"Reisende auf einem Bein" (Herta Müller): Unterschied zwischen den Versionen

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====Analyse und Interpretation====
====Analyse und Interpretation====
In der Szene des Kofferpackens greift die bevorstehende Abreise aus dem ‚anderen Land‘ als Tagesrest in das nächtliche Traumgeschehen ein. Der Satz „Dort ist es kälter“ (ebd.) zeugt nicht nur von Irenes Angst vor ihrer Ausreise, sondern weist darauf hin, dass mit dem Verlassen des 'anderen Landes' das totalitäre Macht- und Kontrollgefüge für Irene nicht endet und auch über ihre Emotionen am Ankunftsort dominieren wird. In ihrem Essay Wie ''Wahrnehmung sich erfindet ''reflektiert die Autorin über die Funktionsweise der Wahrnehmung: „Die Wahrnehmung, die sich erfindet [...] steht nicht still. Sie überschreitet ihre Grenzen da, wo sie sich festhält. Sie ist unbeabsichtigt, sie meint nichts Bestimmtes. Sie wird vom Zufall geschaukelt“ (Müller 1991, 19). Diese grenzüberschreitende und vom Zufall geschaukelte Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Herta Müllers Schreiben charakterisiert, korrespondiert mit dem psychischen Phänomen des Traumas. In der Forschungsliteratur hat sich ausgehend von diesem Verständnis der erfundenen Wahrnehmung für Herta Müllers ästhetisches Verfahren der Begriff ''Poetik der Entgrenzung'' eingebürgert (Lægreid 2013, 55-79; Schau 1997, 63-77). In ihren Texten lösen sich die Grenzen zwischen den Subjekten und Objekten, den Sprachen, der Vergangenheit und der Gegenwart, der geträumten Realität und der Realität des Traumes auf. Diese Entgrenzung entspricht dem Zustand eines traumatisierten Menschen. Charakteristisch für das Trauma sind eine „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ (Fischer 2000, 11f.), die mit einer örtlichen und zeitlichen Diskontinuität (Varvin 2000, 893), der Umkehrung von Subjekt- und Objektrelationen sowie dem Verlust von Ich-Grenzen einhergehen (Lægreid 2013, 79). Der entgrenzende Charakter des Traumes zeigt sich im Vergleich der Kleidungsstücke mit den Laubblättern. In Irenes Wahrnehmung verschwimmen die Kleider, die ihr aus den Händen auf den Boden ‚gleiten‘, zu Laubblättern. Ihr Zimmer büßt seine Grenzen ein und weitet sich aus, entgrenzt sich in der Anwesenheit des Diktators, der durch ihr Zimmer geht, „als hätte er eine weite, offene Straße vor sich“ (RB 19). Für den Diktator scheinen die Grenzen des Raumes aufgehoben zu sein. Dieser totalitären Machtkontrolle kann Irene selbst in ihrem Traum nicht entkommen. Die Reinszenierung, das zwanghafte Wiederholen des traumatischen Ereignisses in Träumen gehört zur Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Brenner vergleicht diesen Mechanismus mit einer „zerkratzen Schallplatte, deren Nadel hängen geblieben ist“ (zit. nach Laub 2000, 868). Der traumatisierte Mensch spielt in seinen Träumen die Abläufe aus dem Trauma ab, wenn auch die das Trauma auslösenden Ereignisse selbst bruchstückhaft erscheinen und sich dem Träumenden in einer verdichteten und verschobenen Form zeigen (ebd.). Irene reinszeniert in ihrem Traum das Trauma, das in den destruktiven Machtmechanismen eines totalitären Regimes wurzelt. Irene wird mit der absoluten Übermacht des Diktators konfrontiert, die sich auf ihren intimsten Raum erstreckt und Irene in ihren körperlichen Grenzen bedroht. Die Kleidung dient dem Menschen als Ausdruck seiner Subjektivität und bedeckt ihn als Schutzhülle. Der Vergleich mit den über dem Boden liegenden Laubblättern suggeriert Irenes Nacktheit vor dem Diktator. Auch wenn der Text nicht explizit von dieser Nacktheit spricht, referiert der Motiv der Laubblätter auf die im Herbst entblätterten kahlen Bäume. In einem ihrer Essays verweist Herta Müller auf die im Rumänischen noch stärker als im Deutschen existierende Ambiguität des Wortes Blatt, das sowohl das Laub der Bäume als auch die Papierblätter bezeichnen kann. Der Vergleich mit den Laubblättern ließe sich mit den Papierblättern und so mit dem Schreibprozess assoziieren. Das Motiv des Zertretens der Kleider „als wären es Laubblätter“ (RB 19) impliziert also auch die Vernichtung von Irenes Identität als Künstlerin.
