"Little Nemo in Slumberland" (Winsor McCay): Unterschied zwischen den Versionen
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"Little Nemo in Slumberland" (Winsor McCay) (Quelltext anzeigen)
Version vom 20. Januar 2018, 20:32 Uhr
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In der zweiten Zeile (Abb. 4) wird der räumlichen Metamorphose der Alltags- in die Traumwelt eine andere Form von Metamorphose an die Seite gestellt. Nemos Haltung wandelt sich von Erstaunen über die wunderbare und schöne Welt, das noch im ersten Panel deutlich auf seinem Gesicht erkennbar war, in zielgerichtete Begierde, die nun tatsächlich sprachlos ist. Der Erzähltext erläutert das zentrale Dilemma der Folge, das auch bereits den Kern der 'Katastrophe' in sich trägt: "When he was introduced to Chrystalette, he fell desperately in love with her but he must not touch her as she was oh! the most fragile of beauties known to exist". Mit der Figur der begehrenswerten Königin ist somit der zweite, schwerwiegendere Verführungs-Faktor etabliert. Sobald Chrystalette auftritt, ist Nemos Körperhaltung ganz auf sie ausgerichtet; im letzten Panel kippt er sogar auf sie zu und wird nur von den Bediensteten der Königin zurückgehalten. | In der zweiten Zeile (Abb. 4) wird der räumlichen Metamorphose der Alltags- in die Traumwelt eine andere Form von Metamorphose an die Seite gestellt. Nemos Haltung wandelt sich von Erstaunen über die wunderbare und schöne Welt, das noch im ersten Panel deutlich auf seinem Gesicht erkennbar war, in zielgerichtete Begierde, die nun tatsächlich sprachlos ist. Der Erzähltext erläutert das zentrale Dilemma der Folge, das auch bereits den Kern der 'Katastrophe' in sich trägt: "When he was introduced to Chrystalette, he fell desperately in love with her but he must not touch her as she was oh! the most fragile of beauties known to exist". Mit der Figur der begehrenswerten Königin ist somit der zweite, schwerwiegendere Verführungs-Faktor etabliert. Sobald Chrystalette auftritt, ist Nemos Körperhaltung ganz auf sie ausgerichtet; im letzten Panel kippt er sogar auf sie zu und wird nur von den Bediensteten der Königin zurückgehalten. | ||
[[Datei:Nemo_Abb._4.jpg| | [[Datei:Nemo_Abb._4.jpg|thumb|right|871x307px|'''Abb. 4''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]] | ||
Mit dieser Bewegung Nemos wird auch das 'Kippen' der Handlung markiert, das Umschlagen des wunderbaren Traums in einen Albtraum. In den zwei größten Panels der Seite inszeniert McCay den Moment der Bedrohung und die befürchtete Überschreitung des Berührungsverbots als 'fruchtbare Augenblicke' im Sinne Lessings <ref>Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. V,2: Werke 1766–1769. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt/M.: Dt. Klassiker-Verlag 1990, 11–206.</ref> in einer Kette der Zerstörung. Dabei wird die Phase der Bedrohung, die hier nur in einem Panel gezeigt wird, durch die iterative Beschreibung im Erzähltext gewissermaßen verlängert: "Although cautioned repeatedly that Chrystalette as well as themselves, were of glass and would break easily, Nemo insisted on making trouble". Während Nemo sich im siebten Panel noch außerhalb des Rahmens befindet, den die Gefolgsleute um ihre Königin bilden, hat er diesen im nächsten Panel (Abb. 5) überschritten und ist ins Bildzentrum vorgedrungen. | Mit dieser Bewegung Nemos wird auch das 'Kippen' der Handlung markiert, das Umschlagen des wunderbaren Traums in einen Albtraum. In den zwei größten Panels der Seite inszeniert McCay den Moment der Bedrohung und die befürchtete Überschreitung des Berührungsverbots als 'fruchtbare Augenblicke' im Sinne Lessings <ref>Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. V,2: Werke 1766–1769. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt/M.: Dt. Klassiker-Verlag 1990, 11–206.</ref> in einer Kette der Zerstörung. Dabei wird die Phase der Bedrohung, die hier nur in einem Panel gezeigt wird, durch die iterative Beschreibung im Erzähltext gewissermaßen verlängert: "Although cautioned repeatedly that Chrystalette as well as themselves, were of glass and would break easily, Nemo insisted on making trouble". Während Nemo sich im siebten Panel noch außerhalb des Rahmens befindet, den die Gefolgsleute um ihre Königin bilden, hat er diesen im nächsten Panel (Abb. 5) überschritten und ist ins Bildzentrum vorgedrungen. | ||
[[Datei:Nemo_Abb._5.jpg| | [[Datei:Nemo_Abb._5.jpg|thumb|right|871x299px|'''Abb. 5''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]] | ||
