nemo_1905-11-19.jpg Episode vom 19.11.1905] ein Beispiel analysiert, das dem Erzählschema 'Katastrophe mit Folgen' zuzuordnen ist. Anhand dieser frühen, in mehrfacher Hinsicht typischen Episode können zentrale Darstellungsprinzipien McCays verdeutlicht werden: das Prinzip der Metamorphose des Bekannten in das Unbekannte; das Motiv des Zusammenbruchs; der Zusammenhang zwischen Träumer und Traumwelt; die comicspezifische Nutzung des Layouts als Mittel des Erzählens der 'Traumreise'; die typischen affektiven Reaktionen des Träumers auf die Traumwelt im positiven wie im negativen Spektrum. Die Episode inszeniert den Übertritt in die Traumwelt als eine graduelle Metamorphose des Raums. In einer Exposition (Abb. 2) wird dem Lesepublikum die allgemeine Problematik der Passage ins Schlummerland ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig das spezielle Hindernis der aktuellen Folge etabliert: Unter Androhung von Strafe durch König Morpheus persönlich darf niemand der später eingeführten Figur Chrystalette etwas zuleide tun.
Im Folgenden wird mit der [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Little_Nemo_1905-11-19.jpg Episode vom 19.11.1905] ein Beispiel analysiert, das dem Erzählschema 'Katastrophe mit Folgen' zuzuordnen ist. Anhand dieser frühen, in mehrfacher Hinsicht typischen Episode können zentrale Darstellungsprinzipien McCays verdeutlicht werden: das Prinzip der Metamorphose des Bekannten in das Unbekannte; das Motiv des Zusammenbruchs; der Zusammenhang zwischen Träumer und Traumwelt; die comicspezifische Nutzung des Layouts als Mittel des Erzählens der 'Traumreise'; die typischen affektiven Reaktionen des Träumers auf die Traumwelt im positiven wie im negativen Spektrum. Die Episode inszeniert den Übertritt in die Traumwelt als eine graduelle Metamorphose des Raums. In einer Exposition (Abb. 2) wird dem Lesepublikum die allgemeine Problematik der Passage ins Schlummerland ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig das spezielle Hindernis der aktuellen Folge etabliert: Unter Androhung von Strafe durch König Morpheus persönlich darf niemand der später eingeführten Figur Chrystalette etwas zuleide tun.
[[Datei:Nemo_19.11.1905_1.Zeile.jpg|none|frame|Abb. 2]]
[[Datei:Nemo_19.11.1905_1.Zeile.jpg|none|frame|Abb. 2]]


Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.
Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.
[[Datei:Nemo_Abb._3.jpg|none|frame|Abb. 3]]
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Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen <ref>Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? In: Christine Ivanovic/Jürgen Lehmann/ Markus May (Hg.): Phantastik - Kult oder Kultur? Stuttgart, Weimar 2003, S. 153-169; hier S. 154.</ref>: Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet <ref>Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine and Trakl). In: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hg.): Writing the Dream / Ècrire le rève. Würzburg 2016, S. 19-44; hier S. 21.</ref>. So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt jedoch schon nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.
Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen (Engel 2003, S. 154): Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird also nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet (Engel 2016, 21). So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.
In der zweiten Zeile (Abb. 4) wird der räumlichen Metamorphose der Alltags- in die Traumwelt eine andere Form von Metamorphose an die Seite gestellt. Nemos Haltung wandelt sich von Erstaunen über die wunderbare und schöne Welt, das noch im ersten Panel deutlich auf seinem Gesicht zu erkennen ist, in zielgerichtete Begierde, die nun tatsächlich sprachlos ist. Der Erzähltext erläutert das zentrale Dilemma der Folge, das auch bereits den Kern der 'Katastrophe' in sich trägt: "When he was introduced to Chrystalette, he fell desperately in love with her but he must not touch her as she was oh! the most fragile of beauties known to exist". Mit der Figur der begehrenswerten Königin ist somit der zweite, schwerwiegendere Verführungs-Faktor etabliert. Sobald Chrystalette auftritt, ist Nemos Körperhaltung ganz auf sie ausgerichtet, im letzten Panel kippt er sogar auf sie zu und wird nur von den Bediensteten der Königin zurückgehalten.
 
In der zweiten Zeile (Abb. 4) wird der räumlichen Metamorphose der Alltags- in die Traumwelt eine andere Form von Metamorphose an die Seite gestellt. Nemos Haltung wandelt sich von Erstaunen über die wunderbare und schöne Welt, das noch im ersten Panel deutlich auf seinem Gesicht erkennbar war, in zielgerichtete Begierde, die nun tatsächlich sprachlos ist. Der Erzähltext erläutert das zentrale Dilemma der Folge, das auch bereits den Kern der 'Katastrophe' in sich trägt: "When he was introduced to Chrystalette, he fell desperately in love with her but he must not touch her as she was oh! the most fragile of beauties known to exist". Mit der Figur der begehrenswerten Königin ist somit der zweite, schwerwiegendere Verführungs-Faktor etabliert. Sobald Chrystalette auftritt, ist Nemos Körperhaltung ganz auf sie ausgerichtet; im letzten Panel kippt er sogar auf sie zu und wird nur von den Bediensteten der Königin zurückgehalten.
[[Datei:Nemo_Abb._4.jpg|none|frame|Abb. 4]]
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Mit dieser Bewegung Nemos wird auch das 'Kippen' der Handlung markiert, das Umschlagen des wunderbaren Traums in einen Albtraum. In den zwei größten Panels der Seite inszeniert McCay den Moment der Bedrohung und die befürchtete Überschreitung des Berührungsverbots als 'fruchtbare Augenblicke' im Sinne Lessings <ref>Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. V,2: Werke 1766–1769. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990, S. 11–206.</ref> in einer Kette der Zerstörung. Dabei wird die Phase der Bedrohung, die hier nur in einem Panel gezeigt wird, durch die iterative Beschreibung im Erzähltext gewissermaßen verlängert: "Although cautioned repeatedly that Chrystalette as well as themselves, were of glass and would break easily, Nemo insisted on making trouble". Während Nemo sich im siebten Panel noch außerhalb des Rahmens befindet, den die Gefolgsleute um ihre Königin bilden, hat er diesen im nächsten Panel (Abb. 5) überschritten und ist ins Bildzentrum vorgedrungen.
Mit dieser Bewegung Nemos wird auch das 'Kippen' der Handlung markiert, das Umschlagen des wunderbaren Traums in einen Albtraum. In den zwei größten Panels der Seite inszeniert McCay den Moment der Bedrohung und die befürchtete Überschreitung des Berührungsverbots als 'fruchtbare Augenblicke' im Sinne Lessings <ref>Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. V,2: Werke 1766–1769. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt/M.: Dt. Klassiker Verlag 1990, 11–206.</ref> in einer Kette der Zerstörung. Dabei wird die Phase der Bedrohung, die hier nur in einem Panel gezeigt wird, durch die iterative Beschreibung im Erzähltext gewissermaßen verlängert: "Although cautioned repeatedly that Chrystalette as well as themselves, were of glass and would break easily, Nemo insisted on making trouble". Während Nemo sich im siebten Panel noch außerhalb des Rahmens befindet, den die Gefolgsleute um ihre Königin bilden, hat er diesen im nächsten Panel (Abb. 5) überschritten und ist ins Bildzentrum vorgedrungen.
 
[[Datei:Nemo_Abb._5.jpg|none|frame|Abb. 5]]
[[Datei:Nemo_Abb._5.jpg|none|frame|Abb. 5]]


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