"Reisende auf einem Bein" (Herta Müller): Unterschied zwischen den Versionen

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====Analyse und Interpretation====
====Analyse und Interpretation====
Die erste Traumsequenz erweist sich erst im letzten Satz als Traum: „Irene erwachte verschwitzt, als wäre sie aus diesem Traum hinausgerannt“ (ebd., 103). Irene nimmt sich in der ohnmächtigen Position gegenüber dem Sachbearbeiter und seiner Sekretärin wahr. Verglichen mit dem Traum verläuft die Begegnung mit dem Sachbearbeiter im Irenes Wachleben wesentlich subtiler, auch wenn seine auf den ersten Blick geäußerte Empathie „Haben Sie Heimweh“ (ebd., 55) floskelhaft klingt und sich als ein latenter Vorwurf entpuppt: „Sie sind so empfindlich […] Man könnte meinen, daß unser Land alles aufwiegen soll, was ihr Land verbrochen hat“ (ebd.). Irene reinszeniert in den beiden Traumsequenzen die Erfahrungen von Observation und Verhören, die sich ihr in verschobener Form zeigen. Spielt in der ersten Traumsequenz noch Irenes Dialog mit dem Sachbearbeiter als Tagesrest hinein, nimmt das Traumgeschehen in der zweiten Traumsequenz eine gänzlich andere, von Irenes Wachleben distinkte Qualität an, wenn der Sachbearbeiter Irene observiert. Im ihrem Essay ''Der Fremde Blick'' reflektiert die Autorin über die Projektion von totalitären Erfahrungen auf anders strukturierte Situationen. Ihre Reflexionen korrelieren dabei mit den psychologischen Erklärungsmodellen des Traumas wie Triggermechanismus oder Reinszenierung. Die Autorin spricht von ‚der gewohnten Angst‘ (Müller 2010, 142) und ‚fremdem Blick‘: „Der fremde Blick bügelt fremde Gesichter und Gesten und konstatiert schnell, wie er es jahrelang geübt hat: Kaum geschaut ist die Deutung eingebaut. Er […] zieht falsche, oft drastische Schlüsse, die nicht korrigiert werden“ (ebd.). Dieser fremde Blick bestimmt auch Irenes Trauminhalte. Irenes Unterbewusstsein projiziert die Bedingungen der totalen Überwachung des ‚anderen Landes‘ auf ihre Begegnung mit dem Sachbearbeiter, wobei die Verhörsituation und die amtliche Stellung den einzigen genuinen Rahmen für beide Erfahrungshorizonte bilden. Herta Müller betont den Inszenierungscharakter der Verhöre (Müller 2013, 42). Um die totale Macht und Kontrolle über die Verhörsituation zu gewährleisten, versucht der Verhörende den Zufall auszublenden, während dem Verhörten eine fremdbestimmte Rolle zugewiesen wird, die ihn einer vom Befrager für ihn vorgegebenen schaurigen Regie gänzlich unterwirft. Die Fragen, mit denen der Befragte konfrontiert wird, die Marter und Drohgesten werden bis ins Detail kalkuliert und geplant. Die Vorhersehbarkeit, die aus der Vermeidung alles Zufälligen und Unberechenbaren entsteht, räumt dem Verhörenden eine absolute Kontrollposition über den Verlauf des Verhörs ein. Bei dem Verhörten schlägt sie dagegen in eine von den Intentionen des Verhörenden gänzlich abhängige und ohnmächtige Stellung um. Dieser Verlust von Kontrolle geht bis in die Körpergrenzen hinein und bedingt eine traumatische, entgrenzte oder mit Worten Herta Müllers 'vom Zufall geschaukelte Wahrnehmung‘ (Müller 1991, 19) auf Seiten des Verhörten. Gerade weil seine Wahrnehmung gänzlich vom Willen des Verhörenden abhängt, entgleitet sie ihm. Auch die Gesten und Worte des