Der Sprung selbst wird nicht gezeigt, sondern nur erzählt: "Nemo, blind and deaf with infatuation leaped forward". Visualisiert wird stattdessen das verheerende Ergebnis der Überschreitung: Der kleine Junge hat die Königin gepackt und küsst sie mit theatralischer Leidenschaftsgeste auf den Mund, während sie bereits in ihre Einzelteile zerfällt wie die Automatenfrau Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Erzählung ''Der Sandmann''. | Der Sprung selbst wird nicht gezeigt, sondern nur erzählt: "Nemo, blind and deaf with infatuation leaped forward". Visualisiert wird stattdessen das verheerende Ergebnis der Überschreitung: Der kleine Junge hat die Königin gepackt und küsst sie mit theatralischer Leidenschaftsgeste auf den Mund, während sie bereits in ihre Einzelteile zerfällt wie die Automatenfrau Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Erzählung ''Der Sandmann''. | ||
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Während er bisher vor allem in einer Vorwärtsbewegung (also einer Bewegung in Leserichtung) gezeigt wurde, dreht sich Nemo nun zum Bildhintergrund und schließlich in die Richtung, aus der er gekommen ist Die Körperdrehung markiert hier wiederum einen Wendepunkt im Affekthaushalt der Figur: Waren vorher Staunen, Verwunderung und Neugier bestimmend als Motor der Vorwärtsbewegung, sind es nun Verwirrung, Trauer und Angst, die den Jungen zum Rückzug bewegen. Den Rückweg durch die Höhle (Abb. 6) legt er in sich steigerndem Tempo und mit zunehmender Furcht zurück: "Nemo, heartsick and frightened, made a wild dash for home, sadder but wiser than when he came. The faster he ran, the louder he yelled for his papa or mama or anybody who would come". | Während er bisher vor allem in einer Vorwärtsbewegung (also einer Bewegung in Leserichtung) gezeigt wurde, dreht sich Nemo nun zum Bildhintergrund und schließlich in die Richtung, aus der er gekommen ist Die Körperdrehung markiert hier wiederum einen Wendepunkt im Affekthaushalt der Figur: Waren vorher Staunen, Verwunderung und Neugier bestimmend als Motor der Vorwärtsbewegung, sind es nun Verwirrung, Trauer und Angst, die den Jungen zum Rückzug bewegen. Den Rückweg durch die Höhle (Abb. 6) legt er in sich steigerndem Tempo und mit zunehmender Furcht zurück: "Nemo, heartsick and frightened, made a wild dash for home, sadder but wiser than when he came. The faster he ran, the louder he yelled for his papa or mama or anybody who would come". | ||
[[Datei:Nemo_Abb._6.jpg| | [[Datei:Nemo_Abb._6.jpg|thumb|right|871x201px|'''Abb. 6''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]] | ||
Die Andeutung einer Lektion, die der Junge gelernt hat sowie das Rufen nach Eltern oder anderen verfügbaren Betreuungspersonen antizipiert schon die Sphäre der bürgerlichen Normalität, in der sich der Junge gleich wiederfinden wird. Die Reihung der immer extremeren Bewegungsdarstellungen wird im letzten Panel abrupt abgebrochen: Der Junge steht in Laufrichtung in seinem Bett, als hätte ihn der Weg aus der Traum-Höhle auch im räumlichen Sinne hierher geführt. In einer ''voice over''-Sprechblase kommentiert der Vater das unruhige Verhalten, das sein Sohn anscheinend während des Träumens an den Tag gelegt hat und führt dieses auf zu spätes Essen zurück: "There’s that boy again! I wish you wouldn’t let him eat turkey dressing at bed time, mama". Mit der Bemerkung, die als pädagogischer Kommentar auch dem Lesepublikum der 'ganzen Familie' Reverenz erweist, wird eine mögliche Ursache des Träumens als Symptom unruhigen und damit ungesunden Schlafs angesprochen, die auf die anhaltende Popularität der sogenannten Leibreiz-Theorie zurückzuführen ist, nach der ein voller Magen auch auf die Seele drückt und wilde Träume hervorruft (Alt 2002, 171 u. 309). | Die Andeutung einer Lektion, die der Junge gelernt hat sowie das Rufen nach Eltern oder anderen verfügbaren Betreuungspersonen antizipiert schon die Sphäre der bürgerlichen Normalität, in der sich der Junge gleich wiederfinden wird. Die Reihung der immer extremeren Bewegungsdarstellungen wird im letzten Panel abrupt abgebrochen: Der Junge steht in Laufrichtung in seinem Bett, als hätte ihn der Weg aus der Traum-Höhle auch im räumlichen Sinne hierher geführt. In einer ''voice over''-Sprechblase kommentiert der Vater das unruhige Verhalten, das sein Sohn anscheinend während des Träumens an den Tag gelegt hat und führt dieses auf zu spätes Essen zurück: "There’s that boy again! I wish you wouldn’t let him eat turkey dressing at bed time, mama". Mit der Bemerkung, die als pädagogischer Kommentar auch dem Lesepublikum der 'ganzen Familie' Reverenz erweist, wird eine mögliche Ursache des Träumens als Symptom unruhigen und damit ungesunden Schlafs angesprochen, die auf die anhaltende Popularität der sogenannten Leibreiz-Theorie zurückzuführen ist, nach der ein voller Magen auch auf die Seele drückt und wilde Träume hervorruft (Alt 2002, 171 u. 309). | ||
