"Oneirokritika" (Artemidor von Daldis): Unterschied zwischen den Versionen
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"Oneirokritika" (Artemidor von Daldis) (Quelltext anzeigen)
Version vom 8. Oktober 2019, 15:21 Uhr
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Artemidor, der Autor des einzigen aus der griechisch-römischen Antike erhaltenen Traumdeutungsbuches (Ὀνειροκριτικά, ''Oneirokritika)'', gehört zeitlich vermutlich an das Ende des 2. bzw. an den Beginn des 3. Jahrhundert, d. h. in die Zeit der römischen Kaiser Commodus und Septimius Severus; die frühere Forschung erachtete noch eine Datierung in die Mitte des 2. Jhs. als plausibel (Chandezon 2014, 12-17; Thonemann 2019, Kap. 2). Der Grund für diese Unsicherheit liegt darin, dass über Artemidor so gut wie nichts bekannt ist und fast alle Informationen seinem Werk zu entnehmen sind. Nach eigenen Angaben stammt er zwar aus der Metropole Ephesos in Kleinasien, identifizierte sich aber mit dem Geburtsort seiner Mutter, dem kleinen lydischen Landstädtchen Daldis (Weber 2015a, 11 f.), um dessen Ruhm durch die Prominenz seiner Person und seines Werkes zu mehren (Artem. 3,66,235,13-23, dazu Chandezon 2012, 17-19). Immerhin hatte der Gott Apollon, der in Daldis verehrt wurde, Artemidor nach eigener Aussage zur Abfassung der ''Oneirokritika'' bewogen. | Artemidor, der Autor des einzigen aus der griechisch-römischen Antike erhaltenen Traumdeutungsbuches (Ὀνειροκριτικά, ''Oneirokritika)'', gehört zeitlich vermutlich an das Ende des 2. bzw. an den Beginn des 3. Jahrhundert, d. h. in die Zeit der römischen Kaiser Commodus und Septimius Severus; die frühere Forschung erachtete noch eine Datierung in die Mitte des 2. Jhs. als plausibel (Chandezon 2014, 12-17; Thonemann 2019, Kap. 2). Der Grund für diese Unsicherheit liegt darin, dass über Artemidor so gut wie nichts bekannt ist und fast alle Informationen seinem Werk zu entnehmen sind. Nach eigenen Angaben stammt er zwar aus der Metropole Ephesos in Kleinasien, identifizierte sich aber mit dem Geburtsort seiner Mutter, dem kleinen lydischen Landstädtchen Daldis (Weber 2015a, 11 f.), um dessen Ruhm durch die Prominenz seiner Person und seines Werkes zu mehren (Artem. 3,66,235,13-23, dazu Chandezon 2012, 17-19). Immerhin hatte der Gott Apollon, der in Daldis verehrt wurde, Artemidor nach eigener Aussage zur Abfassung der ''Oneirokritika'' bewogen. | ||
Artemidor weist darauf hin, dass er jedes verfügbare Buch über Traumdeutung erworben habe | Artemidor weist darauf hin, dass er jedes verfügbare Buch über Traumdeutung erworben habe; außerdem sei er für seine Recherchen nicht zuletzt auch auf Festen und Jahrmärkten gewesen und nach Griechenland, Kleinasien, Rom und zu den Inseln in der Ägäis gereist (Artem. 1,prooem.,2,11-20 und 5,prooem.,301,10-15; dazu Harris-McCoy 2012, 413 f.). Dies war ihm freilich nur möglich, weil er dafür Zeit aufzuwenden vermochte und wohlhabend genug war, nicht arbeiten zu müssen und sich dies alles auch leisten zu können – nicht zuletzt seine Privatbibliothek, in der sich zweifellos umfangreiche Informationen für die Deutungen befanden. Artemidor als Mitglied der lokalen Oberschicht dürfte seinen Lebensmittelpunkt in der römischen Provinz Asia gehabt haben (Weber 2014), wenngleich sich keine expliziten Hinweise auf eine politische Betätigung, etwa in Ephesos oder Daldis, finden lassen. Denn eine Bronzemünze aus Daldis aus der Zeit des Caesars Geta (197-209 n. Chr.) mit einem Amtsträger namens Artemidor auf der Rückseite muss nicht zwingend