Sachbearbeiters sowie seiner Sekretärin, die als seine Komplizin auftritt, selbst die Anordnung der Gegenstände auf dem Tisch, erscheinen im Traum kalkuliert und demonstrieren eine Machtposition: „Der Sachbearbeiter trank im Stehen“ (RB 103); „Erst als er wieder saß, stellte er die Kaffeetasse auf den Schreibtisch (ebd.). Der Satz „Sie [die Sekretärin] behielt die Türklinke in der Hand“ (ebd., 102) verweist auf seinen semantischen Kern ‚die Verfügungsgewalt über etwas besitzen‘. Das Motiv des Tretens taucht auch hier auf, als der Sachbearbeiter über Irenes Schuhe tritt: „Er [der Sachbearbeiter] machte einen Schritt über Irenes Schuhe. Irene schob die Schuhe unter den Stuhl“ (ebd., 103). Der Text spricht von Schuhen und nicht von Füßen, die Gegenstände ersetzen die Körperteile. Eine derartige Vergegenständlichung des Subjekts ist ebenfalls charakteristisch für das Trauma (Lægreid 2013, 79). Die Observation durch den Sachbearbeiter hat bei Irene den Verlust der rumänischen Sprache zur Folge. Auch Thomas‘ Satz aus Irenes Wachleben bezieht sich auf das Rumänische, das er ihr gegenüber insofern abwertet als er Irene die Vergleichbarkeit des Deutschen mit dem Rumänischen abspricht und es damit begründet, Rumänisch sei nicht ihre Muttersprache (RB 104). Irenes doppelte Identität und ihre Zweisprachigkeit erweisen sich für sie als eine doppelte Erfahrung von Fremdheit und bergen in sich eine potentielle Gefährdung durch die Verwendung einer falschen Sprache, ihre Fremdheit zu offenbaren. Selbst in ihrem Traum formiert sich in Irene ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und -kontrolle, der in der Angst vor der totalen Überwachung seinen Urgrund hat.
Die erste Traumsequenz erweist sich, wie bereits erwähnt, erst im letzten Satz als Traum: „Irene erwachte verschwitzt, als wäre sie aus diesem Traum hinausgerannt“ (RB 103). Irene nimmt sich in der ohnmächtigen Position gegenüber dem Sachbearbeiter und seiner Sekretärin wahr. Verglichen mit dem Traum verläuft die Begegnung mit dem Sachbearbeiter im Irenes Wachleben wesentlich subtiler, auch wenn seine auf den ersten Blick geäußerte Empathie „Haben Sie Heimweh“ (RB 55) floskelhaft klingt und sich als ein latenter Vorwurf entpuppt: „Sie sind so empfindlich […] Man könnte meinen, daß unser Land alles aufwiegen soll, was ihr Land verbrochen hat“ (ebd.). Irene reinszeniert in den beiden Traumsequenzen die Erfahrungen von Observation und Verhören, die sich ihr in verschobener Form zeigen. Spielt in der ersten Traumsequenz noch Irenes Dialog mit dem Sachbearbeiter als Tagesrest hinein, nimmt das Traumgeschehen in der zweiten Traumsequenz eine gänzlich andere, von Irenes Wachleben distinkte Qualität an, wenn der Sachbearbeiter Irene observiert. Im ihrem Essay ''Der Fremde Blick'' reflektiert die Autorin über die Projektion von totalitären Erfahrungen auf anders strukturierte Situationen. Ihre Reflexionen korrelieren dabei mit den psychologischen Erklärungsmodellen des Traumas wie Triggermechanismus oder Reinszenierung. Die Autorin spricht von ‚der gewohnten Angst‘ (Müller 2010, 142) und ‚fremdem Blick‘: „Der fremde Blick bügelt fremde Gesichter und Gesten und konstatiert schnell, wie er es jahrelang geübt hat: Kaum geschaut ist die Deutung eingebaut. Er […] zieht falsche, oft drastische