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Diese Folge von ''Little Nemo'' inszeniert Träumen als Reise in die Traumwelt, die hier allerdings vor Erreichen des Ziels abgebrochen wird. Für die Reise wird die Erzählstruktur von Weg und Rückweg aktiviert und in einem spiegelsymmetrischen Seitenaufbau vermittelt (Abb. 7): Eintritt in die Höhle und Flucht aus ihr werden in vier gleich großen Panels in der ersten und letzten Zeile erzählt, während die Herleitung der 'Katastrophe', ihr Eintreten und ihre unmittelbaren Folgen in den mittleren Zeilen in Panels von zunehmender und dann wieder abnehmender Größe dargestellt sind. | Diese Folge von ''Little Nemo'' inszeniert Träumen als Reise in die Traumwelt, die hier allerdings vor Erreichen des Ziels abgebrochen wird. Für die Reise wird die Erzählstruktur von Weg und Rückweg aktiviert und in einem spiegelsymmetrischen Seitenaufbau vermittelt (Abb. 7): Eintritt in die Höhle und Flucht aus ihr werden in vier gleich großen Panels in der ersten und letzten Zeile erzählt, während die Herleitung der 'Katastrophe', ihr Eintreten und ihre unmittelbaren Folgen in den mittleren Zeilen in Panels von zunehmender und dann wieder abnehmender Größe dargestellt sind. | ||
[[Datei:Nemo_Abb._7.jpg|thumb|right|871x1203px|'''Abb. 7''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905]] | [[Datei:Nemo_Abb._7.jpg|thumb|right|871x1203px|'''Abb. 7''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (gesamt).]] | ||
Auch die Entwicklung der Traumwelt unterliegt einer Dynamik von Zu- und Abnahme. Bis zum siebten Panel kommen jeweils neue Elemente der Traumwelt hinzu, die dann ab dem neunten Panel zurückgenommen werden. Das Seitenlayout ist somit nach Peeters als "produktiv" einzustufen, da die Handlungsstruktur aus dem visuellen Rhythmus der Panels abgeleitet wird (Peeters 1991, 42-44). Dabei beinhalten die größten Panels die Momente, in denen Nemo aktiv in die Traumhandlung eingreift (und so die Zerstörung der geträumten Welt herbeiführt). Er spricht allerdings nur in zweien der insgesamt 14 Panels der Haupthandlung, was für die frühen Little-Nemo-Strips nicht ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist indes, dass seine Redeanteile die Stellen des Eintritts in die und Wiederaustritts aus der Traumwelt markieren. Das erste und letzte Panel, die denselben Bildausschnitt zeigen, bilden eine visuelle Klammer, die die Struktur von Reise und Wiederkehr verstärkt, indem Nemo an exakt demselben Ort wieder 'ankommt', an dem seine Reise begonnen hat. Gleichzeitig dient das letzte Panel einer rückwirkenden Markierung des bisher Erzählten als Traum durch die die Szene des Erwachens als "Ur-Szene" der Traumdarstellung (Engel 2010, 157). | Auch die Entwicklung der Traumwelt unterliegt einer Dynamik von Zu- und Abnahme. Bis zum siebten Panel kommen jeweils neue Elemente der Traumwelt hinzu, die dann ab dem neunten Panel zurückgenommen werden. Das Seitenlayout ist somit nach Peeters als "produktiv" einzustufen, da die Handlungsstruktur aus dem visuellen Rhythmus der Panels abgeleitet wird (Peeters 1991, 42-44). Dabei beinhalten die größten Panels die Momente, in denen Nemo aktiv in die Traumhandlung eingreift (und so die Zerstörung der geträumten Welt herbeiführt). Er spricht allerdings nur in zweien der insgesamt 14 Panels der Haupthandlung, was für die frühen Little-Nemo-Strips nicht ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist indes, dass seine Redeanteile die Stellen des Eintritts in die und Wiederaustritts aus der Traumwelt markieren. Das erste und letzte Panel, die denselben Bildausschnitt zeigen, bilden eine visuelle Klammer, die die Struktur von Reise und Wiederkehr verstärkt, indem Nemo an exakt demselben Ort wieder 'ankommt', an dem seine Reise begonnen hat. Gleichzeitig dient das letzte Panel einer rückwirkenden Markierung des bisher Erzählten als Traum durch die die Szene des Erwachens als "Ur-Szene" der Traumdarstellung (Engel 2010, 157). |