auf unseren Autor zu beziehen sein (Weber 2015a, 11-13 mit Abb. 3a.b). In jedem Fall aber gehört Artemidor in eine Zeit, die in der Literaturgeschichte als Zweite Sophistik bezeichnet wird und der neben Galen auch Aelius Aristides, Lukian und Philostrat angehören, d. h. in eine Zeit, in der ein starkes Interesse an Träumen und ihrer Deutung zu verzeichnen ist. Ob er selbst freilich hier zuzuordnen ist, wird derzeit intensiv diskutiert, denn es werden in jüngster Zeit gewichtige Argumente angeführt (Thonemann 2019, Kap. 2 und 8), denen zufolge sich Artemidor in Stil, Rhetorik und Sprache doch auf einem anderen Niveau als die genannten Autoren bewegt. | ||
Neben den ''Oneirokritika'' werden Artemidor im byzantinischen ''Suda-Lexikon'' (α 4025) noch weitere Werke – alle aus dem Bereich der Divination, nämlich über Vogelschau (''Oionoskopika'') und über Handlesen (''Cheiroskopika''), beide nicht erhalten – zugeschrieben. In den ''Oneirokritika'' selbst (Artem. 1,1,3,10 und 3,66,235,15 f.) verweist Artemidor auf weitere eigene Werke, ohne sie jedoch konkret zu benennen; dass er ein kritisches Verhältnis zur divinatorischen Konkurrenz pflegt, verwundert nicht (du Bouchet 2016, 33-37). | |||
==Werk== | ==Werk== | ||
Die ''Oneirokritika'' bestehen aus fünf Büchern und | Die ''Oneirokritika'' bestehen aus fünf Büchern und enthalten neben theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Traumarten und zur Auslegungsmethodik auch einen großen Katalog mit Traumsymbolen und deren Deutung samt Begründung, außerdem eine Zusammenstellung von 95 Beispielen, bei denen sich Artemidors Deutung erfüllt haben soll. Die ersten drei Bücher sind einem Cassius Maximus gewidmet, hinter dem man den Rhetor und Philosophen Maximos von Tyros vermutet (Pérez-Jean 2012, 64-66). Für die Abfassung kann man von einem längeren redaktionellen Prozess in drei Phasen ausgehen: Zunächst wurden die Bücher I und II verfasst, dann kam III als Nachtrag dazu, anschließend IV und V als Ergänzung und Handreichung, die Artemidors gleichnamigem Sohn gewidmet waren. Während in I und II die Traumsymbole, angefangen bei der Geburt des Menschen, nicht alphabetisch oder mit den Göttern beginnend, sondern thematisch systematisiert abgehandelt werden, erfolgen die Nachträge und Ergänzungen in loser Abfolge. Dies erschwert den Gebrauch des Werkes nicht unerheblich; aber offenkundig hat Artemidor diese Bücher als notwendig erachtet, nicht zuletzt, um auf Kritik reagieren zu können. Wie man sich die Verbreitung der ersten Bücher vorzustellen hat – Lesungen durch den Autor selbst, Versendung von Manuskripten an einen ausgewählten Leserkreis, oder doch nur ein rhetorisches Stilmittel des Autors? – lässt sich kaum entscheiden (Weber 2020). | ||
==Traumtheorie== | ==Traumtheorie== | ||
Artemidor legt an mehreren Stellen seiner ''Oneirokritika,'' nicht nur in den Proömien der Bücher I und IV, Überlegungen zur Traumtheorie vor. Dabei grenzt er sich von Vorgängern (zu ihnen Vinagre Lobo 2011) und Zeitgenossen ab und macht sein Vorgehen transparent. Seiner Ansicht nach sind für die Deutung allein die symbolisch verschlüsselten ''oneiroi'' zu gebrauchen, und ihnen auch nur die allegorisch-verschlüsselten: Ihnen allein wird ein prognostischer Wert zugebilligt | Artemidor legt an mehreren Stellen seiner ''Oneirokritika,'' nicht nur in den Proömien der Bücher I und IV, Überlegungen zur Traumtheorie vor. Dabei grenzt er sich von Vorgängern (zu ihnen: Vinagre Lobo 2011) und Zeitgenossen ab und macht sein Vorgehen transparent. Seiner Ansicht nach sind für die Deutung allein die symbolisch verschlüsselten ''oneiroi'' zu gebrauchen, und bei ihnen auch nur die allegorisch-verschlüsselten: Ihnen allein wird ein prognostischer Wert zugebilligt. und Artemidors Ziel bestand ja darin, die Bedeutung eines Traums für das zukünftige Leben des Träumenden zu ergründen. Die theorematischen ''oneiroi'' hingegen bedürfen, weil sie unverschlüsselt sind und sich „Traumbild und Realität völlig entsprechen“ (Artem. 