Schlüsse, die nicht korrigiert werden“ (ebd.). Dieser fremde Blick bestimmt auch Irenes Trauminhalte. Irenes Unterbewusstsein projiziert die Bedingungen der totalen Überwachung des ‚anderen Landes‘ auf ihre Begegnung mit dem Sachbearbeiter, wobei die Verhörsituation und die amtliche Stellung den einzigen genuinen Rahmen für beide Erfahrungshorizonte bilden. Herta Müller betont den Inszenierungscharakter der Verhöre (Müller 2013, 42). Um die totale Macht und Kontrolle über die Verhörsituation zu gewährleisten, versucht der Verhörende den Zufall auszublenden, während dem Verhörten eine fremdbestimmte Rolle zugewiesen wird, die ihn einer vom Befrager für ihn vorgegebenen schaurigen Regie gänzlich unterwirft. Die Fragen, mit denen der Befragte konfrontiert wird, die Marter und Drohgesten werden bis ins Detail kalkuliert und geplant. Die Vorhersehbarkeit, die aus der Vermeidung alles Zufälligen und Unberechenbaren entsteht, räumt dem Verhörenden eine absolute Kontrollposition über den Verlauf des Verhörs ein. Bei dem Verhörten schlägt sie dagegen in eine von den Intentionen des Verhörenden gänzlich abhängige und ohnmächtige Stellung um. Dieser Verlust von Kontrolle geht bis in die Körpergrenzen hinein und bedingt eine traumatische, entgrenzte oder mit Worten Herta Müllers 'vom Zufall geschaukelte Wahrnehmung‘ (Müller 1991, 19) auf Seiten des Verhörten. Gerade weil seine Wahrnehmung gänzlich vom Willen des Verhörenden abhängt, entgleitet sie ihm. Auch die Gesten und Worte des Sachbearbeiters sowie seiner Sekretärin, die als seine Komplizin auftritt, selbst die Anordnung der Gegenstände auf dem Tisch, erscheinen im Traum kalkuliert und demonstrieren eine Machtposition: „Der Sachbearbeiter trank im Stehen“ (RB 103); „Erst als er wieder saß, stellte er die Kaffeetasse auf den Schreibtisch (ebd.). Der Satz „Sie [die Sekretärin] behielt die Türklinke in der Hand“ (ebd., 102) verweist auf seinen semantischen Kern ‚die Verfügungsgewalt über etwas besitzen‘. Das Motiv des Tretens taucht auch hier auf, als der Sachbearbeiter über Irenes Schuhe tritt: „Er [der Sachbearbeiter] machte einen Schritt über Irenes Schuhe. Irene schob die Schuhe unter den Stuhl“ (ebd., 103). Der Text spricht von Schuhen und nicht von Füßen, die Gegenstände ersetzen die Körperteile. Eine derartige Vergegenständlichung des Subjekts ist ebenfalls charakteristisch für das Trauma (Lægreid 2013, 79).  


Die Observation durch den Sachbearbeiter hat bei Irene den Verlust der rumänischen Sprache zur Folge. Auch Thomas‘ Satz aus Irenes Wachleben bezieht sich auf das Rumänische, das er ihr gegenüber insofern abwertet als er Irene die Vergleichbarkeit des Deutschen mit dem Rumänischen abspricht und es damit begründet, Rumänisch sei nicht ihre Muttersprache (RB 104). Irenes doppelte Identität und ihre Zweisprachigkeit erweisen sich für sie als eine doppelte Erfahrung von Fremdheit und bergen in sich eine potentielle Gefährdung durch die Verwendung einer falschen Sprache, ihre Fremdheit zu offenbaren. Selbst in ihrem Traum formiert sich in Irene ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und -kontrolle, der in der Angst vor der totalen Überwachung seinen Urgrund hat.


===Thomas' Lakritztraum===
===Thomas' Lakritztraum===

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