In der Szene des Kofferpackens geht die bevorstehende Abreise aus dem ‚anderen Land‘ als Tagesrest in das nächtliche Traumgeschehen ein. Der Satz „Dort ist es kälter“ (ebd.) zeugt nicht nur von Irenes Angst vor ihrer Ausreise, sondern weist auch darauf hin, dass mit dem Verlassen des 'anderen Landes' das totalitäre Macht- und Kontrollgefüge für Irene nicht endet und auch über ihre Emotionen am Ankunftsort dominieren wird. In ihrem Essay Wie ''Wahrnehmung sich erfindet ''reflektiert die Autorin über die Funktionsweise der Wahrnehmung: „Die Wahrnehmung, die sich erfindet [...] steht nicht still. Sie überschreitet ihre Grenzen da, wo sie sich festhält. Sie ist unbeabsichtigt, sie meint nichts Bestimmtes. Sie wird vom Zufall geschaukelt“ (Müller 1991, 19). Diese grenzüberschreitende und vom Zufall geschaukelte Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Herta Müllers Schreiben charakterisiert, korrespondiert mit dem psychischen Phänomen des Traumas. In der Forschungsliteratur hat sich ausgehend von diesem Verständnis der erfundenen Wahrnehmung für Herta Müllers ästhetisches Verfahren der Begriff ''Poetik der Entgrenzung'' eingebürgert (Lægreid 2013, 55-79; Schau 1997, 63-77). In ihren Texten lösen sich die Grenzen zwischen den Subjekten und Objekten, den Sprachen, der Vergangenheit und der Gegenwart, der geträumten Realität und der Realität des Traumes auf. Diese Entgrenzung entspricht dem Zustand eines traumatisierten Menschen. Charakteristisch für das Trauma sind eine „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ (Fischer 2000, 11f.), die mit einer örtlichen und zeitlichen Diskontinuität (Varvin 2000, 893), der Umkehrung von Subjekt- und Objektrelationen sowie dem Verlust von Ich-Grenzen einhergehen (Lægreid 2013, 79). Der entgrenzende Charakter des Traumes zeigt sich im Vergleich der Kleidungsstücke mit den Laubblättern. In Irenes Wahrnehmung verschwimmen die Kleider, die ihr aus den Händen auf den Boden ‚gleiten‘, zu Laubblättern. Ihr Zimmer büßt seine Grenzen ein und weitet sich aus, entgrenzt sich in der Anwesenheit des Diktators, der durch ihr Zimmer geht, „als hätte er eine weite, offene Straße vor sich“ (RB 19). Für den Diktator scheinen die Grenzen des Raumes aufgehoben zu sein. Dieser totalitären Machtkontrolle kann Irene selbst in ihrem Traum nicht entkommen. Die Reinszenierung, das zwanghafte Wiederholen des traumatischen Ereignisses in Träumen gehört zur Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Brenner vergleicht diesen Mechanismus mit einer „zerkratzen Schallplatte, deren Nadel hängen geblieben ist“ (zit. nach Laub 2000, 868). Der traumatisierte Mensch spielt in seinen Träumen die Abläufe aus dem Trauma ab, wenn auch die das Trauma auslösenden Ereignisse selbst bruchstückhaft erscheinen und sich dem Träumenden in einer verdichteten und verschobenen Form zeigen (ebd.). Irene reinszeniert in ihrem Traum das Trauma, das in den destruktiven Machtmechanismen eines totalitären Regimes wurzelt. Sie wird mit der absoluten Übermacht des Diktators konfrontiert, die sich auf ihren intimsten Raum erstreckt und sie in ihren körperlichen Grenzen bedroht. Die Kleidung dient dem Menschen als Ausdruck seiner Subjektivität und bedeckt ihn als Schutzhülle. Der Vergleich mit den über dem Boden liegenden Laubblättern suggeriert Irenes Nacktheit vor dem Diktator. Auch wenn der Text nicht explizit von dieser Nacktheit spricht, referiert das Motiv der Laubblätter auf die im Herbst entblätterten kahlen Bäume. In einem ihrer Essays verweist Herta Müller auf die im Rumänischen noch stärker als im Deutschen existierende Ambiguität des Wortes Blatt, das sowohl das Laub der Bäume als auch die Papierblätter bezeichnen kann. Der Vergleich mit den Laubblättern ließe sich so mit den Papierblättern und damit mit dem Schreibprozess verbinden. Das Motiv des Zertretens der Kleider „als wären es Laubblätter“ (RB 19) impliziert also auch die Vernichtung von Irenes Identität als Künstlerin.


===Irenes Traum vom Sachbearbeiter===
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