1,2) nicht der Deutung; den ''enhypnia,'' die sich als ‚Tagesreste‘ definieren lassen, käme keine Signifikanz zu, weshalb sie auch nicht gedeutet werden dürfen. Damit stellt sich Artemidor explizit gegen die Deutbarkeit von Träumen, die sich von der menschlichen Seele angeregten physiologischen Vorgängen verdanken und die zu diagnostischen Zwecken in der antiken Medizin verwendet wurden (Walde 2013). Außerdem schloss Artemidor ''chrematismoi,'' gemeint sind direkte Mitteilungen der Götter, ''horamata'' als Abbilder zukünftigen Geschehens und ''phantasmata,'' Illusionen oder Trugbilder, kategorisch von der Deutung aus. | ||
Woher die Träume kommen, die Artemidor für deutungswürdig hält, bleibt merkwürdig opak: Zwar wird auf die mit Homer beginnende literarische Tradition verwiesen, dass Zeus der Urheber sei, aber Artemidor hält sich bedeckt und vermeidet eine klare Stellungnahme (Artem. 1,6). Er entwickelt vielmehr eine Fülle an Kategorisierungen, die bei der Deutung zu berücksichtigen sind und zitiert Experten, denen zufolge alles „glückverheißend“ zu deuten ist, „was im Einklang mit Natur, Gesetz, Sitte, Kunst, Namen und Zeit geträumt wird“ (1,3); daraus ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, die individuelle Situation des Träumenden und die kollektiven Gewohnheiten von dessen Umfeld in den Blick zu nehmen (1,8). | Woher die Träume kommen, die Artemidor für deutungswürdig hält, bleibt merkwürdig opak: Zwar wird auf die mit Homer beginnende literarische Tradition verwiesen, dass Zeus der Urheber sei, aber Artemidor hält sich bedeckt und vermeidet eine klare Stellungnahme (Artem. 1,6). Er entwickelt vielmehr eine Fülle an Kategorisierungen, die bei der Deutung zu berücksichtigen sind und zitiert Experten, denen zufolge alles „glückverheißend“ zu deuten ist, „was im Einklang mit Natur, Gesetz, Sitte, Kunst, Namen und Zeit geträumt wird“ (1,3); daraus ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, die individuelle Situation des Träumenden und die kollektiven Gewohnheiten von dessen Umfeld in den Blick zu nehmen (1,8). | ||
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* Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Hg. und übers. von Karl Brackertz. Zürich, München: dtv 1979. | * Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Hg. und übers. von Karl Brackertz. Zürich, München: dtv 1979. | ||
* Artemidor, Traumkunst. Hg. und übers. von Friedrich S. Krauss, neubearb. u. mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von Gerhard Löwe. Leipzig: Reclam 1991. | * Artemidor, Traumkunst. Hg. und übers. von Friedrich S. Krauss, neubearb. u. mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von Gerhard Löwe. Leipzig: Reclam 1991. | ||
* Artemidorus, The Interpretation of Dreams. Hg. und übers. von Martin Hammond und Peter Thonemann:Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck). | * Artemidorus, The Interpretation of Dreams. Hg. und übers. von Martin Hammond und Peter Thonemann:Oxford: Oxford UP 2019 (im Druck). | ||
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